Vor dem Gemeindeamt in Alpbach hatten Herr Groll und der Dozent an einer Bank aus Zirbenholz Platz genommen. Schnitzereien zeigten Almblumen und röhrende Hirsche. Die Sonne stand über dem Gratlspitz, die Luft war frisch und würzig. Der Dozent trug einen wärmenden Parka, Herr Groll hatte sich in seiner alten Lederjacke verkrochen. Der Dozent fischte eine Flasche aus seinem Stadtrucksack.
»Tiroler Zirbengeist. Biologisch, dynamisch, peristaltisch!«
Er trinke nur Produkte, die sowohl einen günstigen ökologischen Fußabdruck als auch ein fair trade–Zertifikat aufwiesen, erwiderte Groll.
»Warum so schnöde und abweisend? Man könnte gar meinen, Sie fühlten sich in den wunderschönen Tiroler Bergen nicht wohl?«
»Es wird Sie vielleicht wundern, aber die Donau steht mir geistig wesentlich näher als die monumentalen Steinhaufen in diesem schroffen Tal. Sie stehlen die Sonne und verdunkeln das Gemüt.«
»Daß die Donau bei Ihnen Vorrang genießt, ist bekannt«, sagte der Dozent. »Wir sind ja auch nicht des Naturschönen wegen in Alpbach, sondern weil ich mit Ihnen einem historisches Ereignis als Augenzeugen beiwohnen will.«
»Historisch sind in diesen Breiten nur Felsstürze und Lawinenkatastrophen«, sagte Groll und zog den Reißverschluß seiner Lederjacke hoch.
»Sie verkennen die Größe des historischen Augenblicks. In teilgebildeten Bevölkerungsschichten ist dieses Manko häufig anzutreffen.«
»Wie gut, daß es Absolventen des Theresianums gibt, die uns mit ihrer elitären Bildung aushelfen.«
Vor dem Eingang zum Gemeindeamt hatte sich eine Menschentraube gebildet. Kamerateams, Reporter, Büromitarbeiter der Landeshauptleute und einige Adabeis belagerten die Eingangstür.
Der Dozent erhob sich und sprach, immer wieder zum Gemeindeamt schauend: »In wenigen Minuten werden sich Landeshauptleute und Bünde-Chefs der ÖVP aufstellen, die Gewehrsalven einer Schützenbrigade abnehmen und danach eine Botschaft verkünden, welche die Säulen der Zweiten Republik ins Wanken bringt.«
Herr Groll richtete sich auf. Der Dozent fuhr fort.
»Die Führungsriege der Volkspartei wird die Selbstauflösung der Partei verkünden. Die stolze Partei des österreichischen Bürger- und Bauerntums wird in wenigen Momenten der Geschichte angehören. Es ist dies nur zu vergleichen mit dem Untergang der Democrazia Cristiana, der jahrzehntelang dominierenden Partei Italiens oder der Partei der französischen Gaullisten. Für das Hinscheiden der österreichischen Heimatpartei sind aber nicht so sehr die Arroganz der bürgerlichen Klassen, ein Aufschwung der Arbeiterbewegung oder die Verfilzung mit der Mafia verantwortlich. Auch die sieben apokalyptischen Reiter sind nicht schuld, obwohl man nicht vergessen darf, daß das Burgenland erst im Dezember 1921 zu Österreich kam und Wien und Niederösterreich sich am 29. Dezember 1921 verfassungsrechtlich trennten, man also von nur sieben historisch verfestigten Bundesländern sprechen kann, welche die Republik gründeten. Nicht sie stoßen die bürgerliche Partei in den Orkus, das tut Sebastian Kurz mit seinem Sieben-Punkte-Programm!«
Die Menschentraube erweiterte den Kreis, aus dem Gemeindeamt traten die ÖVP-Landeshauptleute- und Landeschefs. Sie wurden flankiert von den Vorsitzenden der sechs Bünde.
Der Dozent setzte fort.
»Die Installierung des alerten Dreißigjährigen, der schon seit zwölf Jahren in der Politik ist und von den Volkspartei-Landesfürsten sowie diversen Magnaten aus der Schwarzblauen Koalition der 2000er Jahre unterstützt wird, ist von langer Hand vorbereitet worden. Der Einzige, der dies nicht mitbekommen hat oder die Augen vor dem Offensichtlichen verschloß, war Parteichef Mitterlehner.«
»Und ich dachte, er macht gute Miene zum bösen Spiel«, sagte Groll. »Im übrigen soll man, wenn die Rede auf die Schandtruppe der Haider-Jahre kommt, diese als das bezeichnen was sie war, eine halbbraune Gangsterkoalition. Gegen nahezu alle damals Beteiligten liefen und laufen juristische Erhebungen und Anklagen, viele sind bereits zu Haftstrafen verurteilt. Die Gerichte sind mit der Riege aus Privatisierungsgewinnlern, Steuerhinterziehern, Haftungs- und Korruptionskaisern noch lange nicht fertig. Die Anzahl der diesen Leuten zugeordneten Briefkastenfirmen auf Zypern, den Kanalinseln und anderen Steueroasen geht in die Hunderte. Nicht zu reden von den Spekulationsanlagen der Herrn Hochegger, Kulterer, Maischberger, Stepic, Meinl, Sorger und Konsorten. Daß Kärnten dabei den Vogel abschießt, füge ich nur der Vollständigkeit halber hinzu. Schließlich bitte ich nicht zu vergessen, daß die Kosten für den sinistren Karneval der Allgemeinheit aufgebürdet wurden.«
Eine Salve donnerte durchs Tal, der Hall vervielfachte den Lärm. Der Tiroler ÖVP-Landeshauptmann Platter hatte das Wort ergriffen, er verkündete die einhellige Zustimmung der Parteigranden zur Abschaffung der alten Volkspartei. Man werde die »Liste Sebastian Kurz – die neue ÖVP« mit allen Kräften unterstützen, streute er dem neuen Chef Rosen.
Zwei Wochen später.
Auf dem Weg zu einem Vortrag des Politikwissenschaftlers Ulrich Brand über »Imperiale Lebensweisen« kamen Herr Groll und der Dozent am Sitz des ÖVP-Hauptquartiers neben dem Wiener Rathaus vorbei. Der Dozent zeigte sich vom neuen Logo der ÖVP – dunkelgraue Schrift vor türkisblauem Hintergrund – angetan.
»Angeblich ist das Logo in türkiser Farbe gehalten, für mich ist es eher Blau, kein strahlendes, sondern eher ein helles, unsicheres Blau. Wie ein verblichener VW-Käfer aus den sechziger Jahren.«
»Jedenfalls ist der Zug zu Blau unübersehbar«, erwiderte Groll. »Mögen andere daraus ihre Schlussfolgerungen ziehen. Weit scheint es mit der neuen Bewegung nicht herzusein. Ihre Alpbacher Prognose der Selbstauflösung droht zu scheitern, verehrter Dozent. Das wäre in Österreich wirklich neu, daß eine Partei freiwillig und kollektiv zur Machtaufgabe schreitet. Die Selbstauflösung der ÖVP ist eine Scheinauflösung.«
»Von Sebastian Kurz lernen heißt siegen lernen«, erwiderte der Dozent. »Das Publikum jedenfalls folgt ihm. In den Meinungsumfragen lässt er Kanzler Kern und Möchtgernkanzler Strache alt aussehen.«
»Im Wartesaal der Macht altert man rasch«, bestätigte Groll. »Man sieht, wie der Hase läuft, aber es ist nicht der eigene. Man weiß, daß man das Regierungshandwerk beherrscht, kommt der Praxis aber nicht näher. Man wüsste so vieles besser, aber man kann nicht einmal das wenigste beisteuern. Die Grünen können davon ein Lied singen. Deren langjährige Vorsitzende wollte sich den Dreierwettkampf der drei ehrgeizigen Herren nicht mehr antun. Sie ist erfahren genug, um sich ausrechnen zu können, daß die Grünen in der gegebenen Konstellation keinen Blumentopf gewinnen werden. Sie müssen schon froh sein, wenn sie aus dem Parlament nicht hinausfliegen.«
»Politische Prognosen ruhen auf wackligen Beinen, geschätzter Groll«, merkte der Dozent an.
»Auch wacklige Beine erfüllen den Zweck. Das können Sie mir glauben, in dieser Sache bin ich expertisch«, versetzte Groll.
Der Dozent lächelte. »ich gebe gern zu, daß Sie mit Ihrem vierrädrigen Joseph stabiler sind als so manche Regierungskoalition.«
»Wenn ihnen die FPÖ angehören sollte, was von der Logik des Systems wohl erzwungen wird, mögen Sie – ich erinnere an Kärnten – recht haben. Worin Sie aber irren, ist die Einschätzung der Kurz‘schen Bewegung als Zäsur in der Geschichte der Republik. Ich erinnere mich, daß bereits zweimal, 1985 und 1989 eine ‚neue ÖVP‘ propagiert wurde. Wir beide wissen, was daraus wurde.«
Sie querten den Ring und stießen in den Volksgarten vor.
»Die Wochenendinserate, die für die Bewegung Sebastian Kurz warben, kamen ohne den Zusatz ÖVP aus«, sagte der Dozent.
»Aber die ÖVP hat sie bezahlt. Soviel zur Selbständigkeit der ‚Bewegung Kurz‘«, antwortete Groll. »Im Gegensatz zu Macron, der seine neoliberale Bewegung ohne Parteihilfe auf die Beine stellte, nutzt Sebastian Kurz die Strukturen der Partei und lässt sich von ihr die Inserate und den Wahlkampf bezahlen …«
»Dafür mußte er bei der Listenerstellung für die Nationalratswahlen einen Rückzieher machen«, stimmte der Dozent zu. »Auf die Erstellung der Landeslisten hat er keinen Einfluß, ihm obliegt einzig die Auswahl der Bundesliste. Das war aber bei seinen Vorgängern nicht anders. Ganz schön alt, diese neue ÖVP. Kurz war Chef eines Bundes, der jungen ÖVP, seine Generalsekretärin, kommt aus dem Kärntner Bauernbund und Kurz‘ wichtigste Mitarbeiter stammen aus der Jungen ÖVP Wien.«
»Kurz hat zwar nicht viel Zeit auf der Uni verbracht, aber viele Freunde des Sebastian Kurz haben eine Vergangenheit als Funktionäre der ÖVP-nahen studentischen ‚Aktionsgemeinschaft‘…«, ergänzte Groll.
»Das ist doch jener Verein, der an der Juridischen Fakultät eine Social-Media-Gruppe betreibt, in der sich über dreißig Lichtfiguren an primitivsten Frauenwitzen und behindertenfeindlichen Karikaturen delektieren und auch vor antisemitischen Machwerken nicht zurückschrecken. Einen Aschehaufen mit ‚Nacktfoto von Anne Frank‘ zu betiteln, dazu gehört schon ein großes Maß an christlich-bürgerlicher Herzensbildung. Man kann davon ausgehen, daß die überwiegende Mehrzahl dieser Knallköpfe aus gutsituierten bürgerlichen Familien kommt.«
»Vielleicht sollte man froh sein, daß sich auf diese zugegebenermaßen widerliche Art ein Einblick in die Gedanken- und Gemütswelt eines nicht unwichtigen Teils des jungen Bürgertums eröffnet. Als Soziologe bin ich davon überzeugt, daß so mancher dieser Antisemiten in den nächsten Jahren zu höheren Weihen in der ÖVP gelangt.«
»Schade, daß man die Namen und Familienverhältnisse dieser Herrschaften nicht kennt«, meinte Groll. »Da es sich ja nicht um durchgeknallte Vierzehnjährige, sondern um honorige Studenten handelt, wäre es angebracht, daß sich die Staatsanwaltschaft um diesen Fall kümmert. Oder wird Verhetzung und Wiederbetätigung nur bei freiheitlichen Funktionären geahndet?«
»Niemand ist zurückgetreten und wenn, dann nur von Formalpositionen« fügte der Dozent hinzu. »Ich verstehe auch nicht, warum der Rektor der Juridischen Fakultät, der sich wortreich ereiferte, die Leute nicht samt und sonders von der Uni relegierte. Diese Möglichkeit hätte er.«
»Würden wir die Namen der Täter und Täterinnen wissen, hätten wir eine Antwort«, erwiderte Groll. »Es werden wohl einige Sprösslinge aus den besten Kreisen dabei sein. Da ist man vorsichtig. Man will doch niemandem eine Karriere verbauen. Wer weiß, vielleicht braucht man die lustigen Herrschaften in einigen Jahren.«
»Immerhin kam von Sebastian Kurz eine klare Distanzierung«, setzte der Dozent fort.
»Distanzierungen liegen im Bauchladen der Selbstdarsteller ganz oben. Aber die Claims der Barbarei sind abgesteckt, die Codes gesetzt. Mit der jungen ÖVP ist das so eine Sache«, sagte Groll und schlug den Weg zur Meierei ein. »Als die Partei am 17.4. 1945 im Schottenstift zu Wien neu gegründet wurde, geschah dies von den Repräsentanten der wichtigsten Bünde – Wirtschaft, Bauern, Beamte. Und der erste Vorsitzende Leopold Kunschak war in jungen Jahren ein Freund Luegers und blieb ein leidenschaftlicher Antisemit. So forderte er als Christlichsozialer noch im Jahr 1936 einen Judenkataster, der eigene Schulen sowie Zugangsbeschränkungen für Juden zu den Universitäten und zum öffentlichen Dienst vorsah.«1
Der Dozent schüttelte den Kopf. »Da ist Sebastian Kurz aber aus einem anderen Holz geschnitzt«.
»Hoffentlich. Aber er positioniert sich in Europa als rabiatkonservativer Rechtsaußen, lobt Viktor Orbáns »illiberale Demokratie«, die einen starken antisemitischen Drall aufweist und will in Nordafrika Auffanglager für Flüchtlinge errichten, ein Unterfangen, das nur mit einer jahrzehntelangen massiven Militärintervention zu erreichen ist. Eigentlich müssten Strache, Hofer, Kickl und Co ihre Freude an ihm haben.«
»Nicht nur an ihm«, warf der Dozent ein. »Auch die SPÖ ist dem Rechtskurs nach kurzer Abwehr durch Michael Häupl gefolgt. Was die Wahlen anlangt, reden wir besser von drei Mittelparteien, die in ihrer Praxis FPÖ-Politik machen. Mit Hegel wird man sagen müssen: Das Wesen wird schon noch zur Erscheinung drängen, es kann nicht anders.«
»Und was wie ein tollkühnes Manöver des Sebastian Kurz aussieht, ist es bei näherem Hinsehen mitnichten«, führte Groll den Gedanken fort. »In Wirklichkeit haben sich beide, Kurz und die ÖVP, bestens abgesichert. Gewinnt Kurz, wird er mit Strache eine Koalition bilden. Wenn Kurz erst Kanzler ist, wird sich die Partei scheibchenweise ihre Positionen zurückholen und Kurz wird das mit großer Expertise und neuen Gesichtern erklären. Die neue Parteifarbe kann bleiben. Scheitert er, werden sich die VP-Granden an die Brust schlagen: ‚Wir haben es ja gewußt – aber eine Chance mußten wir ihm geben. Selbstredend, daß wir die sogenannte Auflösung der Partei jetzt rückgängig machen.‘ Und Kurz kann sagen: ‚Mehr war nicht möglich, ich habe mein Bestes getan. Tschüs, ich geh in die Privatwirtschaft.‘ Vielleicht dockt Elisabeth Köstinger dann als Vizekanzlerin in einer Blau-Schwarzen Regierung an. Auch in diesem Fall bräuchte man die Parteifarbe nicht mehr anzupassen. Die Revolution des Sebastian Kurz ist, mit Nestroy zu sprechen, höchstens ein Revolutionerl.
Sie waren am Ende des Volksgartens angekommen und freuten sich auf ein Glas Wein. Als sie näherkamen, stellten sie fest: die Meierei war geschlossen.