Der getrübte Blick der Menschenrechtsprofession

Frederik Fuß beleuchtet die Haltung von Berufsverbänden der Sozialen Arbeit zum Nahostkonflikt.

Der anhaltende militärische Kampf Israels gegen die Hamas, nachdem diese am 7. Oktober 2023 das größte antisemitische Pogrom seit der Shoa beging, offenbart neuerlich die Abgründe vieler Linker und Progressiver, wenn sie antisemitischen Statements verlautbaren lassen, die Gewalt der islamistischen Mörderbande relativieren und für alles einseitig Israel die Schuld zuschieben. Nun sind es nicht nur außerparlamentarische linke Kleingruppen und linke Parteien, die so agieren, sondern auch ein großer Teil Kulturschaffender und – bisher in der öffentlichen Debatte wenig beachtet – die organisierten Verbände der Sozialen Arbeit, vor allem die International Federation of Social Workers (IFSW), denen auch der deutsche Berufsverband (DBSH) und der österreichische (OBDS) angehören.

Die vordergründige Äquidistanz der IFSW

Bereits am 12. Oktober vergangenen Jahres – also nur wenige Tage nach dem Massaker der Hamas – veröffentlichte die IFSW eine Solidaritätserklärung mit Sozialarbeitern in Israel und Palästina.1 Darin wird von einer schweren und herzzerreißenden Situation gesprochen („an extremely difficult and heart-breaking time“), die Menschen auf beiden Seiten durch den anhaltenden Konflikt erleiden müssten. Auffällig ist, wovon nicht gesprochen wird: dem Überfall der Hamas. Mit keinem Wort werden das brutale Morden, die sexualisierte Gewalt oder die Geiselnahmen erwähnt, damit auch nicht, wer für die neuerliche Gewalt in Gaza verantwortlich ist. Die Erklärung verbleibt in vagen Formulierungen, die selbsternannten Vertreter der Menschenrechtsprofession klagen die Verletzungen ebendieser durch die Islamisten nicht an, sie haben auch kein Wort der Trauer oder des Bedauerns für die Opfer des Pogroms über.

Dieses Schweigen zieht sich durch die zahlreichen weiteren Erklärungen der IFSW. In ihrer Forderung nach einem Waffenstillstand vom 30. Oktober 20232 mutet es schon absurd an, wenn davon gesprochen wird, dass gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden müsse, damit an den Ursachen des Konflikts gearbeitet werden könne – so heißt es in der Stellungnahme: „We call on other organisations, administrations, and people to support the route of peace to stop the cycles of retaliation through a complete ceasefire and to urge each side towards a step-by-step process of building the trust necessary for addressing the root causes of this conflict.“ Israel wird von den Sozialarbeitern aufgefordert, ein Vertrauensverhältnis zu einer Organisation aufzubauen, die in ihrer Charta ganz offen erklärt, dass ihr höchstes Ziel das Ermorden von Juden ist. Es zeigt sich, dass die IFSW die Probleme des Antisemitismus und Islamismus vollständig ausblendet. Das wird auch in einer älteren Erklärung vom 2. Februar 2023 deutlich, in der die IFSW ihren „step-by-step peace process based on trust, understanding and the acknowledgement that all people have rights“3 bereits ausformuliert hat, ebenfalls unter Auslassung der Tatsache, dass eine Seite offen eliminatorische Phantasien propagiert, was einen Prozess von Vertrauensbildung und Verständnis nahezu unmöglich macht. Dort wird ebenfalls verkündet, dass die Palästinenser ein Recht darauf hätten, ihren eigenen Staat aufzubauen und in ihrer eigenen Demokratie (!) zu leben. Das größte Hindernis für ein demokratisches Palästina ist nicht Israel, sondern die Hamas. Spätestens seit ihrer Wahl im Jahr 2006 und der gewaltsamen Ausschaltung der Opposition 2007 sollte sich niemand mehr Illusionen darüber machen, dass die Hamas Interesse an demokratischen Strukturen hätte. Zu erklären, die Palästinenser hätten ein Recht auf Demokratie, ohne die Hamas zu erwähnen, ist bestenfalls naiv, schlechtestenfalls ist es antisemitische Propaganda, weil suggeriert wird, einzig und allein Israel stünde der palästinensischen Demokratie im Weg.

Dass Israel ein demokratischer Rechtsstaat ist, wird auch an anderer Stelle ausgeblendet, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, irgendeine Form der Schuld auf palästinensischer Seite suchen zu müssen. Der Sozialarbeiter und ehemalige Vorsitzende der Palestine Union of Social Workers and Psychologists (PUSWP) Munther Amira, der bereits 2018 wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Protesten im Westjordanland verurteilt wurde, wurde erneut inhaftiert, da er auf Facebook zur Gewalt aufgerufen haben soll. Die IFSW veröffentlichte umgehend eine Solidaritätsnote4, in der sie erklärte, dass seine Verhaftung unrechtmäßig und ungerecht sei – nicht dass sich die IFSW mit den Vorwürfen auseinandersetzen würde, vielmehr ist der Subtext, jemand der sich für die Menschenrechte einsetzt, könne nie schuldig sein. Inzwischen wurde Amira wieder freigelassen, die Anklage wurde fallengelassen. Daraus könnte man schließen, dass die demokratischen Institutionen in Israel funktionieren, Menschen bekommen ein faires Verfahren, sie werden nicht einfach so auf unbestimmte Zeit eingesperrt etc. pp. und dass hier ein grundsätzlicher Unterschied zu den Institutionen im Gazastreifen besteht – die Geiseln, die die Hamas genommen hat, sind keine Straftäter, sie werden auch keiner Straftaten verdächtigt, es gibt kein Gerichtsverfahren usw., sie wurden ausschließlich entführt, um ein Druckmittel gegen Israel zu haben, sie werden zudem gefoltert und sexuell missbraucht. Dies bringt die IFSW allerdings nicht zustande und auch Amira selbst nicht, der Israel, in seiner persönlichen Erklärung zu seiner Haft, ein siedler-kolonialistisches Regime nennt und des Genozids bezichtigt. Des Weiteren erhebt er schwere Vorwürfe der Folter und des Missbrauchs, die an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden sollen. Unabhängig davon, ob es zu solchen Vorfällen gekommen ist, lässt sich dennoch festhalten, dass das rechtsstaatliche Prinzip auch für Amira galt und er zu Recht wieder entlassen wurde.

Der Antisemitismus der Sozialen Arbeit in Palästina und die Frage nach Frieden

Am 28. März 2024 veröffentlichte die PUSWP eine Erklärung, in der sie die Suspendierung von Professorin Nadera Shalhoub-Kevorkian von der Hebrew University in Jerusalem anprangert und gleichzeitig das Bild eines düsteren, rassistischen, verbrecherischen Israel zeichnet. Shalhoub-Kevorkian hatte Israel einen Genozid an den Palästinensern im Gazastreifen vorgeworfen – etwas, das die PUSWP gerne aufgreift – und wurde daraufhin suspendiert. Es mag nicht verwundern, dass derartige Aussagen, die dem palästinensischen Opfernarrativ in die Karten spielen, nach dem 7. Oktober 2023 solche Folgen haben. Die PUSWP spricht von einem Genozid Israels an den schutzlosen Menschen dort und greift mindestens indirekt auch antisemitische Bilder wie jenes vom vermeintlichen rituellen Kindermord auf, wenn sie schreibt: „they see all international conventions being trampled under the feet of the murderers with the blood of children, the elderly, and defenceless women.“5 Dass die Hamas zivile Einrichtungen als Schutzschilde, Kampfbasen und Waffenlager missbraucht und der Tod von Zivilisten von ihr nicht nur billigend in Kauf genommen, sonder sogar forciert wird, spielt für die PUSWP keine Rolle. Menschenrechte sind universell, außer wenn es um Leib und Leben von Juden geht, dann sind sie keiner Erwähnung mehr wert. Würde die IFSW ihre eigene Forderung nach einem Friedensprozess ernst nehmen, müsste sie sich ernsthaft die Frage stellen, wer auf palästinensischer Seite überhaupt einen Frieden mit Israel will. Die Hamas erklärt immer wieder, dass sie an ihrem Ziel – die Vernichtung Israels – festhalten wird und sogar diejenigen, die als Vertreter der Menschenrechtsprofession in Palästina auftreten, scheinen wenig Interesse an Frieden zu haben; Israel ist für sie nur „der Besatzungsstaat, der sich auf Rassismus und der Abschaffung des Rechts anderer auf Leben […] gründet.“6

Und Deutschland?

Wie verhält sich der Deutsche Berufsverband der Sozialen Arbeit (DBSH) zu all dem? Die organisierten Sozialarbeiter in Deutschland scheinen bemüht zu sein, das Thema weitestgehend zu vermeiden. Der Gesamtverband hat einzig im Dezember 2023 die IFSW Forderung nach einer Waffenruhe veröffentlicht und sich ihr explizit angeschlossen.7 Darüber hinaus ist einzig vom Landesverband Berlin noch zu vernehmen, dass dieser das Solidaritätsbündnis Soziale Arbeit, welches maßgeblich aus antiimperialistischen Splittergruppen besteht, nicht weiter unterstützen oder kritisch-solidarisch begleiten werde, was – so wird es zwar nicht explizit formuliert, lässt sich aus dem Text jedoch herauslesen – auch daran liegt, dass alle Bündnisgruppen durch israelbezogenen Antisemitismus aufgefallen sind.8 Der Landesverband Berlin reagierte in der betreffenden Stellungnahme auf das Schreiben einer anonymen Gruppe, die sich Sozialarbeiter*innen gegen Antisemitismus nennt. All zu sehr wird jedoch nicht Position bezogen, auch in dieser Erklärung scheint man darum bemüht, möglichst keine Position für oder gegen irgendwen oder irgendetwas zu beziehen, sondern sich auf Allgemeinplätze zurückzuziehen. So passt es auch, dass der Berliner Landesverband in seiner Antwort noch einmal auf die entkontextualisierte IFSW-Forderung nach einer Waffenruhe verweist.

Das dialektische Selbstverständnis der Sozialen Arbeit

Soziale Arbeit versteht sich selbst als Menschenrechtsprofession, entsprechend heißt es in der international anerkannten Definition Sozialer Arbeit: „Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit.“ So definiert ist Soziale Arbeit keine Mildtätigkeit, sie will auch keine Elendsverwaltung betreiben, sondern sie will, wie es in der Definition weiter lautet, Menschen befähigen, „die Herausforderungen des Lebens [zu] bewältigen und das Wohlergehen [zu] verbessern“.9 Es geht darum, einen sozialen Wandel voranzutreiben und egalitäre(re) Zustände zu schaffen.

Dass sozialer Wandel allerdings sehr unterschiedlich interpretiert werden kann, wird offenbar, setzt man sich etwas näher mit den Menschenrechten auseinander – was in der Sozialen Arbeit in der Regel allerdings vermieden wird. So wird im deutschsprachigen Raum kaum zur Kenntnis genommen, dass sich die Menschenrechte in den vergangenen Jahrzehnten von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, bei der noch ein Fokus auf dem Schutz des Individuums lag, durch verschiedenste Deklarationen hin zu kollektiven Rechten entwickelt haben. Theoretisch sollen diese eine Ergänzung darstellen, in der Praxis (oder der praktischen Auslegung) wird das Individuum außerhalb der westlichen Hemisphäre jedoch meist zu Gunsten des Kollektivs suspendiert. Exemplarisch kann hier die Banjul-Charta angeführt werden, die bereits 1981 verabschiedet wurde und größeren Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent hat. Hier wird explizit klargestellt, dass das Individuum dem Wohl der Familie und des nationalen Kollektivs verpflichtet ist – ganz nebenbei wird noch der Zionismus zum Feind der Menschenrechte erklärt.10

Das Problem der Menschenrechte – abseits der Frage, wer dieses Recht eigentlich garantieren sollte – ist vor allem, dass es eine Vielzahl an, sich teils widersprechenden, Erklärungen gibt, die mal nach kommunistischen Heilsversprechen, mal nach völkischer Barbarei klingen. Die Soziale Arbeit vermeidet national wie international eine Auseinandersetzung mit diesen Widersprüchen und versucht unter dem Begriff einen Konsens zu erzeugen, der notwendigerweise nicht auf Dauer halten kann. So ist es am Ende wenig verwunderlich, dass Sozialarbeiter einerseits als Beschützer des Individuums und individueller Rechte auftreten, andererseits zu Verteidiger islamistischer Massaker werden – nimmt da doch nur ein unterdrücktes Volk seine Rechte gegen einen legitimen Feind wahr. Denn so sehr kollektive Menschenrechte von antiimperialistischer Doktrin durchtränkt sind, so sehr folgen sie letztlich auch der stalinschen Definition der Nation – und soviel lässt sich schnell rausfinden: die Juden seien keine, wären nicht mit irgendeinem Land verbunden und hätten auch kein Anrecht auf ein solches.11

1 IFSW: Solidarity with Social Workers in Israel and Palestine, 12.10.2023 online: https://www.ifsw.org/solidarity-with-social-workers-in-israel-and-palestine/

2 ISFW: Israel/Palestine:IFSW Calls For Immediate Ceasefire And To Address The Root Causes Of The Conflict, 30.10.2024, online: https://www.ifsw.org/israel-palestine-ifsw-calls-for-immediate-ceasefire-and-to-address-the-root-causes-of-the-conflict/

3 IFSW: Towards Peace And Self-Determination In Israel And Palestine A Statement From IFSW, 02.02.2023 online: https://www.ifsw.org/towards-peace-and-self-determination-in-israel-and-palestine-a-statement-from-ifsw/

4 IFSW: IFSW Calls For The Immediate Release Of Our Colleague Munther Amira / Update On Arrest Of Munther Amira, 21.12.2023 online: https://www.ifsw.org/ifsw-calls-for-immediate-release-munther-amira/

5 PUSWP: The Palestinian Union Of Social Workers And Psychologists Statement On The Suspension Of A Social Worker Who Advocated Against The Gaza Invasion, 28.03.2023 online: https://www.ifsw.org/the-palestinian-union-of-social-workers-and-psychologists-statement-on-the-suspension-of-a-social-worker-who-advocated-against-the-gaza-invasion/

6 Ebd. Übersetzung Frederik Fuß

7 DBSH: Israel / Palästina: IFSW fordert sofortigen Waffenstillstand und die Ursachen des Konflikts angehen, 12.12.2023 online: https://www.dbsh.de/profession/professions-news/detail/2023/israel-palaestina-ifsw-fordert-sofortigen-waffenstillstand-und-die-ursachen-des-konflikts-angehen.html

8 DBSH Landesverband Berlin: Antwort an die 'Sozialarbeiter*innen gegen Antisemitismus', 11.12.2023 online: https://www.dbsh.de/profession/professions-news/detail/2023/antwort-an-die-sozialarbeiterinnen-gegen-antisemitismus.html

9 DBSH: Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit, online: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html

10 Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, 27.06.1981 online: https://hippokrates.ch/wp-content/uploads/banjul-charta-der-menschenrechte-und-rechte-der-voelker.pdf

11 Vgl.: Stalin, Josef W.: Marxismus und nationale Frage (1913). In: Bollinger, Stefan (Hg.): Linke und Nation, Wien 2009.