Herr Groll und der Dozent eilten die Weissenwolffstraße in Linz entlang. Ihr Ziel war der Handelshafen an der Donau. Dort lösche ein Motorgüterschiff namens Innovatie seine Ladung, Schiffskapitän Dirk Hoonwiepel aus Alkmaar sei ein alter Freund von ihm und freue sich schon auf den Besuch, sagte Groll. Die Linzer Torte im Rollstuhlnetz sei ein Gastgeschenk. Als sie das Diakonissenkrankenhaus, ein Privatspital, passierten, berichtete der Dozent von einer Vorlesung an der Linzer Universität, die er am Vormittag gehört habe. Es ging um die Geschichte der europäischen Independent Living Bewegung und deren größte Bedrohung.
»Bekanntlich ging im Jahr 1989 der Kommunismus im Osten unter, im Westen wurde im selben Jahr das ‚European Network on Independent Living (ENIL)‘ gegründet«, fuhr der Dozent fort. »Der europäische Ableger des weltumspannenden Independent Living Movement nahm von den USA Ende der 60er Jahre seinen Ausgang. Die Bewegung speiste sich aus Kriegsversehrten des Vietnam-Krieges, Aktivistinnen und Aktivisten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und behinderten Menschen, die sich in Berkeley, Kalifornien den Zugang zur universitären Ausbildung erkämpft hatten.«
»Wie immer wenn er doziert, steigert er unwillkürlich sein Marschtempo«, dachte Herr Groll und fuhr seinerseits schneller.
»Anfang der 70er Jahre breitete sich die Bewegung in mehreren Wellen in der angelsächsischen und skandinavischen Welt aus«, fuhr der Dozent fort. »Deutschland folgte in den 80er Jahren, die ersten Zentren bestanden in Bremen und Hamburg. Aktivistinnen und Aktivisten wie Theresia Degener, Udo Sierck, Franz Christoph, Hannelore Witkowski, Horst Frehe prägten die Szene. Der nunmehr 76-jährige Adolf Ratzka war lange Zeit die führende Persönlichkeit der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. In ihm vereinigten sich die verschiedenen geografischen und inhaltlichen Stränge der Emanzipationsbewegung.«
Er habe von diesem Mann gehört, wisse aber nichts Näheres, sagte Herr Groll und beschleunigte das Tempo weiter.
»Durch Polio gelähmt, musste der junge Mann fünf Jahre in Heimen zubringen, weil es keine adäquaten Wohnungen gab«, setzte der Dozent fort. »Mit Hilfe eines Stipendiums des Freistaats Bayern bezog Ratzka ein rollstuhltaugliches Quartier auf dem Uni Campus in Berkeley. Auch die Kosten für persönliche Assistenz, den Rollstuhl und das Beatmungsgerät wurden durch das Stipendium getragen. So konnte der junge Mann am eigenen Leib die Befreiung aus drückenden Abhängigkeitsverhältnissen erleben und entwickelte sich zu einem Experten in eigener Sache. Er war auch an der Gründung der ersten Independent Living Center (ILC), das sind nichtprofitorientierte, von Betroffenen geführte Service- und Beratungsstellen mit bis zu hundert Klienten aller Behinderungsarten, beteiligt. In den USA existieren gegenwärtig 340 dieser Selbsthilfezentren. Später wechselte er nach Schweden, wo er seine Doktorarbeit zum Thema Barrierefreiheit und Selbständigkeit schrieb und die Stockholmer Independent Living Genossenschaft STIL aufbaute, die wiederum zum Kristallisationspunkt für viele behinderte Kolleginnen und Kollegen in ganz Europa wurde. Und er verfasste das Manifest ‚Aufstand der Betreuten‘, das als eine Art Kommunistisches Manifest der autonomen behinderten Menschen gilt. Es handle sich um eine revolutionäre Emanzipationsbewegung, die das Ziel hat, behinderten Menschen individuelle und kollektive Macht zu verschaffen und diese auch auszubauen, so das Manifest. Daß zu diesem Zweck in einer Gesellschaft, die sich über Geld und Kapital definiert, die Verfügbarkeit über finanzielle Mittel für behinderte Menschen, die von den Arbeitsmärkten ferngehalten oder ausgebeutet werden, indem man sie mit Taschengeld abspeist, von grundlegender Bedeutung ist, versteht sich von selbst. Lieber Groll, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir das Tempo reduzieren? Sie fahren mir zu schnell.«
»Wie Sie wollen.« Herr Groll ließ sich auf sein übliches Tempo zurückfallen.
»Jenseits von religiösen Zwängen, die behinderten Menschen das stille Ertragen ihres »Leidens« auferlegen und jegliche Rebellion dagegen verbieten, wie es im Welt-Katechismus der Katholischen Kirche heißt (die Endredaktion besorgte übrigens der Wiener Kardinal Schönborn), haben behinderte Menschen nur dann eine Chance auf ein würdevolles Leben, wenn sie ihre Befreiung aus patriarchalen Verhältnissen selbst in die Hand nehmen und sich vom Objekt der Fürsorge- und Sozialstaatsbüro-kratie zum politischen Subjekt erhöhen, dem die Welt und alle Lebenssphären vom Selbstbestimmten Wohnen und Arbeiten bis zur Sexualität offen stehen müssen«, setzte der Dozent fort.
»Das haben Sie schön gesagt«, fand Herr Groll anerkennende Worte. »Was macht der Mann heute?«
»Ratzka lebt heute in Schweden, das schon vor zwanzig Jahren Großheime abbaute und behinderten Menschen ein Leben in Selbstachtung und zumindest teilweiser Chancengleichheit auf freier Wildbahn mit oder ohne Assistenz oder in kleinen Wohngemeinschaften ermöglichte. Seit einigen Jahren sind aber BehindertenaktivistInnen in Schweden – wie im übrigen Europa – in erbitterte Abwehrkämpfe gegen mächtige Pflegekonzerne und mit ihnen verbündete Sozialbehörden verstrickt, die vom selbstbestimmten Leben behinderter und alter Menschen nichts, von deren profitabler Verwahrung aber viel halten. Dabei stechen zwei französische Konzerne hervor: ORPEA betreibt 950 Großheime in Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Luxemburg, Spanien, der Schweiz, China, Polen, Portugal, Tschechien, Brasilien und Österreich, fast gleichauf liegt die KORIAN-Gruppe, die in Deutschland Marktführer ist, mit drei Milliarden Euro Umsatz und 57 000 Beschäftigten, 910 Millionen Euro Gewinn und einer Umsatzrendite von 15 bis 30 %. In Österreich gehören neben anderen die Heime der Senecura-Gruppe zum Konzern.«
Sie waren fast am Hafen angekommen. An einer Kreuzung mußten sie anhalten.
»Die Pflegekonzerne realisieren Profite in einer Höhe, von denen in der klassischen warenproduzierenden Industrie schon lange keine Rede mehr sein kann. Gleichzeitig schreitet der Konzentrationsprozess des Pflege- und Gesundheitskapitals weiter voran. Eigentümer der Pflegekonzerne sind sogenannte institutionelle Anleger, also Versicherungen, private Rentenfonds und Finanzinvestoren. Ihre Politik ist je nach Situation hart bis geschmeidig und reicht von klassischen Methoden wie dem Verhindern von Betriebsräten, der Entlassung von GewerkschafterInnen, juristischen Maßregelungen (Frankreich, Deutschland, Österreich und viele andere Staaten) bis zu weicherem Vorgehen wie dem Auffangen von sozial- und arbeitsrechtlichen Forderungen durch Zugeständnisse in zweitrangigen Bereichen und dem Abschöpfen und Integrieren der Kritiker in die Geschäftsleitungen. Nicht wenige Personalchefs der Pflegekonzerne waren zuvor Aktivisten der Lohnabhängigen in Pflege- und Sozialeinrichtungen.«
»Wie August Wöginger von der Kurz’schen ÖVP; der vom Betriebsratschef des Roten Kreuzes in Oberösterreich als Klubobmann ins Parlament geholt wurde, wo er nun die Öffnung des Gesundheits- und Pflegesektors für das Privatkapital vorantreibt«, ergänzte Groll, nachdem sie die Straße überquert hatten und das erste Hafenbecken erreichten.
»Die Vortragende, eine deutsche Soziologin, betonte, daß es im Pflegesektor systematisch zu einem Unterlaufen der gesetzlichen Standards komme«, berichtete der Dozent weiter. »Die deutsche Gewerkschaft ver.di bezeichnet die Finanzinvestoren als ‚Raubritter in der Pflege‘, weil sie beim Personal und beim Material skrupellos sparen. Leidtragende sind die Pflegekräfte und jene Menschen, die der Pflege bedürfen.«
Am Ende des Hafenbeckens lagen zwei Selbstfahrer. Am Heck des einen wehte eine holländische Flagge.
»Das internationale Pflegekapital ist unter den Feinden der autonomen Behindertenbewegung einer der mächtigsten« sagte Groll. »Die Auflassung von Großheimen und das Ende der Segregation im Wohnbereich sind zentrale Inhalte der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2008 in Kraft trat, mittlerweile von 177 Staaten ratifiziert wurde und als völkerrechtlicher Überbau der Independent Living Bewegung gilt. In unabhängigen Monitoringausschüssen wird die Umsetzung der UN-Konvention in den einzelnen Staaten kontrolliert. Die Berichte werden von den Regierungen, besonders jenen in Osteuropa, gefürchtet, stellen sie ihnen doch vernichtende Zeugnisse aus. Aber auch Staaten wie Österreich, das bei der Auflösung von Sonderschulen und Großheimen sowie bei der Barrierefreiheit nicht vorankommt und sich bei der politischen Selbstvertretung und inklusiven Arbeitsmarkt-strategien für behinderte Menschen versagt, kommen bei den Berichten schlecht weg. Unser Lebenskonzept ist das genaue Gegenteil von der Rolle, die das Pflegekapital uns zuweisen will. Jenes sieht uns nur als Objekte der Politik, unmündig, ohne Geldmittel und politischen Einfluß.«
»Und die Politik lässt Sie im Stich«, warf der Dozent ein.
»Mittlerweile haben nicht einmal mehr die Grünen selbst betroffene BehindertensprecherInnen und jene der NEOS, Fiona Fiedler, ebenfalls nicht betroffen, ist Sprecherin für behinderte Menschen und Tierschutz.«
»Ein schlechter Scherz!« erschrak der Dozent.
»Die traurige Wahrheit«, erwiderte Groll. »Vergessen wir bei all dem nicht, daß die SPÖ seit jeher keine betroffenen Behindertensprecher-Innen nominiert. In ihren Augen sind behinderte Menschen offenbar zu blöd, um für sich und ihresgleichen eintreten zu können. Das machen dann nicht betroffene Funktionäre der Volkshilfe, die ihre Vereinsinteressen und nicht die der behinderten Menschen im Auge haben.«
Neben dem holländischen Selbstfahrer Innovatie erkannte Herr Groll auf dem Treppelweg einen großgewachsenen Mann. Er hatte die beiden Näherkommenden gesehen und winkte mit seiner Schiffermütze.