I. Die Rundreise des Poseidon
In einem Prosafragment von Kafka sitzt der Meeresgott Poseidon immerzu an seinem Arbeitstisch und rechnet. Die Verwaltung der Gewässer gibt ihm unendliche Arbeit. »Er hätte Hilfskräfte haben können wie viel er wollte und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. Man kann nicht sagen daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte beworben, aber immer wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden.« Denn Poseidon ist keineswegs als ein einfacher Beamter zu betrachten, er ist zugleich ein Herrscher und in seiner Art wirklich ein Gott, nicht abzulösen von seinem Naturelement. So wie ihn Kafka beschreibt, erscheint er fast wie der Chef einer Zentralbank: Man konnte ihm »unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen, abgesehen davon daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte.« An eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt denkt niemand, »seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.« Am meisten ärgerte sich dieser Poseidon »– und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt – wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte. So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren.«
Und doch weiß dieser Gott, dass es nicht so bleiben wird, dass er einmal eine letzte Rechnung durchsehen wird müssen, gerade das gibt ihm eine gewisse Hoffnung. Er wartet auf den »Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.«
Kafkas Poseidon ähnelt den Götterfiguren der alten attischen Komödie. Bei Aristophanes herrscht auch schon eine gewisse, durchaus komische Weltuntergangsstimmung. In den Vögeln tritt sogar Poseidon selber auf und zwar als Abgesandter der Götter in der neuerbauten Stadt der Vögel, die den Olymp entmachten. Mit ihrer Stadt haben sie die Verbindung zwischen Menschen und Göttern unterbrochen und die Ernährung der Götter durch die Opfergaben der Menschen unmöglich gemacht. Poseidon scheitert: die Vögel treten an die Stelle der Götter. Kein Weltuntergang, aber eine Götterdämmerung, in der nun Poseidon tatsächlich seine Rundreise machen könnte, allein schon um irgendwo eine neue Einkunftsquelle zu finden. Die Komödien handeln vom Verschwinden der Götterwelt, die Komik des Aristophanes besteht nicht zuletzt darin, dass er die Konflikte des Homer und der Tragödien unverblümt vom Boden des Marktes aus darstellt. Das letzte erhaltene seiner Stücke lässt die gesamte Götterwelt schließlich in einen einzigen aufgehen: Plutos, Gott des Reichtums. Das Utopische an diesem Stück liegt aber darin, dass es der Polis gelingt, diesen Gott, dessen wichtigstes Merkmal darin besteht, dass er blind ist und seine Gaben dementsprechend verteilt, sehend zu machen.
In der Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer findet sich ein ganz anderes Bild von Poseidon: Hier wird er Zeus als ein den alten chthonischen Naturmächten näherstehender Gott entgegengesetzt: »Der nahe Meergott Poseidon, der Vater des Polyphem und der Feind des Odysseus, ist älter als der universale, distanzierte Himmelsgott Zeus, und es wird gleichsam auf dem Rücken des Subjekts die Fehde zwischen der elementarischen Volksreligion und der logozentrischen Gesetzesreligion ausgetragen.« Dazu passt auch, dass er anders als Zeus Riesen und Ungeheuer zeugt, wie zum Beispiel Polyphem. »Der gesetzlose Polyphem aber ist nicht einfach der Bösewicht, zu dem ihn die Tabus der Zivilisation machen, wie sie ihn in der Fabelwelt der aufgeklärten Kindheit zum Riesen Goliath stellen. In dem armen Bereich, in dem seine Selbsterhaltung Ordnung und Gewohnheit angenommen hat, gebricht es ihm nicht an Versöhnendem. Wenn er die Säuglinge seiner Schafe und Ziegen ihnen ans Euter legt, so schließt die praktische Handlung die Sorge für die Kreatur selber ein …«
Während Poseidon den alten Göttern und der Natur näher gerückt wird, findet sich Zeus dem Odysseus angenähert: »Überlistet werden die Naturgottheiten wie vom Heros so von den solaren Göttern. Die olympischen Freunde des Odysseus benutzen den Aufenthalt des Poseidon bei den Äthiopiern, den Hinterwäldlern, die ihn noch ehren und ihm gewaltige Opfer darbringen, dazu, ihren Schützling ungefährdet zu geleiten. Betrug ist schon im Opfer selber involviert, das Poseidon mit Behagen annimmt: die Einschränkung des amorphen Meeresgottes auf eine bestimmte Lokalität, den heiligen Bezirk, schränkt zugleich seine Macht ein, und für die Sättigung an den äthiopischen Ochsen muß er darauf verzichten, an Odysseus seinen Mut zu kühlen. Alle menschlichen Opferhandlungen, planmäßig betrieben, betrügen den Gott, dem sie gelten: sie unterstellen ihn dem Primat der menschlichen Zwecke, lösen seine Macht auf, und der Betrug an ihm geht bruchlos über in den, welchen die ungläubigen Priester an der gläubigen Gemeinde vollführen.«
Es gehört zur homerischen Welt, dass die Gegenüberstellung von Natur und Mensch, wie sie Adorno und Horkheimer als erste Form der Aufklärung innerhalb des Mythos wahrnehmen, in ganz bestimmter Hinsicht nicht durchgehalten werden kann: Die als Naturmächte Dargestellten selbst erweisen sich als ein bereits durch die modernen Tauschformen zur Darstellung Gebrachtes; die Natur, die zu unterjochen ist, kann nicht anders als durch das Geld hindurch wahrgenommen werden. Im Exkurs über die Odyssee wird angedeutet, dass die Naturgottheiten selbst schon nach Maßgabe der Äquivalentform gebildet sind, das zeigt sich gerade, wenn es um Gastgeschenke und Opfer geht: »Poseidon selber, der elementare Feind des Odysseus, denkt in Äquivalenzbegriffen, indem er immer wieder Beschwerde darüber führt, daß jener auf den Stationen seiner Irrfahrt mehr an Gastgeschenken erhalte, als sein voller Anteil an der Beute von Troja gewesen wäre, wenn er ihn ohne Behinderung durch Poseidon hätte transferieren können.« Und Polyphem und die anderen Ungetüme, die Odysseus überlistet, werden von den Autoren der Dialektik der Aufklärung zurecht schon als »Modelle der prozessierenden dummen Teufel des christlichen Zeitalters bis hinauf zu Shylock und Mephistopheles« erkannt. Aber hier bricht der Gedankengang ab, dem Widerspruch, dass Shylock und Mephisto in der christlichen Welt das Geld verkörpern, wird für die Odyssee nicht weiter nachgegangen, ihm ist schließlich das Kapitel über die Elemente des Antisemitismus gewidmet.
Damit hängt zusammen, dass in der Darstellung der Dialektik der Aufklärung die Grenze zwischen Odysseus und Zeus, den Heroen und den olympischen Göttern etwas verschwimmt. Odysseus ist sterblich, die Götter sind es nicht. Der Held der Odyssee kann darum zum »Heros des Überlebens« (Klaus Heinrich) werden. Gerade darin haben Adorno und Horkheimer etwas wie eine Mythisierung des Händlerdaseins erkannt: »Noch im pathetischen Bilde des Bettlers trägt der Feudale die Züge des orientalischen Kaufmanns, der mit unerhörtem Reichtum zurückkehrt, weil er erstmals traditionswidrig aus dem Umkreis der Hauswirtschaft heraustritt, ‚sich einschifft‘. Das abenteuerliche Element seiner Unternehmungen ist ökonomisch nichts anderes als der irrationale Aspekt seiner Ratio gegenüber der noch vorwaltenden traditionalistischen Wirtschaftsform. Diese Irrationalität der Ratio hat ihren Niederschlag in der List gefunden als der Angleichung der bürgerlichen Vernunft an jede Unvernunft, die ihr als noch größere Gewalt gegenübertritt. Der listige Einzelgänger ist schon der homo oeconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen: daher ist die Odyssee schon eine Robinsonade. Die beiden prototypischen Schiffbrüchigen machen aus ihrer Schwäche – der des Individuums selber, das von der Kollektivität sich scheidet – ihre gesellschaftliche Stärke.« Zugleich mit der Scheidung von der Kollektivität erfolgt die von der Natur: »Er windet sich durch, das ist sein Überleben, und aller Ruhm, den er selbst und die andern ihm dabei gewähren, bestätigt bloß, daß die Heroenwürde nur gewonnen wird, indem der Drang zum ganzen, allgemeinen, ungeteilten Glück sich demütigt. Es ist die Formel für die List des Odysseus, daß der abgelöste, instrumentale Geist, indem er der Natur resigniert sich einschmiegt, dieser das Ihre gibt und sie eben dadurch betrügt.«
Durch beide Scheidungen wird das Subjekt, das doch imstande sein soll, sich auf ein Objekt zu beziehen, sei’s die anderen Individuen, die außermenschliche Natur oder der eigene Leib, zum Selbst (»autos«, αύτόϛ), das kein Objekt zu benötigen scheint, worin die eigentlich Verblendung der Aufklärung besteht: es ist die Affiliierung an den Tauschwert, an die Äquivalentform, in deren Bann tatsächlich die Grenze zwischen Göttern und Menschen verschwimmen muss. »Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll. Die Widervernunft des totalitären Kapitalismus, dessen Technik, Bedürfnisse zu befriedigen, in ihrer vergegenständlichten, von Herrschaft determinierten Gestalt die Befriedigung der Bedürfnisse unmöglich macht und zur Ausrottung der Menschen treibt – diese Widervernunft ist prototypisch im Heros ausgebildet, der dem Opfer sich entzieht, indem er sich opfert.«
Utopie ohne Opfer lässt sich eben nur mit Kafkas Poseidon denken. Jene kleine Rundreise, die er nach Durchsicht der letzten Rechnung, aber jedenfalls rechtzeitig vor dem Weltuntergang zu unternehmen gedenkt, ist jedenfalls keine, für die noch Rechnungen zu erledigen wären. Ebensowenig ist sie als Wiederholung der Odyssee gedacht: Es gibt, sollte sie wirklich stattfinden, keine Notwendigkeit mehr, in die Heimat zurückzukehren, auch keinen Zwang aufzubrechen. Die fremden Wesen, denen der Reisende dabei begegnen wird, können in ihm anders als im Heros weder eine Beute noch eine Gefahr erkennen. Aber er kann andererseits angesichts des Weltuntergangs auch nicht mehr als Gott auftreten. Wie lange sie dauert, bleibt ganz offen, klein erscheint sie nur angesichts des Unausbleiblichen, sie endet eben erst mit einem Weltuntergang, der von ihr weder befördert werden wird, noch verhindert werden kann.
II. Transzendenz in Endspiel und Kadisch
»Ich liebe die Ordnung«, sagt Clov in Beckets Endspiel. Die Ordnung »ist mein Traum. Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen letzten Platz hätte …« Und dann sagt er noch: »unterm letzten Staub«. Unter diesem Staub: »trübselige Einzelheiten, die des Begriffs spotten, eine Schicht aus Utensilien wie in einer Notwohnung, Eisschränken, Lahmheit, Blindheit und unappetitlichen Körperfunktionen. Alles wartet auf den Abtransport. Diese Schicht ist nicht symbolisch, sondern die des nachpsychologischen Standes wie bei alten Leuten und Gefolterten.« So Adorno in seinem Versuch das Endspiel zu verstehen. Im Endspiel wird eben nicht ausgesprochen, welche Katastrophe stattgefunden hat, die alles Leben zum Endspiel werden ließ. Deutlich wird nur, dass sie stattgefunden hat und durch nichts mehr zurückzunehmen ist. »Becketts Mülleimer sind Embleme der nach Auschwitz wiederaufgebauten Kultur«. Da fährt die Hoffnung nicht wie ein Stern vom Himmel über die Häupter der Figuren weg, wie in der von Walter Benjamin messianisch gedeuteten Stelle in Goethes Wahlverwandtschaften, sondern erscheint als »trübes Licht« im »Innenraum ohne Möbel«, vor dem der blinde Hamm sich mit einem übers Gesicht gebreiteten großen, schmutzigen Taschentuch schützt. »Solange die Welt ist, wie sie ist, ähneln alle Bilder von Versöhnung, Frieden und Ruhe dem des Todes. Die kleinste Differenz zwischen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten wäre die Zuflucht der Hoffnung.« Doch diese Differenz, von der Adorno in der Negativen Dialektik spricht, wiederum im Hinblick auf Beckett, ist nur wahrzunehmen, wenn das trübe Licht, in dem Clov hinzutritt, noch immer als Transzendenz gedeutet wird.
Nichts könne gerettet werden, »das nicht das Tor seines Todes durchschritten hätte«, heißt es hier am Ende der Negativen Dialektik. »Ist Rettung der innerste Impuls jeglichen Geistes, so ist keine Hoffnung als die der vorbehaltlosen Preisgabe: des zu Rettenden wie des Geistes, der hofft. Der Gestus der Hoffnung ist der, nichts zu halten von dem, woran das Subjekt sich halten will, wovon es sich verspricht, daß es dauere.« So aber stellt sich das Problem, wie bei jener Preisgabe, wenn sie kein Märtyrertum und keine Heidegger’sche Todesontologie sein soll, eine Kritik des Opfers noch denkbar wäre; wie bei jener Überschreitung, wenn sie keine Sterbehilfe betreiben will, dem »ungeschminkt materialistischen Motiv«, dem »praktisch gewordenen Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz«, noch Genüge zu tun, von denen wenige Seiten davor in der Formulierung des kategorischen Imperativs nach Auschwitz die Rede ist.1 Von Geist und Subjekt zu sprechen – unumgänglich für den, der wie Adorno »solidarisch« sein will »mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« – bedeutet immer auch über den physischen Schmerz, den quälbaren Leib, hinwegzugehen. Der aber findet sich vom Imperativ als das genannt, worüber nicht hinweggegangen werden dürfe!
Das Problem wird eben nicht los, wer (wie die mit allen Wassern des Poststrukturalismus gewaschenen Adorno-Fans) das Verschwinden der »Individualität als geistiger Reflexionsform« registrierend nur noch von Individuum und Leib spricht statt zugleich auch von Subjekt und Objekt – Begriffe, die doch die Voraussetzung sind, jenes Verschwinden überhaupt wahrzunehmen und das Individuierte vom Individuum, nicht zuletzt einer zoologischen Kategorie, zu unterscheiden; also das Verhältnis der Individuen zueinander und zur Natur als Verhältnis des Individuums zu sich selbst und zur eigenen Triebnatur zu begreifen. Mag nun aber der Transzendenz entsprechend das Opfer gefordert werden oder kritisiert: Transzendenz ist in jedem Fall Abstraktion von der Selbsterhaltung, deren ‚Übersteigen‘; gerade auf sie richtet sich der »Seufzer der bedrängten Kreatur« (Marx), wenn die conservatio sui in ihrem unmittelbaren Vollzug fragwürdig geworden ist; anders gesagt: wenn die Trennung von Subjekt und Objekt – durch die unaufhebbare Bindung des je einzelnen Bewusstseins an den je einzelnen Leib gegeben – als Todesdrohung erlebt wird. Die Frage, ob und wie, aber auch wessen Selbsterhaltung möglich sei, findet sich dabei in Gestalt der göttlichen Instanz bzw. der intelligiblen Welt verschoben oder projiziert. Und der Mythos beantwortet sie mit dem Opfer, suggeriert eine Versöhnung von Subjekt und Objekt als imaginären Vollzug der Selbsterhaltung – zu Lasten der Kreatur und des Kreatürlichen. Wird aber gerade im Namen der Transzendenz verweigert, das Opfer zu fordern, vermag das Bewusstsein die Trennung von Subjekt und Objekt wiederherzustellen, die von der falschen, durch das geforderte Opfer geleisteten Versöhnung verleugnet wird. Darin liegt die Bedeutung von Benjamins Berufung auf die Theologie wie insgesamt der jüdischen Traditionen des Denkens. »Die jüdische Religion«, so die Dialektik der Aufklärung, »duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns.« Die Reflexion auf diese Rettung, einen ‚anderen‘ Zustand, der den Bedürfnissen gemäß wäre und Leid abwenden könnte, erfolgt deshalb dem conatus, wie Spinoza die Selbsterhaltung als Prinzip nannte, förmlich entgegengesetzt: Sie transzendiert den gegenwärtigen Zustand dieser Selbsterhaltung, der des Opfers bedarf, schließt die Möglichkeit einer anderen, einer opferlosen Vermittlung von Subjekt und Objekt zumindest nicht aus.
Vernunft wird in der Dialektik der Aufklärung als die Instanz eines kalkulierenden Denkens kritisiert, das »die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet« und dabei – anders als noch Poseidon und Polyphem in ihrer Sorge für die Kreatur – »keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung«. Es kann gar nicht genug betont werden: In einer Zeit, in der die Nationalsozialisten das Selbstopfer einfordern und die Volksgemeinschaft dem willig entspricht, setzen sich diese Philosophischen Fragmente, die noch Adornos Beckett-Deutung zugrunde liegen, rückhaltlos dem Risiko größter Missverständnisse aus, indem sie den Vernunftbegriff, der in die Katastrophe, in »eine neue Art von Barbarei« führte, gerade nicht im Namen der Selbsterhaltung kritisieren, sondern aus dieser Selbsterhaltung die Herrschaftsformen ableiten, die ihn kennzeichnen. Genau darin aber bewahren Adorno und Horkheimer das utopische Moment des Denkens, wie es einmal, offen oder verdeckt, die Kritik der politischen Ökonomie und die Psychoanalyse vorangetrieben hat; genau darum nehmen sie allerdings auch Anleihe bei den »dunklen Schriftstellern der bürgerlichen Frühzeit«, etwa Machiavelli und Hobbes, die dem Egoismus des Selbst das Wort redeten und damit die Gesellschaft als das zerstörende Prinzip erkannt, die Harmonie denunziert haben. In der bürgerlichen Spätzeit wird jedoch erst kraft der utopischen Elemente in Analyse und Urteil das ganze Ausmaß dessen, was droht, sichtbar: Durch die Wendung gegen den bloßen conatus, der Unterdrückung und Leiden verewigt, stößt Marx schließlich auf das automatische Subjekt, Freud auf den Todestrieb und die Dialektik der Aufklärung auf die Elemente des Antisemitismus: Umschlag von Selbsterhaltung in Vernichtung, die wiederum Selbstvernichtung in Kauf nimmt.
Wenn diese Logik sich behauptet, bleibt das utopische Moment selbst, dem sich doch ihre Aufdeckung verdankt, praktisch reduziert auf ‚Transzendenz‘ in einem einzigen Sinn: dass der kategorische Imperativ nach Auschwitz »widerspenstig« ist gegen seine Begründung, wie Adorno das ausdrückt. Er ist als gegeben vorauszusetzen, insofern intelligiblen Charakters wie der Kantische. Adorno spricht zwar davon, dass Hitler diesen Imperativ den Menschen »aufgezwungen« habe, das aber ist nicht als Begründung zu verstehen, denn die Frage ist, unter welchen Voraussetzungen gesagt werden kann, dass eine historische Erfahrung, die hier mit Hitler benannt wird, etwas aufzuzwingen vermag: Darin liegt nach Auschwitz das Utopische. Dieses aber am »moralischen Gesetz in mir« zu verkennen (und die ganze Vergangenheitsbewältigungskultur läuft darauf hinaus), um sich gegen die Utopie einer anderen, von jener Logik befreiten Gesellschaft zu wenden (wie das die liberalen Kritiker der Kritischen Theorie und ihres messianischen Impulses tun), führt unvermeidlich zurück zur Verharmlosung dessen, was der Logik nach droht: die Wiederholung von Auschwitz; anders gesagt: zu unbegründetem Vertrauen in die Mechanismen der Selbsterhaltung, über deren Abgrund allein eine Kritik belehren könnte, die das weithin verachtete utopische Moment nicht preisgibt. Eben darauf fällt das trübe Licht in Becketts Endspiel: Das moralische Gesetz dient, wenn der utopische Horizont verschwunden ist, nur noch dazu, Selbsterhaltung zu parodieren. Kadisch für ein nicht geborenes Kind von Imre Kertész geht den umgekehrten Weg: Dass einem Imperativ gemäß gehandelt wird, erscheint unter den Bedingungen, von denen Kadisch handelt, noch unwahrscheinlicher und irrealer als dass jemals die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen, einer mit sich und der Natur versöhnten Gesellschaft verwirklicht werden könnte – und geschieht dennoch. Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare sei nicht das Böse, »im Gegenteil: es ist das Gute«. Berichtet wird die Geschichte von einem Mann, »besser gesagt, einem Gerippe«, unter den Deportierten »Herr Lehrer« genannt, der irrtümlich die Essensration des Erzählenden zusätzlich erhalten hatte und sie diesem mit den Worten »Was hast du denn gedacht?! …« zurückgibt. Mit der doppelten Ration hatte er »eine zweifache Chance erhalten … am Leben zu bleiben«, dass er aber »diese verdoppelte Chance, das heißt exakt diese zusätzlich zu seiner Chance sich bietende Chance, die eigentlich die Chance eines anderen wäre, verwarf, so zeigt das, daß die, wie soll ich sagen, die Annahme dieser zweiten Chance gerade seine einzige Chance vernichtet hätte, die es ihm noch ermöglichte, zu leben und zu überleben … Ja, und meiner Meinung nach gibt es dafür keine Erklärung, da es auch nicht vernünftig ist, verglichen mit der klar auf der Hand liegenden Vernünftigkeit einer Verpflegungsration, die in einer Konzentrationslager genannten Endlösung dazu dienen kann, das Ende zu vermeiden …« Das Opfer wird nicht gefordert. Aber damit, es abzulehnen, ist die Frage, wie weiterleben, nicht beantwortet.