Millionen Menschen befinden sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auf der Flucht. Die meisten von ihnen harren in den direkten Nachbarländern der Ukraine aus. Tausende überqueren jedoch auch tagtäglich die europäischen Binnengrenzen, um dort Schutz vor Putins Krieg zu suchen, unter anderem in Deutschland und Österreich.
Die ersten Kriegsflüchtlinge hatten die Grenze noch kaum hinter sich gelassen, da wurden bereits die rechtlichen und politischen Voraussetzungen für die Vernutzung ihrer Arbeitskraft geschaffen.
Anders als etwa bei Geflüchteten aus Syrien oder Afghanistan, die ab 2015 monate- und jahrelang auf die Feststellung ihres Asylstatus oder gar eine Arbeitsgenehmigung warten mussten, konnten sich diesmal die europäischen Regierungschefs in Rekordgeschwindigkeit auf eine europaweite Regelung einigen. Sie setzten die mehr als 20 Jahre alte »Massenzustromrichtlinie« in Kraft. Geschaffen wurde die Richtlinie einst unter dem Eindruck des Jugoslawienkriegs, um künftig schneller auf große Fluchtbewegungen reagieren zu können. Sie ermöglicht es, Geflüchtete – jenseits des individuellen Asylverfahrens – kollektiv und europaweit aufzunehmen. Angesichts des russischen Angriffs greift die EU nun erstmals auf diesen Mechanismus zurück.
Auch in Österreich und Deutschland erhalten ukrainische Geflüchtete auf dieser Grundlage nicht nur unkompliziert eine Aufenthaltserlaubnis, sondern auch Zugang zu Sozialleistungen, zum Bildungssystem und eben auch zum Arbeitsmarkt.
Zustimmung findet dieses Vorgehen und insbesondere die Maßnahmen zur schnellen Integration der Ukrainerinnen und Ukrainer in den Arbeitsmarkt sowohl bei Wirtschaftsverbänden, als auch bei Gewerkschaften.
»Unser Ziel ist es, die Hürden am Arbeitsmarkt so weit wie möglich aus dem Weg zu räumen«, so der Präsident der österreichischen Wirtschaftskammer Harald Mahrer. Dem pflichtet Landwirtschafts-kammer-Präsident Josef Moosbrugger bei und wünscht sich einen raschen Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt, »da die Ernte bei einigen Kulturen bereits losgeht«. Händeringend nach Arbeitskräften sucht auch das deutsche Handwerk. »Aus der Ukraine kommen Menschen, die was draufhaben. Und die können wir gut gebrauchen«, heißt es deshalb von Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Auch ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian stellt sich ausdrücklich hinter die Maßnahmen der Regierenden. »Wir begrüßen, dass diese gewaltsam aus ihrer Heimat Vertriebenen temporär den vollen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten«, so Katzian.
Die deutschen Gewerkschaften rufen in einer gemeinsamen Stellungnahme mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) dazu auf, möglichst schnell weitere Schritte zu ergreifen, um den Angekommenen den Weg in die Arbeitswelt zu erleichtern. »Die Unternehmen, Betriebs- und Personalräte stehen bereit, ihren Anteil zu tragen, diese Menschen aufzunehmen, aus- und fortzubilden und in den Arbeitsmarkt zu integrieren», heißt es zudem in der Erklärung der Sozialpartner.
Neben der generellen Unterstützung des Regierungskurses gibt es aus den Gewerkschaften jedoch auch mahnende Worte.
»Während der zurückliegenden Flüchtlingswellen hat sich gezeigt, dass Geflüchtete häufig in prekäre Arbeitsverhältnisse abgedrängt worden sind – zumeist wegen der Sprachbarriere oder auch wegen fehlender Qualifikationen und dergleichen«, beklagt etwa der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Werneke, gegenüber der Funke-Mediengruppe. Gerade in der von der deutschen Bundesregierung zuletzt beschlossenen Anhebung der Verdienstgrenze bei Minijobs sieht Werneke ein großes Risiko. Die prekären Beschäftigungsverhältnisse würden so massiv ausgeweitet – mit allen Nachteilen für die Betroffenen. »Das werden häufig auch Geflüchtete sein«, so der Gewerkschafter.
Eine Befürchtung, die auch der ÖGB teilt. »Wir haben leider Erfahrungen, wie mancherorts mit Menschen umgegangen wird, die auf Grund ihrer persönlichen Situation bereit sind, beinahe alles zu tun, um Geld zu verdienen. Daher bedarf es eines besonderen Schutzes für die Betroffenen, entsprechender Kontrollen und scharfer Sanktionen für Betriebe, die glauben, das ausnützen zu müssen«, fordert Katzian und gibt sich kämpferisch. »Wer glaubt, mit dem Schicksal von vertriebenen Menschen Lohn- und Sozialdumping zu betreiben [sic!], bekommt es mit uns zu tun.«
Die gewerkschaftliche Sorge, dass Unternehmen die Not der Kriegs-flüchtlinge ausnutzen, um billige Arbeitskräfte zu rekrutieren, sind mehr als berechtigt. Schon heute arbeiten Ukrainerinnen und Ukrainer in Österreich überproportional häufig in niedrigqualifizierten und schlecht bezahlten Bereichen, zum Beispiel in der Gastronomie oder als Erntehelfer. Der Beschäftigtenskandal beim Maskenhersteller Hygiene Austria oder die im Zuge der Corona-Pandemie öffentlich thematisierten Arbeitsbedingungen von Paketzustellern bei Amazon in Wien zeigen die Mechanismen von Lohnraub und Umgehung gesetzlicher Regelungen bei der systematischen Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich sind die Geflüchteten zudem auf die Grundsicherung angewiesen. Diese Kombination von niedrigen staatlichen Leistungen bei gleichzeitigem unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt steigert den Druck, jede verfügbare Arbeit anzunehmen.
Wenig überraschend sind es daher vor allem Branchen, die aufgrund der dort vorherrschenden prekären Arbeits- und Lohnbedingungen seit langem über einen Mangel an Arbeitskräften klagen, in denen die Anwerbung ukrainischer Neuankömmlinge diesseits und jenseits der Alpen auf Hochtouren läuft. Salzburger Gastronomen schalten Stellen-anzeigen auf Ukrainisch und bieten neben einem Arbeitsplatz auch gleich eine Unterkunft an, ein privater Pflegeheimkonzern sucht unter den Geflohenen nach 2000 neuen Beschäftigten, eine Friseurkette in Berlin wirbt damit, neue Mitarbeiter zusätzlich bei Sprachproblemen zu unterstützen und die Vorarlberger Tourismusbranche bietet ukrainischen Geflüchteten Einstiegskurse an, in denen »die Grundlagen für Hilfsjobs in der Küche, im Service und beim Zimmer Reinigen gelehrt werden«. Immer öfter weisen ehrenamtliche Helfer auch auf die Gefahr zwielichtiger Arbeitsangebote direkt an Bahnhöfen und Notunterkünften hin.
Vielerorts berichten Lokalzeitungen gerade zu euphorisch über die neuen Arbeitskräfte für regionale Unternehmen. Zum Beispiel in der Kreisstadt Lahr im Schwarzwald. »Für uns sind die Flüchtlinge aus der Ukraine eine große Chance«, diktiert etwa Jonas Kenk, Betreiber eines Pflege-Zentrums in der Region, der Lahrer Zeitung. Bei ihm wären bereits erste Geflüchtete im Einsatz. Er gibt zudem Einblick in die Rekrutierungsmethoden der Unternehmen. Man sei schon früh mit Flüchtlingen in Kontakt getreten, denn im familieneigenen Landhotel habe man 25 Ukrainer aufgenommen. Mit der Auswahl des Arbeitskräftematerials ist Kenk trotzdem nicht ganz zufrieden: »Den Wunschtyp der ledigen Krankenschwester findet man selten«, so der wählerische Unternehmer.
Eigentlich wären die Voraussetzungen für ukrainische Arbeits-kräfte, auch in qualifizierten Tätigkeiten Fuß zu fassen, gut.
So weist Olga Pindyuk vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche auf das höhere Bildungsniveau in der Ukraine und die hohen beruflichen Qualifikationen hin, die viele Geflüchtete mitbringen. »Ich gehe davon aus, dass eher Frauen im erwerbsfähigen Alter auf der Flucht sind, die höher gebildet sind, Fremdsprachen sprechen und sich auch schneller zur Flucht entschieden haben«, so Pindyuk. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) geht nach vorläufigen Schätzungen davon aus, dass etwa die Hälfte der in Deutschland angekommenen Geflüchteten über einen Hochschulabschluss verfügen und weitere 25 Prozent über einen höheren Schulabschluss, was in etwa dem Durchschnitt in der Ukraine entspricht.
Zudem ist auch in der Ukraine der Anteil des Dienstleistungs-sektors am Arbeitsmarkt hoch. Viele der Ankommenden verfügen deshalb über eine gefragte Berufsqualifizierung in Bereichen, die seit Jahren einen Mangel an Fachkräften beklagen. IAB-Forscher Herbert Brücker spricht von einem »breiten Spektrum, von Erziehungs- und sozialen Berufen über technische Jobs bis zu kaufmännischen«.
Dennoch dürften die meisten ukrainischen Geflüchteten zunächst in Helfertätigkeiten im Niedriglohnsektor und in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wie der Leiharbeit, Werkverträgen und Minijobs landen. Die Gründe dafür sind neben mangelnden Sprachkenntnissen, dass viele Ukrainerinnen aus hochqualifizierten Berufen stammen, die stark reglementiert sind – wie Lehrerin oder Erzieherin – und sich für die Anerkennung ihrer Abschlüsse erst weiterbilden oder komplett neu ausbilden lassen müssen. Viele Betroffene »werden deshalb unter ihrer Qualifikation arbeiten«, prognostiziert Herbert Brücker.
Eine Einschätzung, die auch Arbeitsrechtsanwalt Martin Bechert im Interview mit der deutschen Tageszeitung Die Welt teilt: »Viele Unternehmer sehen die ukrainischen Flüchtlinge einfach als billige Arbeitskräfte. Meine Befürchtung ist, dass ihre Notsituation ausgenutzt wird und viele Firmen die Ukrainer nicht etwa als qualifizierte Arbeitnehmer beschäftigten, sondern sie vergleichsweise weniger Geld bekommen und unter Wert arbeiten müssen.«
Tatsächlich sind bereits jetzt beispielsweise Frauen, die in der Ukraine als Ärztinnen tätig waren, als Pflegehelferinnen in Altenheimen im Einsatz. Gerade in der Pflege ist die Ausbeutung ukrainischer Arbeitskräfte bereits lange Realität und dürfte sich durch Krieg und Flucht weiter verschärfen. Seit Jahren spielen Pflegehelferinnen aus der Ukraine eine tragende Rolle insbesondere in der häuslichen Pflege. Als sogenannte »Live Ins« in der 24-Stunden-Pflege betreuen sie ihre Patientinnen beinahe rund um die Uhr unter katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen. Angeworben werden sie meist von speziellen Agenturen mit Sitz in Polen. Von diesen werden sie auf Basis der EU-Entsenderichtlinie in westeuropäische Privathaushalte vermittelt. Ausbeutung, weitgehende Entrechtung, Arbeitszeit- und Lohnbetrug sind die Grundlagen des Geschäftsmodells der Agenturen. Während den Angehörigen mehrere tausend Euro in Rechnung gestellt werden, die in die Taschen der Agenturen fließen, werden die Betroffenen mit Hungerlöhnen abgespeist.
Nachdem es aufgrund der prekären Bedingungen den Agenturen zuletzt immer schwerer fiel, Arbeitskräfte anzuwerben, haben sie nun ein neues lukratives Geschäftsmodell für sich entdeckt: Die Vermittlung ukrainischer Kriegsflüchtlinge in die häusliche Pflege.