Als 2019 Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt »Systemsprenger« Premiere hatte, war das ein Ausnahmemoment in der nicht nur jüngeren deutschen Kinogeschichte. Der Film erzählt vom Leben der neunjährigen Bernadette (gespielt von Helena Zengel), die von allen Benni genannt wird und die ihre Mutter Bianca, gelegentlich assistiert durch deren strengen, gegen Benni eingestellten Lebensgefährten Jens, allein erzieht. Ohne moralische Wertung und mit schockierender Drastik zeigt Fingscheidt Bennis Erziehungsweg von einer Anstalt für Schwererziehbare in die nächste. Die Pädagogen sind gegenüber Bennis Wutanfällen und ihren fremd- wie selbstgefährdenden Aggressionen nicht weniger hilflos als die Mutter. Als der junge Pfleger Micha, zu dem Benni eine gute Beziehung aufgebaut zu haben scheint, sie im Rahmen eines Anti-Aggressions-Trainings mit Billigung der Erziehungseinrichtung mitnimmt, um mit ihr ein paar Tage in einer Hütte im Wald zu verbringen, ist dies sowohl der Durchbruch in Michas emotionaler Kontaktaufnahme mit Benni wie der Zusammenbruch der pädagogischen Distanz und habituellen Professionalität, die diesen Durchbruch ermöglichten. Das Kind versteht intuitiv, dass ihm die Beziehung zu dem Pfleger, gerade weil sie eine beruflich vermittelte außerhalb des privaten Alltags ist, Gefühle und Erfahrungen verspricht, die durch den beruflichen Charakter der Beziehung zugleich verstellt werden. Der Pfleger erkennt, dass die beruflichen Routinen, die ihm bei seiner Arbeit helfen, sich gegen die Welt zu schützen, der seine Zöglinge ausgeliefert sind, zugleich das Wichtigste verhindern, das er in seiner Arbeit zu tun vermöchte. Statt zu enden, bricht der Film mit der Herausarbeitung dieses Dilemmas ab und lässt das Publikum mit dem Schock der vergangenen zwei Stunden so allein, wie seine Figuren es mit ihrem Leben sind.
»Systemsprenger« ist singulär im deutschen Kino, weil er antipädagogisch ist, ohne die Pädagogik zu denunzieren, sachlich und gerade deshalb parteilich, und amoralisch aufgrund der ihm eigenen moralischen Konsequenz. Obwohl Benni einen Jungennamen trägt und ihr unmädchenhaftes Verhalten Teil ihrer psychischen Auffälligkeit ist, ist der Film um Lichtjahre entfernt von bieder-oberlehrerhaften Diskursen über gendergerechte Erziehung. Obwohl er psychosoziale Modephänomene der Gegenwart (ADHS, Patchwork-Familien) aufgreift, tut er dies nicht im Rahmen einer politisch-ästhetischen Abituraufgabe, sondern konfrontiert sich ihnen wie zum ersten Mal. Indem er die Hohlheit und Unbrauchbarkeit pädagogischer Menschenbehandlungsprogramme vorführt, nimmt er die Pädagogik ernst; indem er Labilität und Brutalität des verkümmerten Familienalltags seiner Protagonistin zeigt, nimmt er die Institution der Familie ernst; und indem er die Verhaltensstörung seiner Figur als destruktive Erscheinungsform von deren Ansprechbar-keit darstellt, nimmt er ihre Krankheit ernst, statt menschelnd über sie hinwegzureden. »Systemsprenger«, in der pädagogischen Praxis ein Wort für Kinder, die jeden Sozialverband, dem sie zugeordnet werden, zerstören, wird auf diese Weise zur ästhetischen Formkategorie: Fingscheidts Film sprengt das System der pädagogischen Wahrnehmung und schließt Erfahrungen auf, die in der Erziehung, die sie zum Gegenstand macht, verhindert werden.
Kaum ein halbes Jahr nach der Premiere von »Systemsprenger« begann angesichts der Covid-19-Pandemie unter dem Vorzeichen des Hygiene-schutzes nicht nur in Deutschland, dort aber besonders rigide und planlos, eine Politik permanenter Kinderbeaufsichtigung, -trennung und -isolierung, die inzwischen zwar unterbrochen, aber noch lange nicht beendet ist und die besonders für »Systemsprenger« eine Lebenskatas-trophe bedeutete. Indem die Corona-Maßnahmenpolitik in Schulen und Erziehungseinrichtungen die Suspendierung der (räumlichen wie sachlichen) Trennung zwischen Elternhaus und pädagogischer Einrichtung, zwischen Erziehungs- und Privatsphäre, als gesundheitspolitische Notmaßnahme zur Regel erklärte, zerstörte sie, ohne es zu beabsichtigen, die materiellen und psychosozialen Bedingungen, die eine erfolgreiche Vermittlung der in Erziehungseinrichtungen und Schulen erworbenen Fähigkeiten erst möglich machen. Selbst solche Kinder und Jugendliche, die ansonsten in ihrem Schul- und Erziehungsalltag den gesellschaftlichen Maßgaben entsprechend »normal« funktionierten, erlebten die vergangenen zwei Jahre als Mischung aus emotionaler Lähmung und Erfahrungsschock, wie es sich in der seither sprunghaft angestiegenen Zahl von Suizidversuchen Minderjähriger und in überfüllten Jugendpsychiatrien niedergeschlagen hat. Kinder wie Benni, deren Alltag unter aktiver Mithilfe ihrer selbst ohnehin schwer erträglich gewesen ist, wurden seitdem endgültig abgehängt.
»Attachment parenting« avant la lettre: Navajo-Säugling im Wiegenbrett (1936) (Bild: Public Domain)
Erziehung, zumindest das müsste seit dieser Brucherfahrung Konsens unter aufgeklärten Menschen sein, verwirklicht sich in gelebten Sozial-beziehungen und kann durch »digitale Kommunikation«, die in Wahrheit Nicht-Kommunikation ist, weil sie die Trennung und Isolierung der Kommunikationspartner voraussetzt, nicht kompensiert werden. Erziehung erschöpft sich nicht im gelungenen Transfer irgendeines Curriculums, sondern meint die Herstellung von Lebensbedingungen, die über die Erziehungs- und Bildungsinhalte notwendig hinausweisen. Solchen Einsichten hat sich die Kinderpädagogik nur in einer vergleichsweise kurzen Phase, zwischen den 1970er und 1990er Jahren, geöffnet. Im Zuge einer empirischen Wende, die ausgehend von der psychoanalytischen Kleinkindbeobachtung, wie sie im Werk des Melanie-Klein-Schülers Donald W. Winnicott vorlag, den psychoanalytischen Begriff frühkindlicher Entwicklung mit deren pädagogisch-praktischer Beobachtung konfrontierte, entstand seit den 1970ern eine »kompetenzorientierte« Kleinkindforschung, die unter den Begriff der Kompetenz anderes fasste als die Fähigkeit zum Erwerb sozialkonformer Verhaltensweisen. Diese Richtung, für die in Deutschland vor allem Martin Dornes‘ erstmals 1993 erschienene Studie »Der kompetente Säugling« steht, war Erbe von antipädagogischen und antipsychiatrischen Tendenzen der Nach-Achtundsechziger-Zeit, die aufgegriffen und zugleich umgewendet wurden.
Die Wiederentdeckung der Schriften Melanie Kleins seit den 1960er Jahren vollzog sich in der pädagogischen Praxis unter anderen Vorzeichen als in der pädagogischen Theorie. Theoriegeschichtlich bedeutete sie den Versuch, die als bürgerlich-autoritär abgelehnte psychoanalytische Orthodoxie Freuds im Namen des entwicklungsgeschichtlichen Rückgriffs von der ödipalen auf die präödipale Phase zu exorzieren und die freudsche Intention auf Stärkung des Ich und Erhellung des Unbewussten zurückzunehmen. Insbesondere der »Anti-Ödipus« von Gilles Deleuze und Félix Guattari, der 1972 solche antifreudianischen Impulse in Psychiatrie und Pädagogik zusammenfasste, und die Schriften der französischen und angloamerikanischen Antipsychiater (neben Guattari und Michel Foucault Richard D. Laing und David Cooper) rekurrierten auf Melanie Klein entgegen deren eigenem freudianischen Selbstverständnis zum Zweck einer anti-freudianischen Psychoanalyse politischer »Selbstbefreiung« der vermeintlich vom Primat des Realitäts-prinzips und des Ich geknechteten Subjekte, deren vorbewusste Trieb-energien revolutionär zu entfesseln seien. Kleins Forschungsbefunde über den Einfluss frühkindlicher Entwicklung, insbesondere der Mutter-bindung, auf die Subjektgenese und deren Zusammenhang mit dem jeweiligen sozialen Umfeld des Säuglings wurden dabei zugunsten eines anarcho-revolutionären Idealismus übersprungen. Die Resonanz der Antipsychiatrie bis in die späten 1970er hinein hat lange Zeit verdeckt, dass Kleins Schriften in der pädagogischen und kinderpsychologischen Praxis, ebenfalls schon seit den 1960ern, gänzlich anders rezipiert wurden.
Besonders der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott hat seit den 1950er Jahren in Versuchen der Beschreibung des Einflusses von Kinderspielen und geliebten Objekten (Bettzipfeln, Knöpfen, Steinchen etc.), die er als »Übergangobjekte« bezeichnete, dargestellt, wie gerade die imaginäre und nach Begriffen des erwachsenen Rationalis-mus »magische« Aufladung scheinbar nutz- und wertloser Gegenstände durch den Säugling dessen Hinaustreten aus der Symbiose mit der Mutter und die Fähigkeit zur Unterscheidung von Innenwelt und Außenwelt, Phantasie und Realität befördern kann. Winnicott hat präziser als Melanie Klein selbst und frühere Analytiker frühkindlicher Entwicklung wie René A. Spitz und Margaret Mahler herausgearbeitet, in welchem Maße solche Ablösungsprozesse vom sozialen Milieu und den Möglichkeiten abhängen, die es dem Kleinkind zum Alleinsein und zur tätigen Selbstentwicklung gewährt. Die Studien, die Winnicott vor allem in »Übergangsobjekte und Übergangsphänomene« (1953) und »Reifepro-zesse und fördernde Umwelt« (1965) zusammengefasst hat, folgten nicht der Absicht, die präödipale Phase und die mit ihr zusammenhängenden Phantasien und Erfahrungshalte als anarchisch-revolutionäres Potential gegen die freudsche Psychoanalyse auszuspielen, sondern zielten auf eine wechselseitige Korrektur von Theorie und Praxis in der therapeutischen und analytischen Arbeit.
Hieran schloss in den 1990ern Dornes mit seinem Begriff der Kompetenz an, der weniger technokratisch war, als es aufgrund der Inflationierung des Kompetenzbegriffs in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften heute erscheint. Er meinte gerade nicht die beliebige Form- und Ausbildbarkeit des Säuglings, sondern betonte gegenüber immer noch gängigen Vorstellungen vom Kleinkind als einer Art präindividuellem Rohmaterial, das aufgrund seiner Passivität von einer progressiven Erziehung von Beginn an beeinflusst werden müsse, die widerständigen, dem pädagogischen Zugriff immer auch entzogenen Impulse des Säuglings, deren Widerständigkeit Voraussetzung von Lern- und Entwicklungsfähigkeit seien. Gerade in dem, worin sich der Säugling der erzieherischen Menschenbehandlung entzieht, immer schwankend zwischen Unbelehrbarkeit und Bockigkeit auf der einen, Eigenmächtigkeit und einstweilen ziellosem Autonomiewunsch auf der anderen Seite, artikulieren sich Dornes zufolge Gesellschaftsfähigkeit und Lernfreude. Was der Pädagogik präindividuell und archaisch erscheinen mag, indiziert Soziabilität: In diesem Gedanken, der für die Wiederent-deckung Melanie Kleins durch Winnicott und andere Kinderärzte insgesamt wichtig war, bestand der bedeutende Unterschied zur Instrumen-talisierung Kleins durch die Antipsychiatrie. Was Deleuze, Guattari und ihre Adepten als Index befreiend-antigesellschaftlicher Impulse verherrlichten, entfalteten Winnicott und seine Mitstreiter als Möglichkeits-bedingung von Gesellschaftlichkeit.
Damit unterscheidet sich der kinderpsychologische Ansatz, der im deutschsprachigen Raum am prägnantesten von Dornes vertreten wurde, aber auch grundlegend von der »bedürfnisorientierten Kindererziehung«, die im angloamerikanischen Raum »Attachment Parenting« heißt, 2001 von William und Martha Sears in ihrem »Attachment Parenting Book« als erziehungstheoretische wie -praktische Leitlinie für werdende Eltern formuliert wurde und seit der Übersetzung dieses Buches 2012 in Deutschland immer beliebter wird. Adressat der »Attachment«-Pädagogik sind vor allem Eltern des postbürgerlichen grünen Bürgertums, die sich durch die Pädagogik der »Bedürfnisorientierung« in der Illusion gestärkt sehen, dass ihre Kinder im Fühlen, Handeln und Denken vor allem ausgelagerte Teile des eigenen, selber nie zum erwachsenen Ich gelangten Selbst seien. Während bei Dornes ebenso wie Winnicott die Anerkennung der widerstrebenden, gleichsam blind autonomen Impulse im Kleinkind nicht am Ende, sondern am Anfang einer Erziehung und Selbsterziehung zur Mündigkeit steht, die eine Dialektik von reifer Objektbeziehung und Stärkung des Ich anstrebt, setzt »Attachment Parenting« das blinde Geltenlassen der unreflektierten Wünsche des Säuglings als letztes Erziehungsziel: »Auf das Kind zu hören«, »dem Kind zu lauschen« und sich als erwachsener Mensch in seinem Denken, Handeln und körperlichen Ausdruck an die unterstellten Bedürfnisse des Kindes zu adaptieren, soll bereits die gelungene Erziehung ausmachen. Mit den wirklichen Bedürfnissen des Kindes, die sich nicht von selbst verstehen, sondern beantwortet und manchmal auch versagt werden müssen, um überhaupt als Bedürfnisse zu sich selbst zu kommen, hat »Attachment Parenting« anders als Dornes‘ Theorem der Säuglingskompetenz nichts zu tun. Während es bei Winnicott und Dornes darum geht, Antagonismen und Konflikte in der Erziehung als Voraussetzung und Gegenstand der Arbeit ernst zu nehmen, konzipiert »Attachment Parenting« den Säugling von Beginn an als Realisierung der infantilen Wünsche der Eltern und betreibt nichts als die Absegnung dieser Scheinharmonie. Systemsprenger wie Benni wären durch solche »Bedürfnisorientierung« endgültig ihrem Leid und ihrer Schwäche ausgeliefert.