Alle Macht den Rädern

Svenna Triebler über die Vorteile des Radfahrens, was die Freude daran zunichtemacht und Critical Mass als Aktionsform.

Eine bekannte Binsenweisheit besagt, dass Technik keine sozialen Probleme löst: Elektroautos oder gar Flugtaxis sind keine Verkehrswende, Erdbeobachtungssatelliten tragen nur dann zum Klimaschutz bei, wenn aus den gewonnenen Daten auch politische Konsequenzen gezogen werden, KI-Chatbots ersetzen keine Psychotherapie.

Was aber, wenn es eine Erfindung gäbe, die den städtischen Verkehrsinfarkt auflöst, CO2-Emissionen, Lärm und Schadstoffbelastung mindert, Klein- und Großstädte gleichermaßen wohnlicher macht, preiswert im Unterhalt ist, die Gesundheit der Nutzer*innen fördert und mit all diesen Effekten sogar ein volkswirtschaftliches Plus einfährt? Diese eierlegende Wollmilchsau gibt es: Sie wurde bereits im 19. Jahrhundert entwickelt und nennt sich Fahrrad.

Dass Radfahren auch einfach Spaß machen kann, wurde in der Aufzählung aus einem simplen Grund unterschlagen: Meistens tut es das nämlich nicht, jedenfalls nicht auf deutschen Straßen – womit wir wieder beim politischen (Un-)Willen wären, in diesem Fall dem, die Wundertechnologie als Goldstandard der Fortbewegung durchzusetzen. An dieser Stelle könnte nun eine längere Schimpftirade folgen – über eine Verkehrspolitik als verlängerter Arm der Autoindustrie,1 die gefühlte Straßenverkehrsordnung, der gemäß sich Autofahrende grundsätzlich im Recht gegenüber nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer*innen wähnen, und eine generelle gesellschaftliche Mentalität, die Tote billigend in Kauf nimmt, wenn es für den Gesamtbetrieb als unumgänglich angesehen wird.2

Runter vom Radweg, rauf auf die Straße

Da aber all dies hier bereits thematisiert wurde (siehe Versorgerin #126), soll es heute darum gehen, wie die Autorin nicht nur die Freude am Radeln wiederentdeckt, sondern zugleich eine Aktionsform gefunden hat, die einen den Frust angesichts der herrschenden (Straßen-)Verhältnisse zumindest zeitweise vergessen lässt.

Das Ganze nennt sich Critical Mass – im Folgenden CM abgekürzt – und folgt einem einfachen Prinzip: Radfahrer*innen verabreden sich zu einer gemeinsamen Ausfahrt und kurven ein paar Stündchen in der Kolonne durch die Gegend.

In Deutschland besagt die Straßenverkehrsordnung, dass man ab 16 Personen einen »geschlossenen Verband« bilden darf. Der gilt quasi als ein einzelnes Fahrzeug, man fährt beispielsweise in einem Rutsch über eine Ampel, auch wenn die in der Zwischenzeit auf Rot umschaltet. Und, ganz wichtig: Die Radwegbenutzungspflicht gilt für solch einen Konvoi nicht, man darf also das angestammte Revier des motorisierten Blechs erobern und auf der Fahrbahn auch nebeneinander radeln. Das Motto »Wir sind Verkehr« wird so demonstrativ auf die Straße gebracht – auch wenn sich eine CM explizit nicht als Demonstration verstanden wissen will.

Der konkrete Ablauf variiert je nach Ort, Zahl der Teilnehmenden und Wohlwollen der Ordnungsbehörden. Gemeinsam ist allen CMs aber das dezentrale Prinzip, es gibt also (üblicherweise) keine*n Anmelder*in und die Route bestimmt, wer gerade vorne fährt.

Außerdem braucht es Freiwillige, die sich dem kreuzenden Verkehr in den Weg stellen, damit sich keine Blechbüchsen in den Verband drängen – dieses sogenannte »Corken« erfordert ein wenig Selbstbewusstsein, da es vielen Autofahrenden bekanntlich sowohl an Geduld als auch Kenntnis der Verkehrsregeln mangelt und nicht wenige sich schlicht schon durch die schiere Existenz von muskelbetriebener Mobilität provoziert führen.

Rudelradeln mit Musik

Die Erfahrungen der Autorin beschränken sich bisher größtenteils auf die Critical Mass Hamburg, ein recht großes und etabliertes Event, das sich längst auch in Veranstaltungskalendern von Stadtmagazinen wiederfindet und quasi die CM-de-Luxe-Edition darstellt. Da stets mehrere Hundert, manchmal bis zu zweitausend Radler*innen zusammenkommen, ist das Ganze natürlich nicht komplett unorganisiert, es gibt also Menschen, die sich ums Corken kümmern und dafür sorgen, dass keine Lücken entstehen.

Auch die Polizei macht keine Probleme (ab hundert Personen gibt es zwar keine Anmelde-, aber eine Genehmigungspflicht, wobei sich die Ordnungskräfte andernorts nicht immer kooperativ zeigen), entschärft durch ihre Präsenz auf Motorrädern die eine oder andere aufgeladene Situation mit Blechkistenbesitzer*innen und wünscht auch schon mal freundlich eine »schöne Veranstaltung«. Die folgenden Schilderungen sind also möglicherweise etwas spezifisch, dürften im Großen und Ganzen aber das fröhliche Rudelradeln in vergleichbaren Großstädten widerspiegeln.3

In der Hansestadt trifft man sich jeweils am letzten Freitag im Monat um 19 Uhr am Schlusspunkt der vorangegangenen Fahrt; wer nicht dabei war oder früher abgebröckelt ist, kann auf der Seite https://criticalmass.in/ nachschlagen. Dort lassen sich auch die Termine für andere Städte finden. Oder man nutzt die App »Critical Maps«, die in Echtzeit anzeigt, wo aktive Nutzer*innen gerade unterwegs sind – praktisch, wenn man den Start verpasst hat und später dazustoßen will.

Los geht es etwa eine halbe Stunde später, beziehungsweise, wenn alle durch ungeduldiges Klingeln signalisieren, dass man langsam mal starten könnte. Und plötzlich erschließt sich eine völlig neue Dimension des Radfahrens.

Da gibt es zum einen die schiere Vielfalt an Teilnehmenden mit ihren Pedalfahrzeugen samt kreativen Um- und Aufbauten zu bewundern, denn das Ganze ist immer auch ein großes Schauradeln: Familien mit Kindern im Lastenrad, Rennradler*innen auf hochgezüchteten Sportgeräten, Tandems, Liegeräder und Einsitzer-Konstruktionen mit Karosserie und Akku-Unterstützung, die nur deshalb nicht als Elektro-Kleinwagen durchgehen, weil sie auch Pedale besitzen; dazwischen ein paar Menschen mit Skateboards oder Inlineskates und nicht zuletzt unzählige Normalsterbliche auf ihren Allerweltsvehikeln.

Ganz wichtig dabei: die Soundbikes. Das kann alles vom gewöhnlichen Hollandrad mit festgeschnallter Bluetooth-Box bis zum Anhänger mit wattstarker Anlage sein, oder auch mal ein komplettes DJ-Pult im Miniaturformat auf der Lenkstange – Hauptsache geeignet, um das Umfeld mit der jeweiligen Lieblingsmusik zu beschallen, gerne mit blinkenden LEDs dekoriert, die das Partyfeeling abrunden.4

RADikalisierender Perspektivwechsel

Viel erstaunlicher als all diese Konstruktionen ist aber, dass man die Muße hat, sie zu bewundern und einfach den rollenden Rave zu genießen. Wie ungewohnt ist bitte das Gefühl, unbeschwert vor sich hinzustrampeln und auf nichts achten zu müssen als darauf, niemandem vors Vorder- oder ins Hinterrad zu gurken?

Weder muss man permanent die Umgebung daraufhin im Blick haben, ob einem jemand nach dem Leben trachtet, noch wurschtelt man sich auf verschlungenen Wegen über aufgemalte – und oft von Autos blockierte – Radstreifen, unübersichtliche Kreuzungsmarkierungen, Kopfsteinpflaster und sogenannte Fahrradwege, die aussehen wie eine Etappe der Ralley Paris-Dakar. Stattdessen schwimmt man einfach in der Menge mit – über breite, gut asphaltierte Hauptstraßen.

Bemerkenswert auch, wie mühelos und flott man auf Fahrbahnen vorankommt, die auf einen möglichst reibungslosen Verkehrsfluss ausgerichtet sind. Das Tempo einer Critical Mass ist typischerweise eher gemächlich, damit alle mitkommen, doch auch mit 10 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit macht man ordentlich Strecke und ist in einer Stunde in den Hamburger Randbezirken, also Gegenden, von denen es stets heißt, die Bewohner*innen seien zwingend aufs Auto angewiesen.

Überhaupt ist so eine CM auch stets eine kleine Entdeckungstour, auf der man immer wieder neue Ecken kennenlernt: vom Speckgürtel mit den gepflegten Einfamilienhäusern und erstaunt guckenden Anwohner*innen bis zum Industriegebiet am Hafenrand, wo man lieber nicht so genau über den komischen Chemiegeruch nachdenkt, der in der Luft hängt. In bald 20 Jahren, die ich in Hamburg lebe, habe ich nicht so viel von der Stadt gesehen wie in den letzten Monaten, seit ich die Critical Mass für mich entdeckt habe.

Leider wird man in unschöner Regelmäßigkeit aus dem temporären Fahrradparadies wieder auf den harten Boden der Tatsachen geholt, denn beinahe monatlich gehören zu einer CM auch Mahnwachen an sogenannten Ghostbikes – weißgestrichene Fahrräder, die von Ehrenamtlichen an Orten aufgestellt werden, an denen Radfahrer*innen durch eine mörderische Verkehrspolitik getötet wurden.

Doch auch das trägt letztlich zu der kämpferischen Stimmung bei, die eine Critical Mass ebenso ausmacht wie die Partyatmosphäre. Denn erst, wenn man den Spieß mal umdreht und sich die Privilegien nimmt, die Autobesitzer*innen für selbstverständlich halten, merkt man so richtig, um welche Freiheit Radfahrende durch die Verkehrsplanung betrogen werden. Es ist, um es mit Begriffen aus der Welt des motorisierten Individualverkehrs zu schildern, als wenn man sich unklugerweise mit dem Pkw in den Amsterdamer Stadtverkehr gewagt hat und nun endlich, endlich auf die Autobahn darf.

Und so nimmt man nach den etwa 30 Kilometern, wie sie die Critical Mass Hamburg üblicherweise absolviert, nicht nur ausgepowerte Beine, ein leicht schmerzendes Hinterteil und ein breites Grinsen im Gesicht mit nach Hause, sondern auch jede Menge Wut auf die Saboteur*innen der Verkehrswende, vom zuständigen Bundesminister bis zu den Parkplatzfans in der Lokalpolitik – gepaart mit der Motivation, sich erst recht weiter gegen die autogerechte Zurichtung der Welt zu wehren. Das Kampfradeln geht weiter.

 

[1] Gerade erst hat der Berliner Senat die Pläne für den Ausbau von Radschnellwegen auf Eis gelegt und die im Bund mitregierende FDP befeuert mit einem Fünfpunkteplan namens »Fahrplan Zukunft: Eine Politik für das Auto« den Kulturkampf gegen das Fahrrad. Manchmal möchte man einfach nur schreien.

[2] Dass dies nicht die Standardeinstellung der menschlichen Psyche ist, zeigt das Beispiel der Niederlande: Als der motorisierte Verkehr in den 1970ern immer mehr Todesopfer forderte, darunter viele Kinder, führte dies zu massiven, teils militanten Protesten und diese letztlich zu der Verkehrswende, für deren Resultate das Land zu Recht bis heute gelobt wird. Es ist allerdings zu befürchten, dass der Rechtsrutsch im Land diese Errungenschaften wieder zunichtemacht.

[3] In kleineren Orten bzw. Städten ohne ausgeprägte Fahrradkultur ist es hingegen oft schon eine spannende Frage, ob man die nötige Zahl an Radelnden zusammenkriegt, und wenn, dann ist man in einer 20- oder 30-köpfigen Gruppe natürlich deutlich häufiger mit aggressiven »Carbrains« konfrontiert. Dennoch machen auch solche Rundfahrten im kleinen Kreis Spaß und sind vielleicht gerade in den notorisch autogerechten Kleinstädten nötig, um ein Umdenken anzustoßen.

[4] Tipp für alle, die zum ersten Mal an einer CM teilnehmen: möglichst früh an ein Soundbike mit Musik dranhängen, die einem zusagt. Ansonsten läuft man Gefahr, auf Kilometer mit den aktuellen Charts oder anderen schlimmen Ohrwürmern vollgedudelt zu werden, denn es ist gar nicht so leicht, seine Position im Pulk zu ändern, wenn der erst einmal ins Rollen gekommen ist.

 

Typischer Kampfradler bei der Critical Mass in Hamburg und anderswo (Bild: Svenna Triebler)