Das Ende imaginieren

Anlässlich von STWST48x10 NOPE sampled die Versorgerin einige Passagen aus 3 Essays der Publikation Semiotics of the End von Alessandro Sbordoni.

Semiotics of the End
On Capitalism and the Apocalypse

Das Ende der Welt ist nur ein weiteres Zeichen des Semiokapitalismus.

Semiotics of the End ist eine Sammlung von dreizehn Essays über das Ende der Welt und seine Darstellung in der Kultur des XXI Jahrhunderts. Die Apokalypse als solche wird nicht stattfinden, weil sie bereits abgeschlossen ist. Heute gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem Ende der Welt und dem Kapitalismus selbst. (...)

Im Gegensatz zu Mark Fishers kapitalistischem Realismus ist Semiotics of the End ein Manifest für die Vorstellung einer anderen Beziehung zum Ende. Wenn es einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, wie Slavoj i‑ek, Fredric Jameson und Mark Fisher es formulieren, dann nur, weil wir uns noch nichts vorgestellt haben. Das Ende ist erst der Anfang.

 

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1 NICHT MIT EINEM KNALL, SONDERN MIT EINEM GÄHNEN

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TRÄUME VOM ENDE

Aus der Langeweile, die den Spätkapitalismus beschreibt, entsteht eine neue Art von Nihilismus. Es ist der Nihilismus, demzufolge das Ende seine Endgültigkeit verloren hat.

In einem Beitrag vom 13. Januar 2007 argumentiert Mark Fisher, dass »wir aufgehört haben, uns das Ende der Welt vorzustellen, so sicher wie wir unsere Fähigkeit verloren haben, uns das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Seltsamerweise scheint das apokalyptische Grauen, das während des Kalten Krieges so allgegenwärtig war, aus dem Unterbewusstsein der Menschen verschwunden zu sein. [...] Wenn es immer schwieriger wird, sich Alternativen zum Kapitalismus vorzustellen, liegt das daran, dass die Welt bereits geendet ist.«

Katastrophenfilme appellieren nicht mehr an Gefühle der Angst oder Zukunftsangst. Stattdessen zielen sie darauf ab, die Langeweile zu vertreiben, was ihnen durch Hyperstimulation gelingt. (...)

Die Träume vom Ende sind vorbei. Und das nicht aus Zynismus, sondern aus tiefer Langeweile: Nichts ist möglich, weil nichts mehr unmöglich ist.

Die Träume vom Ende, die in Katastrophen-»Pornos« erzählt werden, sind das ultimative Simulakrum. Darstellungen ihrer eigenen Nichtigkeit. Der Nihilismus des Endes.

»Die Apokalypse ist vorbei, heute ist es die Präzession des Neutralen, der Formen des Neutralen und der Gleichgültigkeit«, schrieb Jean Baudrillard 1981 in Simulacra und Simulation. Vierzig Jahre nach dem Ende ist es die Apokalypse der Langeweile: der Triumph der Hyperstimulation, der digitalen Rekombination, der reinen Wiederholung ohne Unterschied. Und da der Gedanke an das Ende neutralisiert wurde, vergeht mit ihm auch die Verführung der Bilder. Es ist das Land der Langeweile. Gähnen und Abgrund.

HYPERNOTHINGNESS

Die Lösung für das Paradox der Langeweile ist das Hypernichts: das Nichts, das mehr ist als Schöpfung und Zerstörung, Realität und Simulation. Wenn die Träume vom Ende heute noch von der Realität und der Repräsentation abhängen, ist das Ende im Reich des Hypernichts sowohl möglich als auch unmöglich. (...)

 

2 KAPITALISMUS UND DUNKLE MEDIEN

Der Bildschirm steht für das Design einer Gesellschaft, in der alles transparent ist und nichts mehr materiell ist. An einem Punkt, an dem die Technologie des Screens fast überall ist, kann die Realität selbst nicht anders, als in der absurden Konstruktion von Simulakren zu verschwinden.

(...)

Bildschirmzeit ist der aktuelle Blick auf Ewigkeit. Es gibt kein Ende der Information. Die Reproduktion der Informationen nimmt kein Ende. Je näher das Ende rückt, desto mehr wird noch kommen.

(...)

Das Bild des Displays ist immer zu sehen. Das ist seine Gewalt und Obszönität. Um zu existieren, reproduziert es sich endlos. Es ist nicht mehr möglich, die Augen zu schließen. Es ist immer zu viel Licht.

(...)

Das Ende selbst ist das Zeichen für mehr Reproduktion. Der Bildschirm ist die Unmöglichkeit jeglicher Bezugnahme auf das Reale. Der Bildschirm verdeckt das Ende. Er ist nichts anderes als die Ausbreitung von immer mehr Bildern. Das Phantom der Reproduktion endet nicht, weil es nirgendwo ein Ende gibt. Jacques Derrida schrieb: »Es gibt keinen Text außerhalb des Bildes«. Es gibt auch kein Off-Screen mehr. Es gibt keine Dunkelheit mehr.

Alles wird nun zu einem Bild gemacht, um sich als solches zu reproduzieren. Es wird zur Ware und kann wieder und wieder konsumiert werden.

 

DARK MEDIUM

Nach Eugene Thacker ist das dunkle Medium ein Medium, das so gut funktioniert, dass es zwischen zwei verschiedenen ontologischen Ebenen vermittelt - dem Lebendigen und dem Toten, dem Menschlichen und dem Unmenschlichen, dem Fleischlichen und dem Gespenstischen. Das dunkle Medium vermittelt mit anderen Worten nicht zwischen dem Bild und dem Auge, sondern zwischen dem Auge und den Gespenstern des Imaginären.

Peter Tscherkasskys Kurzfilm Outer Space ist, wie das gesamte Werk des österreichischen Filmemachers, aus vorgefundenem Material anderer Filme zusammengesetzt. In The Entity wird eine junge Frau von einem unsichtbaren und schrecklichen Monster missbraucht. In Peter Tscherkasskys starker Bearbeitung des abendfüllenden Films wird der Konflikt zwischen der Hauptfigur und dem gespenstischen Wesen jedoch in die Hyperviolenz zwischen dem Bild und dem Medium selbst transponiert. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen der Gewalt des Bildes und der Gewalt, die dem Realen angetan wird. Der Film ist eine Explosion, nach der alles, was sich in den Resten des Mediums zeigt, nur noch imaginär ist.

Im Halbdunkel und in gebrochenen, taumelnden Bildern betritt eine junge Frau ein nächtliches Vorstadthaus. Als sich die Tür hinter ihr schließt, beginnen sowohl der physische Raum als auch die Oberfläche der Projektion zu zersplittern, einzustürzen und zu zerbrechen. Räume umschließen und falten sich, das weibliche Subjekt vervielfacht sich und zersplittert auf der Leinwand, und der Film selbst kreischt und reißt, während die Transportrolle und die optische Tonspur gewaltsam in die fiktive Welt eindringen. [...] Die Frau wird von Wand zu Wand geschleudert, ihr Gesicht zersplittert auf der Leinwand, blinkt in geisterhaften Spuren oder explodiert in zahlreiche Richtungen. An einer Stelle löst sie sich auf der Leinwand auf und hinterlässt einen leeren Korridor, dann explodiert sie plötzlich wieder im Bild. Ihre Schreie werden von den Kratzern und Störungen des zerrissenen Films, den Löchern in den Zahnrädern, die sich über die Leinwand ziehen, oder dem mechanischen Ächzen der optischen Tonspur unterbrochen. (Zusammenfassung von Peter Tscherkasskys Outer Space: Auszug von Rhys Graham, veröffentlicht in Sense of Cinema im Februar 2001)

(…) Das Licht hebt die Vermittlung auf, »der Film wird so unmittelbar, dass er die materiellen und formalen Aspekte des Films selbst überholt und aufzehrt und sich zu einer Antimedialität verdichtet, die aufhört, visuell oder akustisch zu kommunizieren«. Das Licht zeigt sich jetzt von seiner grausamsten Seite: Die Leinwand erschafft und entstellt gewaltsam alle Bilder, sogar sich selbst. (…)

Der Bildschirm selbst ist jetzt imaginär. Es ist fast nichts mehr zu sehen. Die junge Frau starrt in die Dunkelheit und die Dunkelheit starrt zurück.

 

3 NACH DEM ENDE ALLER DINGE

In Das Ende aller Dinge argumentiert Immanuel Kant, dass das Ende aller Dinge nicht aus dem Ende der Zeit selbst resultiert, sondern nur aus der Abwesenheit von Veränderung, etwas bleibt für immer dasselbe.

Aus der Sicht der Informationstheorie ist der Informationswert eines solchen Systems gleich Null: Die Gesamtzahl der Systemzustände ist eins. Trotzdem endet die Reproduktion des Systems nicht. Das Ende aller Dinge, wie es der deutsche Philosoph offenbart, ist ohne Ende. Es ist für immer und ewig die Wiederholung des Gleichen. (...)

Die gesamte Energie ist erschöpft; das Veränderungspotenzial geht unendlich gegen Null. (...)

 

DER PARALOGISMUS DES ENDES

Aber warum erwartet der Mensch überhaupt ein Ende der Welt? Nach dem Ende - also bereits im Hier und Jetzt - sind Antwort und Frage nicht mehr dieselbe, sondern: mehr vom selben. Die Frage, die vielmehr nach dem Ende nachhallt, ist von dieser Art: ‚Warum ist es nicht möglich, über die Welt nach dem Ende nachzudenken?‘ Im Gegensatz zum kantischen Ansatz wäre die Antwort nicht nur eine Form der Spekulation, sondern die Potenzialität der Imagination.

Die Potenzialität des Imaginären besteht darin, eine andere Form von Information zu erzeugen und dem System eine andere Art von Logik zurückzugeben. Es ginge darum, dem Null-Wert der Information überhaupt die Sinnhaftigkeit von Nullen zurückzugeben, was bereits die Beziehung zur Zukunft als solche ist.

Und »warum muss es immer ein schreckliches Ende sein [...]?«, fragt wiederum Das Ende aller Dinge. Worauf die Antwort, der kantische Witz, lautet: weil die Gegenwart abscheulich ist. Die Darstellung der Zukunft ist meistens die Kritik an der Gegenwart. Das große Außen, das Jenseits, und sein Schrecken repräsentieren meist die Unmöglichkeit, über das Ende des kapitalistischen Systems und seiner Logik nachzudenken.

Mehr noch, in dieser Realität muss das Nichts noch weitergehen als das System. Null führt zu mehr Nullen, die tatsächliche Imagination liegt hinter den Koordinaten der Matrix zurück. Die Imagination wird gegen die Simulation ausgespielt. Sinn und Bedeutung sind aber mehr als die Funktion der Information.

 

Die anderen Essays:

 

4. MELTDOWN NOW
5. VIOLENCE AGAINST THE IMAGINARY
6. OVERDRIVE AND MEANING: LES RALLIZES DÉNUDÉS
7. DOOM LOOP FOREVER
8. TECHNOLOGIE DEGREE ZERO
9. TO SLEEP, PERCHANCE …
10. WELCOME TO THE VIRTUAL PLAZA
11. THE BACKROOMS
12. THE GHOST IN ARCHITECTURE
13. ANTI-HAUNTOLOGY

 

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Anlässlich von STWST48x10 NOPE wurde ein assoziatives Sampling rund um Begriffe von Simulation und Imagination als Bezugnahmen zu dieser Publikation hergestellt.

Semiotics of the End von Alessandro Sbordoni ist eine Veröffentlichung unter Creative Commons Lizenz. Die Originalveröffentlichung ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution NonCommerical ShareAlike 4.0 Unported (CC BY-NC-SA 4.0).

Alessandro Sbordoni wurde 1995 in Cagliari geboren. Er ist der Autor von The Shadow of Being: Symbolic / Diabolic (2. Auflage, Miskatonic Virtual University Press, 2023). Er ist Redakteur der britischen Zeitschrift Blue Labyrinths und der italienischen Zeitschrift Charta Sporca. Er lebt in London und arbeitet für den Open-Access-Verlag Frontiers.

Netzwork Notion #1:

Alessandro Sbordoni
Semiotics of the End
On Capitalism and the Apocalypse

Herausgegeben vom Institute of Network Cultures, Amsterdam 2023. www.networkcultures.org, ISBN: 9789083328249

Die Publikation ist in englischer Sprache erschienen. Eine Kopie kann online kostenlos bestellt, bzw. digital heruntergeladen werden.