Das Denken hat verschiedene Geschwindigkeiten. Alltägliche, schnelle, abhandelnde, mäandernde, zermürbende, schlafraubende, stupide und funktionale, aber manchmal auch eine – etwa auf langen Autofahrten – in der das Denken Schleifen schlägt, sich mit Erinnerungen, Unbekanntem und Landschaft zu etwas Gemächlichem und gleichsam Produktiven addiert. Eine von zahlreichen Formen der »Radiokunst« kann Teil dieses Zustandes werden, meist spät in der Nacht und unerwartet, wenn Sender ihr massenmedial angepasstes Programm zurückstellen können. Doch auch initialisiert und an anderen Orten als dem Auto schreibt sich das Hören von Etwas, von Radio, beinahe immer als koexistente Erinnerung mit dem Sehen, Fühlen oder dem Raum ein. Die Rezeption von Radiokunst lässt sich in dieser Hinsicht als extrem individuell, vermutlich sogar einzigartig beschreiben und bildet so auch ein grundsätzlich ambivalentes Verhältnis von Senden und Empfangen ab. In dieser Hinsicht entstanden bereits kurz nach der Einführung des Radiofunks in den 1920er-Jahren erste experimentelle Formate, die das Medium über seine Funktion als Übermittler von Informationen hinaus untersuchten. Als Gegenentwurf einer elitären und den Oberschichten vorbehaltenen Betrachtung von Kunst schreibt die Moderne den Rezipierenden dabei eine signifikante Rolle zu und etliche künstlerische Konzepte erklären eine Aktivierung der Autorschaft zum Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung.
Bertold Brechts 1929 ausgestrahltes Radioexperiment »Der Flug der Lindberghs« konstruierte, anlässlich Charles Lindberghs erster alleiniger Überquerung des Atlantiks per Flugzeug, so beispielsweise aus verschiedenen Perspektiven und mit wechselnden Stimmen einen fiktiven Erlebnisbericht. Dieser überführte das mediale Großereignis mittels Radioübertragung in den privaten Raum und erlaubte allen Mithörenden, selbst die Perspektive des Piloten einzunehmen. In ausführlichen Beschreibungen der Natur kam der Autorschaft dabei nicht nur eine aktive und nachfühlende Rolle zu, es wurde auf einer Metaebene gleichzeitig auch an einen technischen und wirtschaftlichen Aufschwung adressiert. Das Radio wurde so nicht nur zum Überbringer von Ereignissen, sondern auch von kritischen und künstlerischen Perspektiven. Zu den Wegbereitern der Radiokunst und einer expliziten Untersuchung des Mediums gehören Ende der 1920er Jahre auch Marcel Duchamp, Luigi Russolo oder Filippo Tommaso Marinetti. Und in den folgenden Jahrzehnten gelingt es Orson Wells oder auch Antonin Artaud das Hörspiel als experimentell künstlerisches Format zu etablieren und einem größeren Publikum zugänglich zu machen. In den 1950er-Jahren setzten Fluxus-Künstler wie John Cage das Radio als musikalisches Gerät ein und experimentieren mit Aspekten von Schallwellen und Klangkörper.
Ab den 1960er-Jahren bildet sich Radiokunst im europäischen Raum und insbesondere in Deutschland und Österreich als intermediale Kunstform heraus. Künstlerinnen und Künstler beziehen sich dabei sehr unterschiedlich auf seine technische, mediale sowie symbolische Vielfalt. Untersucht und genutzt wird sowohl das Medium an sich, seine soziale und politische Funktion als Massenmedium, wie auch sein Potenzial als Sender von elektromagnetischen Wellen: Konzepte, die explizit für das Radio entwickelt werden, reflektieren meist auf das Medium im eigentlichen Sinne und gebrauchen Sprache und Musik abseits herkömmlicher Narrationen, während bei (länder-)übergreifenden Radiokunstprojekten die Vernetzung und der Austausch im Vordergrund stehen, und Sendungen häufig an Festivals und Ausstellungen gekoppelt sind. »Expanded Radio« und Sound Art als Formen der Radiokunst kritisieren dagegen vielfach das Radio als Massenmedium und entwickeln alternative Kommunikationsmodelle, die beispielsweise auf additiven und akustischen Aspekten basieren. Aufgrund ihrer vielfach immateriellen oder dematerialisierten und schwer zugänglichen Form, gab es bis in die 1960er-Jahre kaum Möglichkeiten der Erforschung, Dokumentation oder Archivierung von Radiokunst. Erst auf eine Initiative der Weserburg in Bremen hin wurde eine großangelegte Sammlung und Mediathek aufgebaut, die es ermöglichen soll, Radiokunst in ihrem gesamten Kontext, in ihrer Geschichte und Entwicklung darzustellen und zu dokumentieren.
Mit digitalen Entwicklungen wie dem Internet und Internetradio hat sich in den vergangenen Jahren auch zunehmend die Wahrnehmung von Radio und Radiokunst verändert. Stand zuvor vielfach der Gedanke einer Echtzeitübertragung und einhergehenden Authentizität im Vordergrund, stellen sich gegenwärtige Formate wie Podcast und Streaming-Plattformen bereits vielmehr als Dokumentationen dar und negieren einen Live-Charakter aus sich selbst heraus. Dennoch anhaftet dem Medium auch in digitalisierter und auf großen Servern gesicherter Form nach wie vor das Fluide und schwer Greifbare und weckt bei Rezipierenden nach wie vor den Wunsch nach Mitschnitten und eigenen Versionen. Im Zuge der weltweiten Corona-Pandemie ließ sich zudem eine Art Wiederentdeckung des Radios und dem Hören von Inhalten bemerken; etwa entwickelte die Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson eine Sendereihe, die es ihr im Austausch mit verschiedenen Leuten sowie auch als Gegenentwurf zu Sozialen Medien erlaubte, über vielfältige Themen zu reflektieren und einem kurzweiligen Sehen, etwa in den Sozialen Netzwerken, das Hören als entschleunigte und kontemplativere Kommunikationsform entgegenzusetzten. Bereits 2017 konzipierte der Sound Artist und DJ Nicoals Jaar mit »The Network« ein Netz aus 111 fiktiven Radiostationen und experimentierte dabei auch mit Netzkunst und Anleihen des Secondlife. Als Rahmen seiner parallel veröffentlichen Alben war die Hörerfahrung, nach dem Vorbild alltäglichen Radiohörens, von Zufallsoptionen bestimmt und reflektierte damit auch auf eine Codierung und De-Codierung tradierter Seh- und Hörgewohnheiten.
Weit über solche temporären Konzepte hinaus untersucht die 1987 von Heidi Grundmann und gegenwärtig von Elisabeth Zimmermann konzipierte Sendereihe »Kunstradio – Radiokunst« im österreichischen Radio die unterschiedlichen Ausprägungen des Mediums und wird zum Gegenstand künstlerischer Reflexion und Kommunikationsraum. Neben einer wöchentlichen Sendung, die überwiegend eigens für das Kunstradio konzipierte Arbeiten sendet, ist das Format gleichzeitig Plattform zahlreicher Symposien und Ausstellungskonzepte geworden, die das Medium Radio unter verschiedenen medienpolitischen, technologischen, sozialen und ökonomischen Kontexten auf sein utopisches wie gleichsam dystopisches Potenzial hin untersuchen. Das fünftägige Zusammentreffen internationaler Radiokünstlerinnen und -künstler unter dem Titel »Radiotopia« auf der MS Stubnitz stellt sich in einen ähnlichen Kontext und unternimmt den Versuch, Raum mit elektromagnetischen Wellen zu besetzten. In Anleihen Joseph Beuys »Sozialer Plastik« soll der physikalische Raum dabei unter Mitwirkung sämtlicher Akteure und akustischer wie visueller Aspekte zum Gesamtkunstwerk werden. Die MS Stubnitz als etablierter Ort von Radio- und Medienkunst wird dabei sowohl als Kunstraum verstanden wie auch als kultureller und akustischer Raum. Als ehemaliges Frachtschiff der DDR wurde die Stubnitz mit der Wende als utopisches und autonomes Projekt gegründet. »Radiotopia« betont nun diesen autonomen Kunstraum sowie die Idee einer fluiden Form von Kunstproduktion und Rezeption. Und mit einer Reihe von experimentellen Ansätzen für das Breitband-Radiospek-trum wirft Radiotopia auch einen kritischen Blick auf digitale Netzwerke.
Das Schiff als maritime Gemeinschaft symbolisiert korrelierend ein autonomes und in sich geschlossenes Konzept, das beispielsweise auch im Kontext sogenannter Floating Cities gelesen werden kann: Als futuristische Idee wird die Errichtung von Eigentum vom Land auf das Wasser übertragen und mit Hilfe von Flößen und schwimmenden Plattformen als flexibles und dynamisches Konstrukt verstanden. Das im Sinne einer kulturellen Ausrichtung mit der Stubnitz verschwesterte Schiff Eleonore in Linz hat in der Vergangenheit bereits mit solchen Ideen experimentiert und mit »Floating Exposition« beispielsweise neue, schwimmende Ausstellungsflächen im öffentlichen Raum geschaffen. Zu Beginn ihrer Nutzung als Kulturschiff bewegte sich auch die Stubnitz für Veranstaltungen programmatisch im europäischen Raum, um einer Musik- und Kulturszene im Hinblick auf ihre lokale Originität zu begegnen und temporär an Impulsen teilzunehmen.
In dieser Hinsicht reflektiert Radiokunst und speziell die Veranstaltung »Radiotopia«, als Gemeinschaftsprojekt von der MS Stubnitz sowie dem Messschiff Eleonore getragen und organisiert, auf prozesshafte und kollektive wie gleichsam soziale und politische Aspekte. Radio als Sinnbild für ein divergierendes Verhältnis zwischen Kultur und Massenmedium wird dabei in einem nichtkommerziellen Kontext verstanden sowie insbesondere auch im Hinblick auf sein utopisches Potenzial auf Bewegung, Raum und eine umwälzende an der Zukunft orientierten Form des Denkens.