There is power in a union

Stefan Dietl über die Renaissance der Gewerkschaftsbewegung in den USA.

Es war ein historisch einmaliger Vorgang. Praktisch über Nacht und ohne die sonst üblichen langen Vorankündigungen legte die US-Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) drei Automobilwerke lahm, um einen neuen Tarifvertrag mit deutlich besseren Lohn- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die Arbeiter eines Lieferwagenwerks von GM in Missouri, einer Pick-up-Fabrik von Ford in Michigan und eines Stellantis-Montagebetriebs für Jeeps in Ohio verließen gleichzeitig ihre Arbeitsplätze. Zum ersten Mal in ihrer 90-jährigen Geschichte bestreikte die UAW damit die drei wichtigsten US-Autohersteller – die sogenannten »Big Three« – simultan.

Der gleichzeitige Angriff auf die »Big Three« im September traf die Unternehmen ebenso unerwartet wie die schnelle Eskalation des Konflikts. Denn nur eine Woche später legten die Beschäftigten in weiteren 38 Betrieben in 20 Bundesstaaten die Arbeit nieder. Binnen kurzem befanden sich so 30.000 Automobilarbeiter im Ausstand. Mit ihrer neuen »Hebelwirkungstaktik« hatte die UAW die Automobilriesen kalt erwischt. Unter Führung des erst vor sechs Monaten in einer Kampfabstimmung zum Vorsitzenden gewählten Shawn Fain verfolgte die UAW zum ersten Mal nicht ihre traditionelle Strategie, nur ein Unternehmen anzugreifen, um die mit ihm ausgehandelte Lösung dann als Muster den anderen beiden Konzernen zu unterbreiten, sondern suchte die Konfrontation mit allen drei Automobilherstellern zugleich. Fain, der sich als Kandidat eines linken Reformbündnisses, das für eine kämpferische und offensive Gewerkschaftsausrichtung eintritt, gegen die etablierten Kräfte in der UAW durchgesetzt hat, bricht auch mit der für die Automobilgewerkschaft sonst üblichen Kungelei hinter verschlossenen Türen. In der Vergangen-heit wussten die Konzerne meist bereits Wochen im Voraus von Arbeitsniederlegungen und bereiteten sich entsprechend darauf vor. So konnte die Gewerkschaft durch kurzzeitige Mobilisierung ihrer Mitglieder Stärke zeigen, während zugleich der ökonomische Schaden für die Unternehmen gering blieb. Nun nahm die Gewerkschaft stattdessen immer neue Werke ins Visier, die befristet und zielgerichtet bestreikt wurden. Der Arbeitskampf wurde damit schrittweise ausgeweitet und für die Konzerne blieb ungewiss, welcher Standort als nächstes in den Streik einbezogen würde.

So legte die UAW ohne Vorwarnung auch Fords größte Produktionsstätte in den USA lahm. Das Werk in Louisville, Kentucky, ist das weltweit profitabelste des Autobauers und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von 25 Milliarden Dollar. Etwa ein Sechstel der globalen Erlöse Fords. Der Aktienwert des Konzerns brach kurzfristig entsprechend ein.
Die konfrontative Strategie der UAW brachte die Unternehmen massiv in Bedrängnis. Immer wieder sorgten unerwartete Arbeitsniederlegungen für Störungen im Produktionsablauf. Eine Strategie, die letztlich aufging. Die Arbeiter erstreikten sich eine historische Rekordlohnerhöhung von 25 Prozent über 4,5 Jahre. Zudem konnte ein »Cost-of-Living Adjustment« durchgesetzt werden; die Löhne werden so jährlich automatisch an die Inflation angepasst – zusätzlich zur vereinbarten Lohnerhöhung. Daneben erzwang die UAW bessere Mitbestimmungsregeln und die Schaffung Tausender neuer Arbeitsplätze in den USA.
Denn der Streik der UAW fiel zugleich in eine Zeit des Umbruchs der Automobilindustrie. Die »Big Three« sind dabei, ihre Produktion auf die Fertigung von Elektroautos umzustellen und haben dazu zuletzt Milliarden investiert. Der Kampf der Gewerkschaft war daher mehr als nur ein Konflikt um höhere Löhne, es ging zugleich um Gewerkschaftsrechte in der Batterieproduktion, die Mitsprache der Belegschaften bei der Neugestaltung der Produktion, den Erhalt von Arbeitsplätzen und letztlich um die Frage, wer die Kosten der E-Mobilitätswende trägt und ob der Umbau der Automobilindustrie einzig und alleine auf dem Rücken der Beschäftigten stattfindet.

Gerade im Vorfeld des bald beginnenden US-Präsidentschaftswahlkampfes hatte der Streik damit auch eine politische Dimension. Joe Biden ist auf die Unterstützung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft angewiesen, will er eine zweite Amtszeit erringen. Obwohl »Union-Joe« sich gerne als der »gewerkschaftsfreundlichste Präsident der Geschichte« bezeichnet, sieht die mit 400.000 aktiven Mitgliedern und 540.000 Ruheständlern zu den einflussreichsten Gewerkschaften Nordamerikas gehörende UAW die Biden-Administration aufgrund ihrer Propagierung der E-Mobilität ausgesprochen kritisch. Im Gegensatz zu anderen führenden Gewerkschaften unterstützt sie daher die Kandidatur Bidens bisher nicht. Der historische Auftritt Bidens, der als erster amtierender Präsident vor streikenden Arbeitern sprach und ihnen seine Unterstützung zusagte, folgte daher sehr offensichtlich wahltaktischem Kalkül.
Immerhin setzte sich der amtierende Präsident damit jedoch weit besser in Szene als sein Vorgänger und vermutlicher Herausforderer, dessen Versuch, den Streik der Arbeiter für sich zu nutzen, zur Blamage geriet. Gerade einmal 400 bis 500 Anhänger waren gekommen, um Donald Trumps Rede bei einem nicht gewerkschaftlich organisierten Automobilzulieferer in Detroit zu hören. Ob und wie viele Automobilarbeiter unter den Zuhörern waren, ist unklar. Als die Detroit News einen Teilnehmer mit »Gewerkschaftsmitglieder für Trump«-Schild ansprach, gestand er, kein Gewerkschaftsmitglied zu sein. Ein anderer mit einem Schild mit der Aufschrift »Autoarbeiter für Trump« sagte, er arbeite nicht in der Automobilindustrie.
Shawn Fain fand für den Auftritt Trumps deutliche Worte. »Es ist eine erbärmliche Ironie, dass der ehemalige Präsident eine Kundgebung für Gewerkschaftsmitglieder in einem nicht gewerkschaftlich organisierten Betrieb abhält«, so der UAW-Vorsitzende im Gespräch mit CNN. Trump sei ein Lobbyist der Milliardärsklasse und seine Politik mitverantwortlich, dass die Unternehmen auf dem Rücken der Beschäftigten Milliardenprofite erwirtschaften konnten. »Man muss sich nur seine Bilanz ansehen - seine Bilanz spricht für sich selbst«, so Fain, der eine Wiederwahl des ehemaligen Präsidenten als Katastrophe bezeichnet.

Dass sowohl Biden als auch Trump um die Gunst der Streikenden buhlen, zeigt, wie sehr sich das politische Koordinatensystem in den USA in den vergangenen Monaten verändert hat. Arbeitskämpfe und Klassenfragen stehen plötzlich wieder im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und die seit Jahrzehnten totgesagte US-Arbeiterbewegung ist als politischer Faktor in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt – und mit ihr der Klassenkampf. 
Denn nicht nur in der Automobilindustrie standen zuletzt die Bänder still. Der Streik der UAW ist vielmehr der Höhepunkt eines »Summer of Labour«, der von den massivsten Arbeitskämpfen seit Jahrzehnten geprägt war. Hollywoods Autoren und Schauspieler streikten zum ersten Mal seit 63 Jahren gemeinsam, der Internetgigant Amazon kämpft beinahe wöchentlich mit neuen Betriebsratsgründungen, 150 Starbucks-Filialen wurden bestreikt und in Los Angeles legten 6.000 Hotelangestellte die Arbeit nieder. Rund 340.000 Teamster bei UPS bereiteten sich wochenlang auf einen Arbeitskampf vor, übten öffentlich Streikketten aufzustellen und demonstrierten ihre Mobilisierungskraft, so dass der Logistikkonzern schließlich vorzeitig einknickte. Der Arbeitskampf der UAW ist laut Daten der Cornell University in den USA bereits der 17. Streik in diesem Jahr, in den mindestens 2.000 Arbeiter involviert sind. Daneben kam es zu hunderten weiteren kleineren Ausständen. Legten im Jahr 2021 noch 36.600 Beschäftigte die Arbeit nieder, waren es in diesem Jahr bereits 360.000. Alleine im August zählte das Arbeitsministerium 4,1 Millionen Streiktage. Zugleich verzeichnen die Gewerkschaften in Umfragen die höchsten Zustimmungswerte seit sechs Jahrzehnten und die Zahl der bei der Nationalen Arbeitsbeziehungsbehörde eingereichten Anträge auf Gewerkschaftswahlen stieg auf Rekordniveau. 

Doch nicht nur die Zahl der Streiks wächst. Das Comeback der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung geht auch mit einer Intensivierung und Radikalisierung der Klassenkämpfe einher. Sinnbildlich für diesen neuen offensiven Kurs der Gewerkschaften steht Shawn Fain und sein Aufstieg an die Spitze der UAW.
Immer wieder sorgt Fain mit seiner klassenkämpferischen und kompromisslosen Rhetorik für Schlagzeilen. »Die Mitglieder unserer Gewerkschaft haben eindeutig die Nase voll davon, von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck zu leben, während sich die Konzernelite und die Milliardärsklasse weiterhin wie Banditen bereichern […] Die Großen Drei haben die Bank gesprengt, während wir uns den Rücken gebrochen haben«, so der UAW-Vorsitzende bei einer Rede. Der Streik der Automobilarbeiter sei der »Kampf der Arbeiterklasse gegen die Reichen, der Besitzenden gegen die Habenichtse, der Milliardärsklasse gegen alle anderen.« Für Fain und seine Unterstützer geht es dabei um mehr als nur den Kampf für bessere Bezahlung. Er sieht die Gewerkschaften als Teil einer progressiven, sozialen Bewegung. »Als Gewerkschaft müssen wir den Kampf für wirtschaftliche Gerechtigkeit anführen – nicht nur für uns, sondern für die gesamte Arbeiterklasse.«

Bei der Wahl zum Vorsitzenden der UAW durchsetzen konnten sich Fain und seine Liste »Members Unite« vor allem dank der Basisbewegung »Unite All Workers for Democracy«, die zehntausende Dollar für seinen monatelangen Wahlkampf sammelte und deren zahlreiche Aktive unablässig für ihn warben. Voraus ging der Abstimmung ein jahrelanger Kampf um mehr Gewerkschaftsdemokratie und gegen das Bündnis der bisherigen Gewerkschaftsführung mit den Konzernen. Fains Wahl war die erste, bei der alle Mitglieder den Vorstand in direkter Wahl bestimmten.
»Tausende von UAW-Mitgliedern haben unzählige Stunden in diese historische Kampagne zur Rückeroberung unserer Gewerkschaft investiert«, dankte Fain nach seinem Wahlsieg gegen den bisherigen UAW-Vorsitzenden Ray Curry seinen Unterstützern.

Ob die Renaissance der US-Gewerkschaftsbewegung auf Dauer ist, wird sich in den kommenden Monaten zeigen und nicht zuletzt davon abhängen, ob es den inzwischen zahlreichen linken Basisinitiativen weiterhin gelingt, sich innergewerkschaftlich zu verankern und mit ihrem kämpferischen Kurs durchzusetzen. Im Gegensatz zu weiten Teilen Europas können sie dabei immerhin an die Tradition der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung anschließen. Es waren syndikalistische Basisorganisationen, die einst eine Schlüsselrolle beim Aufbau der US-Arbeiterbewegung und am Höhepunkt ihrer Durchsetzungsfähigkeit in den 1930er- und 40er-Jahren spielten.

Eines ist der neuen UAW-Führung jedoch bereits gelungen. Sie konnten der kulturkämpferischen und antiökologischen Rechten eine soziale Organisierung entgegenstellen und die Wut des Rust Belt in reale materialistische Kämpfe überführen.