Das Verblassen der Wirklichkeit hinter ihren Formaten

Magnus Klaue über die ins Leere laufende Gefühlskritik der Eva Illouz.

Der Kniff, der die Bücher der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz bei einem wissenschaftlich interessierten Massenpublikum beliebt macht, ist sich seit fast dreißig Jahren gleichgeblieben. Ablesbar ist er an den Titeln: »Consuming the Romantic Utopia« (dt.: »Der Konsum der Romantik«, 1997/2003); »Cold Intimacies. The Making of Emotional Capitalism« (2007, dies waren ihre ursprünglich 2004 unter dem Titel »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« gehaltenen Adorno-Vorlesungen); »Saving the Modern Soul« (»Die Errettung der modernen Seele«, 2008/09); »Hard-Core Romance« (»Die neue Liebesordnung«, 2013/14) sowie der mit Dana Kaplan verfasste Band »What is Sexual Capital?« (»Was ist sexuelles Kapital?«, 2021). Der Kniff besteht darin, dass unter dem Vorzeichen einer vage marxistisch inspirierten Entfremdungskritik scheinbar paradoxe Phänomene in den Blick genommen werden, deren Paradoxie dann mit großem Tamtam als Symptom der perennierenden Unversöhntheit der bürgerlichen, zugleich aber irgendwie nachbürgerlichen Gesellschaft durchschaut wird. Deshalb die provokationslose Provokation der Titel, die immer von einem mutwillig naiven Rezipienten ausgehen: Romantik kann doch kein Gegenstand von Konsum sein – aber Illouz behauptet, sie werde konsumiert; Intimität ist etwas Warmes und nichts Kaltes, sie aber behauptet das Gegenteil; die Moderne gilt als seelenlos – Illouz beschreibt Versuche der Errettung ihrer Seele; Romantik gilt als soft, Illouz attestiert ihr einen Hard-Core-Trend und behauptet eine Kapitalform der Sexualität.

 

Achtung! In diesem Porträt sind Pflanzenteile versteckt: offenes Geheimnis bei Giuseppe Arcimboldo. (Bild: Public Domain)

 

Die wiederkehrend stumpfe Pointe dieser Titeltaktik besteht darin, großsprecherisch offene Geheimnisse auszuplaudern. Niemand muss studiert haben oder sonstwie eine große Leuchte sein, um zu wissen, dass es einen Konsum der Romantik, eine kalte Form der Intimität und eine Warenform von Gefühlen und Sexualität gibt; dass im modernen Gruppentherapiesitzungsgewäsch permanent von der Seele geredet werde, ist selbst schon ein Gemeinplatz. Ein offenes Geheimnis ist auch Illouz‘ These von der sozioökonomisch überformten Struktur der Gefühle, die sich als Privates dem Prozess der Vergesellschaftung vermeintlich entzögen. Auch hier baut sie einen Popanz zum Mythos auf, um ihn als solchen zu stürzen. Zu Beginn von »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« schreibt sie: »Soziologen haben die Moderne traditionellerweise mit dem Aufkommen des Kapitalismus, dem Aufstieg demokratischer politischer Institutionen oder aber mit der moralischen Kraft der Idee des Individualismus in Verbindung gebracht, dabei aber die Tatsache vernachlässigt, dass die meisten großen soziologischen Erzählungen der Moderne neben den bekannten Begriffen des Mehrwerts, der Ausbeutung, der Rationalisierung, der Entzauberung oder der Arbeitsteilung eine andere, unscheinbarere Nebenerzählung enthalten, in der die Entstehung der Moderne unter dem Gesichtspunkt von Emotionen thematisch wird.« Als Beispiele nennt sie Max Webers 1904/05 erschienene Studie »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, Georg Simmels Essay »Die Großstädte und das Geistesleben« (1903) sowie den Gedanken Émile Durkheims, wonach sich symbolische Handlungen als »Bündel aus Emotionen« begreifen ließen.

Nichts davon ist falsch, aber es wird triftiger, sofern man – wie Illouz es zumindest in »Die Errettung der modernen Seele« teilweise selbst versucht – zwischen der Urgeschichte der politischen Ökonomie und einer Geschichte der Moderne unterscheidet, die erst mit der Hochzeit des Kapitalismus beginnt und die neben Weber und Simmel auch Werner Sombart, Karl Mannheim, Norbert Elias und die frühen Protagonisten der Kritischen Theorie (vor allem Walter Benjamin mit dem 1939 erschienenen Text »Über einige Motive bei Baudelaire«) auf den Begriff zu bringen suchten. Erst diese Differenzierung ermöglicht es, den theoriegeschichtlichen Beitrag, den im 18. Jahrhundert vor allem die englischen Philosophen der Gefühle zur Begründung und zum Verständnis von Liberalismus und Kapitalismus als Gesellschafts- und Denkform geleistet haben, von Traditionen der Sozialphilosophie zu unterscheiden, die – wie Marx, Weber, Simmel und Benjamin – den seit dem 19. Jahrhundert eklatant werdenden Widerspruch zwischen politischer Ökonomie und der Ökonomie der Gefühle zu bestimmen suchten. Eben weil die Sozialphilosophie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stets auf die Reflexion dieses Widerspruchs zielte, ist in der Moderne anders als im bürgerlichen Zeitalter von Affekten, Sensationen, Triebimpulsen, Nerven und Nervosität, von Idiosynkrasien und Nuancen die Rede, aber kaum mehr – im Stil von Karl Philipp Moritz‘ »Erfahrungsselenkunde«, die 1783 die aufklärerische Psychologie begründete – von Gefühlen und Empfindungen, deren kognitionswissenschaftlich depravierte Erben heute die Emotionen sind.

Moritz‘ »Erfahrungsselenkunde« spiegelte ebenso wie die für die bürgerliche Philosophie des 18. Jahrhunderts prägenden Theorien der moralischen Gefühle (1759 veröffentlichte Adam Smith eine zweibändige »Theory of Moral Sentiments«) und die subtilen Differenzie-rungen zwischen Affekten, Verstand und Leidenschaft in John Lockes und David Humes Auseinandersetzung mit Rationalismus und Sensualismus ein aufstrebendes, von Vernunft- und Fortschritts-optimismus getragenes Bürgertum, das von der später in Horkheimers und Adornos »Dialektik der Aufklärung« zum Gegenstand gemachten Zwieschlächtigkeit des sich als Rationalisierungsprozess missverstehenden Zivilisationsprozesses zwar gelegentlich etwas ahnte, aber noch wenig erfahren und begreifen konnte. Der Optimismus dieses Bürgertums drückte sich darin aus, dass die in jener Ära vorherrschende Terminologie von Gefühlen und Empfindungen (»Sentiments«) zwar fließende Übergänge zwischen Gedanken, Affekten und Leidenschaften, aber nicht eigentlich Abgründe, das Subjekt in Frage stellende Aporien, selbstzerstörerische Impulse oder die dämonische Macht des Unbewussten kannte. Die Epoche der Moderne, die jene Ära fortsetzte, machte die unbewussten Impulse, die dem zugrunde lagen, was im 18. Jahrhundert noch unproblematisch den Titel »Gefühl« trug, im Sinne einer Selbstaufklärung der Aufklärung zum Motiv. An die Stelle der »Erfahrungsseelenkunde« traten die Triebtheorie und die Theorie des Unbewussten, an die Stelle der bürgerlichen politischen Ökonomie deren historisch-materialistische Kritik, an die Stelle der nunmehr für naiv gehaltenen Rede von Gefühlen die Analyse der Sensationen, die Psycho-Analyse und die »Nervenkunst« (Michael Worbs).

Illouz‘ Behauptung, in der Geschichte der Moderne, unter die sie die Geschichte des Kapitalismus subsumiert, gebe es eine »unscheinbarere Nebenerzählung«, die von den mit dieser Geschichte einhergehenden oder durch sie erst konstituierten Emotionen handele, ist also in doppelter Hinsicht falsch. Zum einen war die »Erzählung« von Gefühlen und Empfindungen in der Hochzeit des Bürgertums keineswegs eine Neben-, sondern die Haupterzählung: und zwar nicht als »Diskurs«, Leitmetapher oder ideologischer Schein, sondern wirklich: weil im Werk von Smith, Locke, Hume und ihren Zeitgenossen der Zusammenhang zwischen Ökonomie, moralischen Empfindungen, Affekten und Verstand, politischer Ordnung und Psychologie diagnostisch präzise analysiert worden ist. Zum anderen wird der Aufstieg der »Sentiments« zu einem Schlüsselbegriff gesellschaftlicher Diagnostik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Sozialphilosophie im Sinne einer Selbstreflexion der Aufklärung über sich hinausgetrieben. Insofern haben alle Autoren, denen Illouz unterstellt, sie hätten die emotionstheoretische »Nebenerzählung« der Sozialphilosophie übersehen, diese Nebenerzählung reflektiert.

Der Bohei, den Illouz um den in der Sozialphilosophie vermeintlich marginalisierten Begriff der Emotionen veranstaltet, korrespondiert mit einem Trend in der gegenwärtigen Sozialphilosophie selbst. Die »Geschichte der Gefühle«, die in den Arbeiten der Historikerin Ute Frevert seit etwa zehn Jahren die Mentalitätsgeschichte beerbt, betreibt um die »Entdeckung« der Tatsache, dass die dem Innenleben der Individuen zugerechneten Haltungen, Empfindungen und Denk-formen, vom »Gewissen« über das »Vertrauen« bis zur »Macht« und »Ohnmacht«, allesamt gesellschaftlich vermittelt sind, ein ähnliches Entzauberungstheater. Demgegenüber waren die Erkenntnisse der überkommenen Mentalitätsgeschichte, derer sich Frevert 1991 in ihrer fulminanten Studie »Ehrenmänner« über die Geschichte des Duells in der bürgerlichen Gesellschaft selbst bediente, historisch nuancierter. Wie Frevert in ihrer Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen den sozialpsychologischen Dispositionen des »zu spät gekommenen« deutschen Bürgertums, dessen Vorstellungen von Männlichkeit, den militärischen Kodizes des Deutschen Kaiserreichs und den als Anachronis-men fortlebenden feudalen Residuen des Ehrbegriffs zeigt, bezeichnet »Mentalität« anders als »Gefühl« und »Emotion« den in allem Denken, Fühlen, Handeln, Urteilen und Begehren gegenwärtigen, wandelbaren, aber zugleich persistenten Konnex zwischen »Leib« und »Seele«, Außen- und Innenwelt in seiner wechselnden Ausprägung. Nur als Bestandteil dieses historisch besonderen Ganzen, das von der Mentalitätsgeschichte untersucht wird, kommen »Emotionen« in den Blick.

Insofern zeugt das Hinübergleiten von der Mentalitätsgeschichte in die »Geschichte der Gefühle« von einer Verkümmerung intellektueller Erfahrungsfähigkeit. In Illouz‘ Emotionssoziologie zeigt sich diese Verarmung an zwei Gebieten, die von ihr beharrlich nicht behandelt werden: an der Sexualität als der materialistisch-somatischen Seite der Empfindungen und an der Öffentlichkeit als einer Sphäre mit eigenem politischen und juristischen Geltungsrecht, die spezifische Formen des Austauschs, der spontanen Reziprozität und des ebenso zweckgerichteten wie zweckfreien Handelns hervorbringt. Die Dethematisierung dieser beiden Bereiche ist umso auffälliger, als Illouz sich seit mindestens zwanzig Jahren mit den digitalen Medien, besonders mit digitalen Formen von Dating und Partnerfindung, beschäftigt, die ihr zuvor dominantes Interesse an Trivialliteratur, Filmen und Serien als Formaten massenpsychologischer Kommodifizierung von Emotionen überlagern. Wie in der von de-realisierten Monaden so genannten Real World haben solche Formate auch in Illouz‘ Büchern die Wirklichkeit, aus der sie stammen und auf die sie einwirken, tendenziell abgelöst. Entsprechend findet man bei ihr zwar Erwägungen über das Verhältnis zwischen dem datenden Subjekt und seinem auf das erwünschte Wunschbild des Anderen hin entworfenen Avatar, über das Verhältnis zwischen verbaler Selbstbeschreibung, fotografischer und performativer Selbstinszenierung, aber kaum Aussagen darüber, wie das durch die digitalen Medien mitkonstituierte Selbstverhältnis der Subjekte deren wirkliche Sexualität und die Fähigkeit zur Verarbeitung sexueller Erfahrungen verändert.

Ebenso wenig erfährt man über die Wechselwirkung, die zwischen den neuen Formaten der diffus zwischen erotischem und beruflichem Wettbewerb schwankenden Partnerschaftsanbahnung und der gesellschaftlichen Realität besteht, die von der digitalen ja nicht ersetzt, sondern begleitet und transformiert wird. Zwar legt die Tatsache, dass Illouz‘ Soziologie des Dating-Verhaltens bevorzugt auf soziographische Beobachtungen von Akademikern und Kulturschaffenden beruht, die Vermutung nahe, hier würden habituelle Tics des freiberuflerisch heruntergewirtschafteten Restbürgertums soziologisch veredelt, aber der Realitätsgehalt dieser Annahme lässt sich nicht überprüfen, denn wie Kabelleger oder Kassiererinnen ihre Partner kennenlernen, dafür interessiert Illouz sich nicht. So hinterlassen ihre Bücher – wie die Mehrzahl der neueren Beiträge zur »Geschichte der Gefühle« – den Eindruck, dass »Emotion« darin ein Schwundbegriff ist, der überdeckt, was er verfehlt. Statt den halben Tag bei Elitepartner rumzuhängen, sollte Illouz zum Zweck empirischer Fundierung ihres Denkens gelegentlich Lieder von Funny van Dannen hören, der ein wahrhaft bedeutender Sozialphilosoph ist und Illouz‘ Gegenstand wie folgt traktiert hat: »Blattläuse beobachten / Luftmatratzen auspacken / Luftmatratzen aufpumpen / Petersilie kleinhacken / Für Freunde tapezieren / Red Bull mit Wodka trinken / Im Wartezimmer Bunte lesen / Einem Taxi winken / Braucht man dafür Emotionen? Nein, nicht für solche Sachen. / Also gut, dann können die Emotionen jetzt mal Pause machen.«