Zwei der erfolgreichsten Warensegmente auf dem Buchmarkt sind Lebensratgeber und Kochbücher. Es verwundert, dass – dem (Wider)Sinn kulturindustrieller Verdichtungs- und Verwertungslogik entsprechend – Hybride daraus nicht stärker präsent sind: »Sautieren statt Burn-Out«, »Thermomix: Ganzheitlich mit Touchscreen«, »Achtsamkeit in der Turbo-Küche«.
Das Marketing-Geplapper von »innovativen Trends«, das in Zeitungen dienstfertig rapportiert wird, täuscht in hektischer Betriebsamkeit Neuerungen vor, die aber die »ewige Wiederkehr des Neuen« (Benjamin) sind. Sie liefern Variationen des Bestehenden und bedienen eingeschliffene Schemata, die nur anders arrangiert, verpackt und beworben werden. Und weiter lasten die Traditionen toter Geschlechter wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden (Marx).
Wenn substantielle Veränderungen außer Reichweite sind, laufen auch kritikaffine Geister Gefahr, ihre Kontroversen auf die Ebene der Interpretation zu beschränken. Ein Beispiel dafür ist die Idee, dass eine planvolle Neuregelung des Sprachgebrauchs ein mächtiger Hebel für gesellschaftliche Verbesserungen ist. Den Fetisch Sprachpolitik und die daraus resultierenden Worthülsen kritisiert Marcel Matthies und Svenna Triebler das Phänomen »gewaltfreie Kommunikation«.
In der Fortentwicklung literarischer Formen wiederum ist es durchaus so, dass neue Gedanken (Phantasien im emphatischen Sinn) konventionelle Formen zwangsweise überschreiten müssen. Für Magnus Klaue bewahren sie als Ausdruck reflektierter Spontaneität Wirklichkeitsspuren der Menschheitsgeschichte auf.
In den Bereich der Debatten über die Belange materieller Reproduktion begeben sich dagegen Felix Riedel mit seinem Text über die propagandistische Vereinnahmung von Bäurinnen und Bauern, sowie Mathias Beschorner, der den regressiven Charakter zentraler Ideen in der »Postwachstumsökonomie« hervorhebt.
Marina Wetzlmaier und Thomas Rammerstorfer beschäftigen sich in ihrem Text mit der Situation, dass die neue österreichische Bundesregierung das Frauen- und das Integrationsressort zusammengelegt hat, Erwin Riess thematisiert in einer neuen Groll-Geschichte die Pflegeindustrie, Paul Schuberth portraitiert ein vermeintlich fortschrittliches Musikinstrument und Georg Wilbertz die tatsächlich innovative Schlagzeugerin Katharina Ernst. Barbara Eder rezensiert für uns Christian Fuchs Versuch einer Marx-Relektüre unter digitalen Bedingungen, Frederike Schuh einen Sammelband über Marxismus und Frauenunterdrückung und Tina Füchslbauer ein neues Buch über Frauenhass und die Ethnisierung von Gewalt. Melanie Letschnig hat sich Jerneja Zavecs Film »YU? [Why you?]« angesehen und Heinrich Anton Schule lässt 10 Jahre »The Future Sound« in der Stadtwerkstatt Revue passieren.
Auch Tanja Brandmayrs abschließender Text handelt von Sprache – allerdings der automatisierten, wie sie im Vorjahr Gegenstand des Writing-Bot-Projekts »Unfinished Language« war.
Der Fokus aufs Unfertige führt wiederum zu Reflexionen über das Verhältnis von »Weniger und Mehr«, wie es im aktuellen Stadtwerkstatt-Jahresclaim »More (vs.) Less« aufscheint. Der Claim findet sich am Cover und ebenso bei einem von der STWST ausgeschriebenen Open Call – für die Showcase-Extravaganza STWST48x6 MORE LESS im September.
Manchmal ist weniger mehr. Und apropos halbleeres und/oder halbvolles Glas: Manchmal ist weniger auch leer. Der Skepsis gegen Verzichtsideologien und der Forderung nach mehr für Alle schließen wir uns jedenfalls gerne an.
Die Redaktion