»BEETHOVEN Is that gunfire down there?
[…]
MENDELSSOHN Yes, and worse. There seems to be a war on […] The chief aim seems to be the liquidation of the Jewish people.«
(Anthony Burgess, Mozart & the Wolf Gang, 1991)
»Ohne Begriff von dem, was in Deutschland geschehen ist, bleibt das Reden über den Antisemitismus in Siam oder in Afrika bedeutungslos.«
(Max Horkheimer, Die Juden und Europa, 1939)
2015 starteten mehrere afrikanische Staaten eine Militäroffensive gegen die Terrororganisation Boko Haram, die im Norden Nigerias, aber auch im Niger, in Kamerun und Tschad zehntausende Menschen ermordet oder entführt hat und ganze Städte und Dörfer in Geiselhaft hielt. Nur völlig Wahnsinnige würden nicht auf die Zerschlagung der Mörderbande hoffen, um diejenigen, die unter ihr leiden, von ihr zu befreien – sondern stattdessen gegen die Staaten demonstrieren, die gegen den Terror vorgehen. Bei Israel aber geht das scheinbar – darum die Frage an diejenigen, die da jetzt zu (hundert)tausenden durch die Straßen Londons, Berlins und Wiens ziehen und nicht gegen die Hamas, sondern Israel protestieren: Spinnt ihr komplett?
Man muss den Irrsinn, der da grad passiert, den ganzen hochkochenden antisemitischen Hass als solchen zu benennen. Mehrere Artikel dieser Ausgabe handeln davon, weil auch jene die Ereignisse in sich aufnehmen mussten, deren Thema davon im Kern berührt wird: Für Malte Gerken stellte sich Matti Friedmans Buch »Who by Fire: Leonard Cohen in the Sinai«, das er ins Deutsche übersetzt hat und für uns vorstellt, im Lichte der Anschläge vom 7.10. anders dar und auch der Beitrag von Anselm Meyer, der vom Verhältnis zwischen dem Völkermord an den Armenier:innen und der Shoah handelt, stellt einen Bezug zur jüngsten »genozidalen Botschaft« an alle Jüdinnen und Juden weltweit her. Da antisemitische Pogrome wieder eine reale Gefahr darstellen, nimmt auch die Erinnerung an jene vom November 1938 neue, schreckliche Aktualität an – warum es in Wels zwei Gedenkveranstaltungen gibt, aber einer davon mit Argwohn zu begegnen ist, analysiert Marina Wetzlmaier. Eine andere Gruppe von Menschen, die von vielen gerne (zum sprichwörtlichen oder gar realen) »Abschuss« freigegeben wird, sind Obdachlose. Paul Schuberth stellt die Serie von Mord(versuch)en vergangenen Sommer in Wien in den Kontext globaler Politik gegen Menschen ohne Wohnsitz.
Angesichts der Zustände beneidet man fast die Biber an der Donau – die grandiosen Baumeister in ihren kleinteiligen Oasen, über die das Beaver Lab so kenntnisreich schreibt – um den Luxus, keine Ahnung zu haben, was in der Welt der Menschen passiert. In dieser denkt man größer, planetarisch gar – und bleibt dennoch inside the box: Warum die Kombination »weiter-wie-bisher« plus Geoengineering keine praktikable zur Bewohnbarhaltung des Planeten ist, erläutert Svenna Triebler. Da nicht nur Zukunft, sondern auch Vergangenheit mit Visionen geplagt wird und das »exotische Andere« gerne verklärt wird, stutzt Richard Schuberth in Teil drei seiner Serie dem »Kolonialismus der Bewunderung« die Wachsflügel zurecht. Was das Vokalalphabet mit Seefahrt zu tun hat, ergründet Marc Peschke im Interview mit Klaus Theweleit über dessen neues Buch »a-e-i-o–u« und Chris Weinhold rezensiert Matthew Beaumonts »The Walker«, das anhand literarischer Texte Erfahrungen von Fußgänger:innen in den Städten der Moderne behandelt.
Weniger dem Flanieren, als einer Abstimmung mit den Füßen sind die jüngsten Erfolge von US-Gewerkschaften zu verdanken, zu denen Stefan Dietl einen Überblick gibt und während gegenwärtige Arbeitskämpfe kaum auf die Überwindung des Kapitalismus abzielen, stehen sie doch in Tradition dessen, was Georg Lukács bei Abfassung seines einflussreichen Buches »Geschichte und Klassenbewußtsein« 1923 vor Augen hatte. Stephan Grigat würdigt es als letzten ernstzunehmenden Versuch, positive und negative Dialektik des Kapitalverhältnisses zusammen zu fassen. Großen Einfluss hatte das Werk auch auf die Kritische Theorie – an deren vergessene Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften erinnert Magnus Klaue.
Zum Cover: Das zu dieser Ausgabe verweist auf den extrem erfolgreichen »Bloodproof of Life« während Stwst48x9 diesen September – dazu gibt es auch eine kleine Revue im Heft, sowie programmatische Verweise zu den Stwst-Vorhaben 2024.
Leider wieder gut geworden – kann auf keinen Fall weg.
die Redaktion