»Schlaft aus, Verdammte dieser Erde
die stets man noch zum Aufstehn zwingt«
Hartnäckig hält sich der Glaube, der Mensch sei von Natur aus dazu gemacht, beim ersten Hahnenschrei aus dem Bett zu springen und in die Kissen zu sinken, sobald die Erdrotation das Licht runterdimmt. Man kennt das ja: Sobald die Leute frei über ihre Zeit verfügen können, sagen wir, an einem typischen Sonntagmorgen, strömen sie im Morgengrauen aus den Häusern, um den Sonnenaufgang … - halt, stopp: Üblicherweise sieht man um diese Zeit dann doch eher die letzten Nachtschwärmer bettwärts schwanken beziehungsweise ist selbst einer davon.
Nicht nur diese empirische Erfahrung legt nahe, dass die Im-Frühtau-zu-Berge-Enthusiasten nicht das menschliche Standardmodell darstellen, die Wissenschaft unterfüttert dies auch mit Daten. So ist der Schlafforschung schon länger bekannt, dass es den typischen menschlichen Biorhythmus nicht gibt; vielmehr existiert ein Spektrum von sogenannten Chronotypen, das so weit gefächert ist, dass die ersten Frühaufsteher schon ein paar Stunden munter sind, wenn sich extreme Nachtmenschen gerade erst ins REM-Hirnkino begeben. Laut einer vom Münchner Schlafforscher Till Roenneberg geleiteten Studie, für die bisher rund 50.000 Menschen nach ihren werk- und feiertäglichen Schlafgewohnheiten befragt wurden, verteilen sich die verschiedenen Chronotypen auf eine sogenannte Gaußsche Glockenkurve (siehe Grafik): Besonders viele Leute fallen also irgendwo ins Mittelfeld, während ausgeprägte Morgen- beziehungsweise Abendtypen um so seltener sind, je stärker ihr Tagesablauf vom Mittel abweicht.
Aus der Statistik ergibt sich zum einen, dass die Durchschnittsschläfer, die gegen Mitternacht ins Land der Träume entschwinden und so zwischen acht und neun Uhr wieder aufstehen, zwar am häufigsten vorkommen, aber bei weitem nicht die Mehrheit stellen, wenn man ihnen die Gesamtheit der (leider auch von seriösen Schlafforschern) als »Lerchen« und »Eulen« Bezeichneten gegenüberstellt. Zum anderen zeigt sich, dass selbst der klassische »9 to 5«-Büroarbeitstag für mehr als die Hälfte aller Menschen eigentlich viel zu früh beginnt – von den etwa im Handwerk oder bei der Müllabfuhr üblichen Arbeitszeiten ganz zu schweigen.
Die Glücklichen, deren innere Uhr mit dem Normtag synchron läuft, haben für die vor ihrer Zeit aus dem Bett Gerissenen gerne den Rat auf Lager: »Dann geh doch einfach früher schlafen.« Dass die Schlaumeier als Antwort darauf nicht regelmäßig den Kaffee ihrer unausgeschlafenen Mitmenschen ins Gesicht geschüttet bekommen, dürfte einzig und allein daran liegen, dass Letztere das dringend benötigte Koffein nicht verschwenden wollen. Denn Nachtmenschen wissen zumeist aus langer Erfahrung, was auch die Chronobiologie inzwischen untermauert: Wer verlangt, jemand möge sich gefälligst »mit ein bisschen Selbstdisziplin« angepasstere Schlafgewohnheiten zulegen, könnte genausogut behaupten, eine Bodenturnerin müsse nur das richtige Training absolvieren, um eine neue Karriere im Kugelstoßen zu starten.
Zwar lassen sich die Schlaf-Wachphasen durch äußere Taktgeber wie Licht und feste Gewohnheiten beeinflussen, allerdings nur in einem engen Spielraum von wenigen Stunden nach vorne oder hinten. Der Grundrhythmus hingegen wird von zellulären und hirnphysiologischen Mechanismen vorgegeben, für die inzwischen auch genetische Grundlagen gefunden wurden. So verzögert eine Genvariante, die kürzlich von einer Forschungsgruppe an der Rockefeller University in New York bei einer spätschlafenden Probandin identifiziert wurde, die Aktivierung eines weiteren Gens, das für die innere Taktung zuständig ist; übereinstimmende Funde bei weiteren »Nachteulen«, die das Team in Gendatenbanken ausfindig machte, untermauern die Beobachtung - die innere Uhr geht bei Trägern dieses Gens also permanent nach. Und sogar bis zu 15 Gene sollen bei ausgeprägten Morgenmenschen dafür verantwortlich sein, dass diese ihren Zeitgenossen mit ihrer Munterkeit zu unchristlicher Uhrzeit auf die Nerven fallen.
Aktiv verstellen lässt sich die angeborene Zeitschaltuhr also kaum; dafür tut sie dies im Laufe eines Lebens üblicherweise von selbst. Zum einen sinkt mit steigendem Alter generell das Schlafbedürfnis (Stichwort »präsenile Bettflucht«), zum anderen verschieben sich auch die Schlaf- beziehungsweise Wachphasen: Während Kinder, wie Eltern nur allzu gut wissen, eher morgenaktiv sind, verlagert sich der Rhythmus zur Pubertät hin deutlich nach hinten. Dass Jugendliche und junge Erwachsene gerne mal die Nacht durchmachen, liegt also nicht allein daran, dass sie ihre wachsende Unabhängigkeit auskosten, sondern zu großen Teilen an ihrer inneren Uhr. Erst mit weiter zunehmendem Alter verschiebt sich der Rhythmus dann wieder in Richtung Früh(er)aufstehen.1
Die Chronobiologie von Jugendlichen kollidiert somit besonders hart mit dem Tagesablauf, den andere für sie vorsehen. Lehrer mühen sich allmorgendlich vor überwiegend allein körperlich anwesenden Klassen ab, den Unterrichtsstoff in Hirne zu transferieren, die sich noch im Tiefschlafmodus befinden, und Schlafforscher fordern seit Jahren, die erste Stunde zumindest für die Altersgruppe 13 bis 18 nach hinten zu verlegen. Entsprechende Versuche in den USA haben gezeigt, dass die Schüler nicht nur aufmerksamer sind, auch Fehlzeiten und Unruhe in der Klasse gehen zurück, wenn man die Kids auch nur eine Stunde länger ausschlafen lässt.
In Deutschland scheitern derartige Vorstöße zumeist am Widerstand von Eltern, die schließlich selbst noch zum Arbeitsplatz hetzen müssen, sowie schlicht am altbekannten Prinzip des Hamwaschonimmersogemacht, gerne zusammen mit einer ordentlichen Prise Gelobtseiwashartmacht. So etwa in der Argumentation von Josef Kraus, Vorsitzender des konservativen Deutschen Lehrerverbandes: »Schule soll einstimmen auf spätere Lebens- und Berufsrealitäten, und die beginnen bei den allermeisten Menschen nicht erst um 9 Uhr. Das gilt nach wie vor.«
Der Gedanke, dass auch für die Mehrheit der Lohnabhängigen der Tag viel zu früh beginnt und sich daran doch vielleicht etwas ändern ließe, passt nicht in eine Gesellschaft, in der das Aufstehen im Morgengrauen als Ausweis der Leistungsbereitschaft gilt, während die Nachtaktiven2 nicht nur unter chronischem Schlafmangel, sondern zu allem Elend auch noch dem Verdacht der Faulheit zu leiden haben.3 Für diesen Zustand gibt es einen Fachbegriff (den ich, wie in aller Bescheidenheit angemerkt sei, selbst geprägt habe): Er nennt sich Frühaufsteherdiktatur.
An der sich übrigens einmal mehr die Legende von der unsichtbaren Hand des freien Marktes widerlegt, die schon alles zum Besten regele. Schließlich kann einer Gesellschaft, die auf eine maximale Ausbeute an menschlicher Arbeitskraft abzielt, eigentlich nicht daran gelegen sein, dass ein Großteil der Beschäftigten durch den Tag schlurft wie eine Zombiearmee, Montagswagen produziert oder gar vor Übermüdung noch schwerwiegendere (und teure!) Fehler begeht. Auch die Folgekosten sind nicht zu unterschätzen, denn ein chronisches Schlafdefizit – und erst recht jene Ausgeburt der chronobiologischen Hölle namens Schichtarbeit – gilt als Risikofaktor für zahlreiche Erkrankungen von Migräne über Herz-Kreislaufleiden bis hin zu Krebs.
Naiv könnte man also erwarten, dass die Flexibilisierung der Arbeitswelt dazu führt, dass es für alle Chronotypen Jobs gibt, in denen diese (oder korrekter: die jeweiligen Arbeitgeber, soviel marxistische Pingeligkeit muss sein) ihr volles Potential ausschöpfen können. Stattdessen erfolgt die Entgrenzung der Arbeitszeit ohne Rücksicht auf Verluste, will heißen, die innere Uhr der Lohnabhängigen.
Offenbar verhält es sich mit der Frühaufsteherdiktatur ähnlich wie mit dem Sexismus, der ja aus kapitalistischer Sicht ebenso widersinnig ist, wenn er etwa potentielle weibliche Talente aus Männerdomänen wie der IT-Wirtschaft oder oder den Ingenieurswissenschaften fernhält: In beiden Fällen stecken die Betroffenen im Schraubstock aus eingefahrenen Gesellschaftsmustern einerseits und Marktliberalismus andererseits. Frauen dürfen inzwischen nicht nur ohne Erlaubnis ihres Ehemanns arbeiten, sondern müssen es dank ökonomischen Zwängen oft auch, finden aber überwiegend schlechtbezahlte Stellen in stereotypen Berufsfeldern; und die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft bedeutet in erster Linie eine entgrenzte zeitliche Verfügungsgewalt über die Lohnabhängigen, die standardmäßig aber weiterhin spätestens um neun Uhr auf der Arbeit erwartet werden. Nachtmenschentaugliche Jobs hingegen finden sich überwiegend in der Gastronomie und anderen Bereichen des Dienstleistungs-, also anders gesagt, Niedriglohnsektors. Man sollte also für die Überwindung der Frühaufsteherdiktatur nicht auf die Selbsterhaltungskräfte des Kapitalismus hoffen, der hat schließlich schon ganz andere inhärente Dysfunktionalitäten überstanden; und sein Motto lautet bekanntlich auch nicht: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen (Schlaf-)bedürfnissen.«
Es kann allerdings auch nicht schaden, auf letzteren vehement zu insistieren; schon der Kampf um den Achtstundentag war ja nicht ganz zufällig ein konstituierendes Moment der Arbeiterbewegung. Und immerhin hat sich die Erkenntnis, dass Menschen im Bett höchst unterschiedliche Vorlieben pflegen, in den letzten Jahrzehnten ja zumindest in sexuellen Belangen einigermaßen durchgesetzt. Es besteht also Hoffnung, dass dies auch in Hinsicht auf die chronotypische Vielfalt möglich ist.