»Die Lakaien der herrschenden gesellschaftlichen Tendenzen sind auch die Papageien des herrschenden Sprachgebrauchs – und umgekehrt.« (Dolf Sternberger)
Der Autor Robert Menasse, der Journalist Claas Relotius und die Bloggerin Marie Sophie Hingst (siehe Versorgerin #123) rissen für die gute Sache die Grenze zwischen Dichtung und Wirklichkeit ein. Sogar Preise ließen sich damit gewinnen, kunstvoll erfundene Narrative als Tatsachen zu verkaufen. Damit sind sie zu radikalen Vertretern einer Ästhetik postmodernen Politinfotainments geworden, deren Verständnis von Faktizität, inspiriert vom TV-Konzept der Scripted Reality und von Raymond Federmans in die Reportage überführte Poetik der Surfiction, sich mitunter an der Erfindung von Wirklichkeit orientiert. Surfiction thematisiert eine durch Fiktionalisierungsstrategien hergestellte Meta-Fiktion. Fiktionen gewinnen eine wirklichkeitsgestaltende Kraft.
Mit den Enthüllungen ihrer unausgewiesenen Realfiktionen sorgten sie ungewollt dafür, das Misstrauen in die Mediendemokratie weiter zu schüren. Dies unterscheidet sie von früheren professionellen Borderline-Journalisten wie Michael Born oder Tom Kummer – namhaften Vertreter eines pseudorealistischen Schreibens –, da sich deren Fälschungen kaum als Beweis für ein politisch gesteuertes Meinungsklima ausschlachten ließen. Zudem führen die jüngsten Vorfälle vor Augen, dass es vor allem darauf ankommt, politische Sachverhalte den Konsumgewohnheiten und weltanschaulichen Einstellungen gemäß aufzubereiten.
Das kreative Verhältnis obiger Autoren zur Wirklichkeit ist wohl auch deshalb lange nicht als solches erkannt worden, da engagierte Instant-Literatur in einer kulturrevolutionären Zeit auf ein enormes Interesse stößt. Kennzeichnend für die allgemeine Aufbereitung von Informationen ist ein gesteigerter Hang zur Alarmierung, Emotionalisierung, Fiktionalisierung, Personalisierung, Skandalisierung und Übervereinfachung von Inhalten. Indessen herrscht ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass Wirklichkeit eine Frage lenkbarer Wahrnehmung ist.
Postpanoptische Sprachregulierung
Virulent ist der Umbau von Sprache in Gebrauch und Funktion, was sich insbesondere in der neuen Politisierung der Sprache widerspiegelt. Das hängt weniger mit den sich aneinander verhärtenden Polarisierungen zusammen – die symptomatisch, nicht aber ursächlich dafür sind –, als vielmehr damit, dass nach Kenan Malik (Philosoph und Publizist) an eine plurale Gesellschaft paradoxerweise Vorstellungen einer Begrenzung der Redefreiheit und Verengung der Meinungsvielfalt geknüpft sind.
Wer durch Anwendung selektiver Informationsfilter sowie über die Auslegung politischer Begriffe in der Massenmediendemokratie entscheidet, bestimmt – anknüpfend an die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann – das Meinungsklima maßgeblich. Die Ausdrucksformen eines fortschrittlichen Weltbilds manifestieren sich derzeit in einer eingehegten, politisch überformten Sprache, die im permanenten Ausnahmezustand des Medienbetriebs auf Kosten einigermaßen distanzierter Berichterstattung geht (siehe Michael Hallers Studie Die ‚Flüchtlingskrise‘ in den Medien).
Passagen aus dem von der Europäischen Kommission hrsg. Handbuch zur Integration für Entscheidungsträger und Praktiker wirken vor diesem Hintergrund wie eine Anleitung zur Überwachung öffentlicher Sprache: »Der demografische Wandel in den europäischen Gesellschaften wird dazu führen, dass junge Zuwanderer einen großen Teil der zukünftigen berufstätigen Bevölkerung stellen werden. [...] Ethnische Medienorganisationen können die Integration fördern und gleichzeitig die ethnische und kulturelle Identität bewahren. Dieser doppelte Ansatz hilft dabei, Möglichkeiten für einen alternativen Diskurs mit den etablierten Medien zu eröffnen, gleichzeitig bildet er eine Brücke zum Ursprungsland und zur Ursprungskultur. Ethnische Medien können für problematische Sichtweisen der Allgemeinheit eine wichtige Rolle spielen. Sie geben Zuwanderergruppen eine Stimme, bieten ihnen die Möglichkeit zu angemessener Darstellung, treten mit der Aufnahmegesellschaft in einen Dialog und bringen Missstände zur Sprache. [...] Damit Diversitätsstrategien erfolgreich sind, müssen Medienorganisationen Mechanismen zur Implementierung konzipieren und deren Erfolg überprüfen. [...] Verhaltensregeln sollten darum auch versuchen, die Verwendung falscher [...] Ausdrücke wie ‚illegale Asylbewerber‘ zu vermeiden. [...] Beschwerdegremien und Bürgerbeauftragte für Medien können bei der Selbstregulierung der Branche eine konstruktive Rolle spielen und auf folgende Weise die ethischen Standards verstärken sowie die Integration unterstützen [...]. Die Leistung kann von unabhängigen Beobachtungsstellen, durchsetzungsfähigen Presseräten und anderen Integrationsakteuren überwacht werden.«
Die Suggestionskraft von Sprache ist (in Form sprachmächtiger Exorzismen, Beschwörungen und Achtsamkeitsregeln) im spröder werdenden Alltag verhaltenstherapeutischer Selbstermächtigung längst zum Spektakel geworden. Sprachsensibilität ist als konstitutiver Bestandteil der öffentlichen Wirklichkeit tief in das private Empfinden eingedrungen. Da stören kritische Töne wie die von Ali Ertan Toprak, dem Präsidenten der Migrantenorganisation BAGIV, dessen Positionspapier beim 10. Integrationsgipfel 2018 nicht für das Plenum zugelassen wurde. Inhaltlich wich er zu sehr von den zur Reklame aufgeblasenen Narrativen ab: Er lehnt die den (Post-) Migranten zugewiesene Opferrolle ab und bezweifelt, dass gelingendes Zusammenleben ausschließlich von den Einstellungen einer als zutiefst rassistisch ausgewiesenen Aufnahmegesellschaft abhängig sei.
Exemplarisch ist auch die Zurechtweisung des Autors Michael Kleeberg im Rahmen der Frankfurter Poetik-Dozentur 2017. Die Geschäftsführerin Susanne Komfort-Hein sah sich veranlasst, den Dozenten für dessen islamkritische Aussagen zu maßregeln, indem sie ihn mit der »unbedingte[n] Sensibilität für unsere Sprachregelungen« und der »kritische[n] Analyse demokratiefeindlicher Rhetorik« konfrontierte. Im hermeneutischen Netz postpanoptischer Sprachbeaufsichtigung ist Islamkritik eng mit Vorstellungen von Rassismus und rechter Hetze verknüpft, so der Intellektuelle Kacem El Ghazzali. Davon weiß auch die Illustratorin Bianca Tschaikner ein Lied zu singen, wurde sie doch aufgrund der verwendeten Bildsprache ihrer Darstellung der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht 2015 auf dem Falter-Cover zur Rassistin erklärt und die Wiener Wochenzeitung offiziell vom Presserat gerügt.
Produktion von Bewusstsein
Weiterhin lässt sich in der veröffentlichten Meinung neben den Thematisierungs- und Themenstrukturierungseffekten ein Aufweichen der Faktenstruktur beobachten. Über welche Ereignisse qualitativ und quantitativ berichtet wird, ist konstitutiv für die Herstellung von Bewusstsein. Die Vermittlung informativer Fakten verschwindet dabei beinahe gänzlich hinter der Ausdeutung ihrer Zeichen. Der Dramatiker Peter Hacks spitzt das drastisch zu: »Ein Land, das Medien hat, braucht keine Zensur mehr.«
Die Avantgarde ambiguitätsintoleranter Akademiker zeichnet sich durch die Benutzung wissenschaftsförmiger Wortschablonen wie ‚Allianzen‘, ‚Assemblage‘, ‚DWEM‘, ‚Homonationalismus‘, ‚Intersektionalität‘‚ ‚Phallogozentrismus‘, ‚Rhizom‘ oder ‚Sprechort‘ aus. Sie verleihen dem Sprechenden eine Aura des Besonderen, geben die Begriffe doch vor, in sich etwas unfassbar Relevantes zu enthalten. Der progressive Sprachgestus gibt sich zwar betont nonkonformistisch, erstarrt bei genauerer Betrachtung aber – wie dessen fremdenfeindliches Pendant – zu einer flachen Semantik konnotativer Stereotypie.
Die monetäre Munitionierung von empowerten Sprachrohren und Gesinnungsgeneratoren für ideologische Arbeit zeigt auf, dass die narrative Verzerrung auf eine strukturelle Angleichung von Antisemitismus und Islamophobie hinausläuft. Elaborierte Schwundformen empirieresistenter Sprech- und Schreibweisen von Islamophobieforschern wie I. Attia, S.-N. Cheema, F. Hafez oder Y. Shooman zielen darauf ab, Bedenken gegen anti-säkulare, antisemitische und patriarchale Ausprägungen dogmatischer islamischer Verbände zu diskreditieren. Shitstorms gegen die Cartoonistin Franziska Becker, die Frauenrechtlerin Naïla Chikhi oder die Ethnologin Susanne Schröter, allesamt des Rassismus bezichtigt, entspringen der Gefolgschaft dieses Milieus.
Wer an den Erfolg sprachsterilisierender Formulierungshilfen glaubt, um die verführbaren Massen vor rechten Rattenfängern zu schützen, wer also meint die Bevölkerung in der Bewusstseinsbildung umfassend betreuen zu müssen, traut der Überzeugungskraft seiner Argumente nicht und unterschätzt das sozialpsychologische Moment der Reaktanz, das sich dadurch auszeichnet, gegen eine als Bevormundung erlebte Sprachpolitik aufzubegehren. Ein mittels rigider Sprachhygiene erzeugter Bewusstseinsfilter, dessen Wirkmacht auch darin besteht, auf eine überwiegend von politischer Urteilskraft befreite Sprachschaumkraft zurückgreifen zu können, geht mit einem stark schematisierten Denken einher, das Verstehen durch Identifizieren ersetzt.
Denn sogar der diskursiven Matrix einer ihres politischen Sinngehalts weitgehend beraubten Semantik wohnt eine bewusstseinsbildende Kraft inne. Die Ausstrahlungskraft der Sprache geht auf Kosten der Bezeichnungskraft. Sprachpolitik ist darauf angelegt, sich in die Akteure öffentlicher Wirklichkeit hinein zu verlängern. Ihre semantische Elastizität ermöglicht es, reale Widersprüche sprach- und medienpolitisch zu irrealisieren oder in einen anderen vorstrukturierten Deutungsrahmen zu lenken.
Eine Steigerung der Wirksamkeit von Sprechblasenslogans – wie Vielfalt und Weltoffenheit als Allheilmittel – lässt sich durch Über-Affirmation und konsequente Wiederholung erzielen. Durch die Produktion von Bewusstsein soll sich die Welt in das Abbild der sprachlichen Vorstellungen von ihr verwandeln. Demnach konstituiere vor allem das sprachliche Bewusstsein die Wirklichkeit. Damit werden aber die der Sprache innewohnenden Möglichkeiten behindert: Die obsessive Konzentration auf die Wirkung von Sprache und der Konformitätsdruck der öffentlichen Meinung blockieren ihr Potential, das Denken an der begrifflich reflektierten Erfahrung auszubilden. Stattdessen bezweckt die Formierung politisch richtiger Sprache, sich von konkreten Widersprüchen in der Wirklichkeit zu emanzipieren und die hegemoniale Diskursherrschaft auszuweiten.
Das Bemühen um Herstellung von Konformität durch den Gebrauch politisch richtiger Diktion schafft Gefühle der Orientierung und Zugehörigkeit. Wer die Machttechniken der Sprachpolitik verinnerlicht, erfährt ihre Anwendung im Sinne Foucaults als stimulierend. Indessen verkümmert Sprache zum strategischen Instrument von Disziplinarmächten, um sie für hierarchische Überwachung nutzbar zu machen. Ihr anti-liberaler Kern besteht darin, einen unerreichbaren kollektiven Konsens schaffen zu wollen, um das Bewusstsein der Vielen derart zu konditionieren, dass abweichende Gedanken möglichst gar nicht erst entstehen.