Lernen Musiker eigentlich nie dazu?, fragt Fred K. Prieberg am Ende seiner großen Studie über Musik im NS-Staat aus dem Jahr 1982. Sieben Jahre später zeigt sich ein damals knapp 80-jähriger Komponist und Musiker um keine Antwort verlegen, als er über die Zeit nach 1933 zu sprechen beginnt: Ich habe die Nacht dann durchgeübt und auch konstruiert; es war an sich eine tolle Zeit. […] Wissen Sie, da draußen, da ballte sich alles und würgte sich alles auf diese Katastrophe zu, […] es gab ja kaum einen Tag, wo nicht zwischen Kommunisten und Nazis mal ein Mord passiert ist, und da war man dann in diesem riesigen Masurenallee-Haus, hatte seinen Saal oder irgendetwas, wo man arbeiten konnte; […]. Ich konnte machen, was ich wollte, hatte meine verrücktesten Ideen verwirklicht, und keiner kam da und störte mich; […]. Es waren interessante Jahre, ich kann es nicht anders sagen. Oskar Sala heißt dieser Mann, der uns so anschaulich vor Augen führt, dass Kommunisten und Nazis im Dritten Reich gleich schlimm waren. Aber auf welchem selbstkonstruierten Instrument konnte er unbehelligt die Nächte durchüben? Etwa auf einer Rekonstruktion einer Lure, eines frühgeschichtlichen Blasinstrumentes aus Bronze, anhand dessen völkische Musikforscher die Zurückführung der deutschen Musik auf eine verschollene »germanische« theoretisch begründen wollten?
Mitnichten. Salas Instrument war das Trautonium. Mit diesem ließ sich keine germanische Urmusik wiederherstellen; mehr noch trug es dem Interpreten Sala später den Ruf ein, eine »Vaterfigur der Technoszene« zu sein. Beim Trautonium handelt es sich um eines der ersten elektronischen Musikinstrumente, dessen Prototyp Ende der Zwanzigerjahre vom deutschen Physiker Friedrich Trautwein an der Rundfunkversuchsstelle in Berlin entwickelt wurde. Das Prinzip ist nicht kompliziert: eine Drahtsaite mit elektrischem Widerstand wird auf eine Metallschiene gedrückt – ein Ton entsteht. Oskar Sala, ursprünglich Pianist und Schüler Hindemiths, zudem studierter Physiker, entwickelte das Trautonium über die Jahre zu einem vollwertigen Konzertinstrument. Was vor Jahrzehnten eine Sensation war und heute immer noch fasziniert, ist die unerschöpfliche Palette an Klangfarben dieses sonderbaren Instruments. Sala konnte es wahlweise wie eine Sing-, Violin- oder Flötenstimme klingen lassen, ganz neuartige Klänge und Effekte damit produzieren oder Wind- und Vogelgeräusche imitieren. Letzteres trug ihm auch einen seiner prestigeträchtigsten Aufträge ein: jenen zur Komposition zum Horrorklassiker »Die Vögel« von Alfred Hitchcock. Das berühmte Kreischen stammt zur Gänze von Salas adaptiertem Mixturtrautonium. Auf und mit diesem komponierte er in seinem über siebzig Jahre währenden Berufsleben Soundtracks zu 300 Filmen, so auch 1944 zum ersten deutschen Comicfilm Armer Hansi. Diese Auftragsvergabe an einen Pionier der elektronischen Musik war kein Versehen, wie eine naive Vorstellung von nationalsozialistischer Kulturpolitik vermuten ließe. Der Grundstock für die Karriere des Trautoniums wurde im Dritten Reich gelegt, und das nicht ohne Zutun seitens höherer Stellen. Paul Hindemith, der die Entwicklung des Trautoniums angeregt und die ersten Stücke dafür komponiert hatte (»Des kleinen Elektromusikers Lieblinge«), sah sich schon mit einem Sendeverbot seiner Werke konfrontiert, als das NSDAP-Mitglied Trautwein 1935 einen hochoffiziellen Vorstellungstermin bei Goebbels arrangierte, um seiner Erfindung auf die Sprünge zu helfen. Kurz zuvor hatte sich die Serienproduktion eines handlichen Volkstrautoniums durch die Firma Telefunken als großer Flop erwiesen. Der Termin beim Propagandaminister – Sala spielte in Begleitung durch den Pianisten Rudolf Schmidt hauptsächlich Bearbeitungen klassischer Werke – verlief erfolgreich. Prompt kam von der Reichsrundfunkgesellschaft der Auftrag, ein größeres Modell zu bauen, das auch für Rundfunkzwecke tauglich sein sollte (es wurde später als Rundfunktrautonium bekannt). Ab 1938 wurde dann im »Deutschland-sender« regelmäßig die Reihe »Musik auf dem Trautonium« ausgestrahlt; in insgesamt 54 Sendungen bis Kriegsbeginn präsentierte Oskar Sala Bearbeitungen, etwa von Werken Mozarts oder Paganinis, aber auch zeitgenössische Originalliteratur. Einer der wenigen Komponisten, die für das Trautonium komponierten, war Harald Genzmer. Der Hindemith-Schüler hatte sich durch den Gewinn der Bronzemedaille im Rahmen der Kunstwettbewerbe der Olympischen Spiele 1936 in der Kategorie Solo- und Chorgesang, sowie durch Kompositionen für das Orchester der Luftwaffe schon einen Namen gemacht. Unter anderem seinen Kompositionen verdankte Oskar Sala eine glänzende Konzertkarriere während des Krieges. Der Höhepunkt waren wohl die Aufführungen von Genzmers Trautoniumkonzert in der Berliner Philharmonie unter Carl Schuricht in den Jahren 1940 und 1942. Ob als Solist in Orchesterkonzerten oder als Musiker bei Kammermusikabenden: Sala bereiste mit seinem Instrument halb Europa und bestritt von 1940 bis 1944 beinahe 50 dokumentierte Auftritte; noch 1942 spielte er in Budapest. Ein Jahr später kam er nach Paris, wo er auf Einladung der Auslandsorganisation der NSDAP im Palais d’Orsay einen Vortrag mit dem Titel »Sphärenmusik – Was ist ein Trautonium?« hielt. Das Presseecho, ob im Angriff oder im Völkischen Beobachter, war stets hervorragend.
Eine regelmäßige Radiosendung mit ausschließlich elektronischer Musik im Vorabendprogramm? Was selbst für heutige Verhältnisse nach einem gewagten Experiment klingt, ist für die Zeit des NS-Staates, wie die gesamte amtliche Förderung des Trautoniums, nur schwer vorstellbar. Für manche offenbar so schwer, dass immer wieder von dessen Verbot wegen »Entartung« zu lesen ist. Diesem Irrtum liegt die Vorstellung zugrunde, dass alles, was für die eigenen Ohren ungewohnt klingt, im Dritten Reich wohl als »entartet« richtig erkannt worden sei. In der späteren, so verkaufsfördernden wie fragwürdigen Übernahme des Begriffes »Entartete Musik« durch Konzertagenturen und Plattenfirmen spiegelt sich die heimliche Auffassung wider, es handle sich dabei eigentlich um ein klar abgestecktes Genre, dem man zu einem Revival verhelfen müsse. Doch die nationalsozialistische Musikpolitik war, Prieberg zufolge, weniger totalitär als experimentell. Darüber, was nun entartet und kulturbolschewistisch sei, ließ sich streiten, einig war man sich nur in der Tilgung alles als jüdisch Entlarvtem aus dem Musikleben und –repertoire. Wenn Fred K. Prieberg genüsslich auseinandersetzt, dass im Rahmen der Konzerte des Jüdischen Kulturbundes ebenso wenig »atonale« Musik wie außerhalb gespielt wurde und Schönberg gar keine »rassische Solidarität« genoss, hat das zwar etwas vom Versuch des Aufklärers, den Rassisten an der Achsel des Ausländers riechen zu lassen, um zu beweisen, dass dieser ja gar nicht stinke, und doch spießen sich diese Fakten mit unserer Intuition, die als eine antisemitische leicht zu durchschauen ist. Außer der Gleichsetzung von »jüdisch« und »kulturbolschewistisch« brachte es die völkische Musikologie auf keine weiteren allgemeingültigen Prinzipien, und so konnten eigentlich widerstreitende musikalische Auffassungen als jeweils der Ausdruck völkischen Denkens in der Musik angepriesen werden. Der Komponist Fritz von Borries, später immerhin Musikreferent in der Musikabteilung des Propagandaministeriums, fasste diese Widersprüche schon 1933 so zusammen: So wie Adolf Hitler unser ganzes Volk führt, sollen auch wir Künstler führen, nicht aber uns treiben lassen! Gewiss, wir lehnen die atonale Musik […] ab, weil sie volksfremd […] ist. Umso weniger dürfen wir aber in den Fehler verfallen, etwa jede eigenwillige, fortschrittliche Gestaltung abzulehnen und zu einer billigen Volkstümlichkeit zu gelangen, die nicht die seelischen Bewegungen des Volkes in ein gesteigertes, konzentriertes, unserer heutigen Zeit entsprechendes künstlerisches Erlebnis emporhebt, sondern schließlich dem Volke nach dem Munde redet. Hier wird die künstlerische Avantgarde rehabilitiert als Vehikel, das Volk an die politische zu gewöhnen. Deutlicher noch findet sich das beim Wissenschaftler Hinrich Edelhoff: Und wenn wir freudig anerkennen, dass das »schöpferische Wagnis« unserer politischen Führer aus klarem Bewusstsein der Verantwortung heraus uns den Weg in eine neue Zeit öffnete, so dürfen wir auch erwarten, dass der gewaltsamste Radikalismus in der Musik Verständnis findet, wenn er sich gebunden weiß an die Totalität der Nation. Nicht zu vergessen, dass der im Dritten Reich eigentlich wohlgelittene, aber immer wieder angefeindete dänische Komponist Paul von Klenau seine Zwölftontheorie mit der wunderlichen Erklärung verteidigte, mit allen »individualistischen Umtrieben im Reiche der Töne« müsse aufgeräumt werden. Angesichts dieser Ungereimtheiten: Ist die Förderung des Trautoniums nun Resultat puren Zufalls oder doch ideologischer Überlegungen?
Ein Glück, dass diese Frage aufgrund fehlender Quellen nicht historisch akkurat beantwortet werden kann, und man sich ihr theoretisch nähern muss. Das Interesse fürs Trautonium ist sicher nicht durch eine Verherrlichung des Geräusches zu erklären, die dem musikalischen »Bruitismus« des italienischen Futurismus eigen war. Obwohl Trautweins Instrument dazu fähig ist, interessierte sich Sala nicht für Imitation, sondern für eine Etablierung des Trautoniums als anderen Orchesterinstrumenten gleichwertiger Klangkörper mit einer eigenständigen Tonqualität. Oskar Sala gelang mit seiner virtuosen Spielweise und den imposanten Oberton-, später auch Unterton-Klängen eine Beseelung der Technik; vielleicht ließ dieses Menschlich-Übermenschliche des Trautoniums, die Fähigkeit, mittels Technik zu einem emotionalen, ausdrucksvollen Spiel zu gelangen, so manchen Musikreferenten aufhorchen. Die komplizierten, intimen Regungen der deutschen Seele jedenfalls lassen sich mit einem Trautonium besser musikalisch nachempfinden als mit dem kühl-abstrakten Sinusklang des von Sala verachteten Theremins – vielleicht aber auch besser als mit einer Flöte oder einer Pauke. Das Trautonium als klingender Ausdruck der Verschmelzung von Mythologie und Technikbegeisterung? So fern liegt dieser Schluss nicht, führt man sich das mehrfach erwähnte Lob der NS-Presse vor Augen, bei Trautweins Erfindung handele es sich um das »Instrument der stählernen Romantik«. Indem Sala das »Überdimensionale« seines Instrumentes betont, verweist er auf ideologische Implikationen, aber auch auf rein praktische: elektronische Musikinstrumente ließen sich aufgrund ihrer möglichen Lautstärke blendend für Massenveranstaltungen einsetzen. So verstärkte das Trautonium 1936 bei einer Aufführung von Händels »Herakles« im Rahmen der Olympischen Spiele die Bassstimme. Schon 1935 war, um die Akustik der riesigen Freilichtbühne im Berliner Grunewald zu testen, dort Genzmers Konzert für Trautonium und Blasorchester uraufgeführt worden. Weitere derartige Bemühen verliefen im Sande, wohl wegen geänderter Prioritäten der Machthaber. Friedrich Trautwein allerdings, der unbeirrt Lautsprechertürme für Freilichtveranstaltungen entwarf, hatte die theoretische Rechtfertigung für eine künftige Verwandlung des Trautoniums ins Teutonium schon unternommen: Die Technik ist kein Dämon, sondern auch sie wird getragen von verantwortungsbewussten Volksgenossen, mit denen der Künstler in bester Kameradschaft zusammenarbeiten kann und soll für das neue Deutschland.
Weiterführendes
Peter Donhauser: Elektrische Klangmaschinen. Die Pionierzeit in Deutschland und Österreich, Wien 2007
Oskar Sala: Live-Konzert 1991 in der Stadthalle Osnabrück
Paul Hindemith: Des kleinen Elektromusikers Lieblinge