Vor 100 Jahren erschienen in Deutschland zwei Schriften, die zentrale Bedeutung für die Etablierung eines „westlichen Marxismus“ hatten und die Grundlagen für die spätere Kritische Theorie der Frankfurter Schule von Autoren wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer legten: Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewußtsein und Karl Korsch‘ Marxismus und Philosophie. Während Korsch lange vergessen war, prägte Lukács Generationen von Marxisten, die eine Gesellschaftstheorie jenseits des autoritären Marxismus-Leninismus zu formulieren versuchten.
Lukács gilt als Wegbereiter einer Marx-Interpretation, welche die Kategorie der Totalität in den Mittelpunkt des Interesses stellt, und die von ihren Gegnern gerne als „Hegelmarxismus” abqualifiziert wird. Trotz seiner späteren Parteinahme für die alternative Warenproduktion realsozialistischer Prägung war die Auseinandersetzung mit Lukács für die Kritische Theorie ebenso von großer Bedeutung wie für die undogmatischen Marxisten der 1960er, 70er und 80er Jahre. In den 1990er- und 2000er-Jahren bezogen sich vor allem Vertreter eines wertkritischen Marxismus auf ihn.
Auch außerhalb Deutschlands erlangte die Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 1919 bis 1922, die bald nach ihrem Erscheinen von parteikommunistischer Seite wegen „idealistischer” und „mystischer” Tendenzen massiv kritisiert wurde, einigen Einfluss. In Frankreich wurden Marxisten wie Maurice Merleau-Ponty und Lucien Goldmann stark von Lukács geprägt. In Italien spielten seine Schriften eine wichtige Rolle bei den Auseinandersetzungen zwischen den marxistischen Richtungen. In den 1920er Jahren erlangte Geschichte und Klassenbewußtsein auch in jenen Gegenden Beachtung, in denen die Bolschewisierung der Kommunistischen Parteien nicht in der gleichen Geschwindigkeit stattfand wie in Europa. So wurden beispielsweise in den Jahren 1924 bis 1927 in der KP Japans kritische Marxisten wie Lukács und auch Korsch intensiv diskutiert.
Der Fetischismus der kapitalistischen Warenproduktion ist für Lukács zentral. Die Warenstruktur beruhe darauf, „daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine ‚gespenstige Gegenständlichkeit’ erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt.”
Die Marx’sche Fetischkritik enthalte zugleich den „methodischen Grundgedanken” des Marx’schen Hauptwerks: „die Rückverwandlung der ökonomischen Gegenstände aus Dingen in prozeßartig sich wandelnde konkrete Beziehungen zwischen Menschen”. Der erste Schritt der Fetischkritik ist demnach die Rückbeziehung der dinglichen Verhältnisse auf die Beziehungen von Menschen. Der zweite Schritt ist die Dechiffrierung dieser menschlichen Beziehungen als soziale Prozesse. In der Fetischkritik wird so „das Werden als die Wahrheit des Seins, der Prozeß als die Wahrheit der Dinge” erkennbar, wie Lukács in deutlicher Anlehnung an Hegels Wissenschaft der Logik formuliert.
Verdinglichung und Klassenbewußtsein
Geschichte und Klassenbewußtsein ist vor allem eine Untersuchung über den potentiellen Träger der Überwindung der Verdinglichung: das Proletariat. Anders jedoch als im Denken vieler marxistischer Aktivisten ist das Proletariat bei Lukács nicht von vornherein, von sich aus, nur auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung dazu fähig, die Verdinglichung zu überwinden. Lukács hält zwar an seiner Einschätzung fest, dass das gesellschaftliche Sein in seiner Unmittelbarkeit für Bourgeoisie und Proletariat dasselbe sei, schwingt sich in der Folge aber zu einer großangelegten Verteidigung des Erkenntnisprivilegs der ausgebeuteten Klasse auf. Das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie sei objektiv falsch und bleibe auch stets falsch. Das Bewusstsein des Proletariats sei zwar zunächst auch falsch, müsse aber keineswegs falsch bleiben, da es in der Gesellschaft keine objektiven Schranken für dieses Bewusstsein gäbe.
Bei Marx fühlen sich die ökonomischen Charaktermasken, die Personifikationen des konstanten ebenso wie jene des variablen Kapitals, trotz der von Marx eindringlich geschilderten sozialen Katastrophen in den entfremdeten, verdinglichten und fetischisierten Formen so zu Hause „wie ein Fisch im Wasser”, wie er im Kapital schreibt. Lukács hingegen glaubte daran, dass sich für die Arbeitenden alle Illusionen über ihren selbständigen Subjektstatus durch ihre alltäglichen Lebenserfahrungen verflüchtigen. Um am Erkenntnisprivileg des Proletariats festzuhalten, muss Lukács beim Proletariat einen unverdinglichten Rest konstruieren, obwohl er immer wieder auf die Totalität des Fetischismus hinweist und vom fetischistischen Schein spricht, „der alle Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft umgibt”.
Lukács’ Klassenfetisch
Lukács behauptet jedoch keinen Automatismus, der von der Existenz des Proletariats zur Entwicklung von Klassenbewusstsein im Sinne von Defetischisierung führt. Dass die Träger der Ware Arbeitskraft sich über ihr warenförmiges Dasein bewußt werden, ist bei Lukács nicht zwangsläufig der Fall, sondern nur eine Möglichkeit. Dass diese Möglichkeit nicht zur Wirklichkeit wird, schloss Lukács nicht ganz aus. Die Bourgeoisie wird nach Lukács in Krisen mitunter gezwungen, die Verdinglichung teilweise zu durchschauen. Diese lichten Momente ändern aber nichts an der grundsätzlichen „Blindheit der Totalität gegenüber.” Für das Proletariat erblickt Lukács eine widersprüchliche Entwicklung bezüglich des Fetischismus in Krisensituationen. Einerseits potenziere sich die Verdinglichung, andererseits würden die Fetische zunehmend versagen. Alle Versuche, zwischen gesellschaftlichem Sein und selbstbewusstem Bewusstsein einen Automatismus am Werke zu sehen, verweist Lukács in das Reich der Mythologie.
Für Lukács ist die Selbsterkenntnis des Proletariats zugleich die Erkenntnis der gesamten Gesellschaft. Doch allein die Tatsache, dass das Proletariat mit der Produktion unmittelbarer konfrontiert ist, bedeutet noch nicht, dass die ihm Zugehörenden tatsächlich auch von der Produktion ausgehen und alle scheinbar unabhängig von der Produktionssphäre existierenden gesellschaftlichen Formen auf die Produktion rückbeziehen. Das Proletariat kann sich seine in Form der Vorenthaltung der Bedürfnisbefriedigung real erlebbare Ausbeutung sehr gut durch die zu hohen Zinsen und die zu hohen Preise in der Zirkulationssphäre erklären. Genau hier setzt die Antisemitismustheorie der Kritischen Theorie ein, wenn sie darauf verweist, dass die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung „gesellschaftlich notwendiger Schein” ist, wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung schreiben. Die Bourgeoisie kann hingegen in Krisensituationen sehr schnell eine Ahnung von der Abhängigkeit des zinstragenden Kapitals von der Mehrwertabpressung in der Produktion erhalten. Die Wahrnehmung, dass es den einen „gut” und den anderen „schlecht” geht, gründet in der Fähigkeit zu Erfahrung. Warum das so ist, kann aber nur im Wege des Denkens begriffen werden. Dieses Denken, das sich einen Begriff von der Differenz von Wesen und Erscheinung machen muss, ist zwar nicht unabhängig von der Klassenlage der Denkenden, aber keineswegs durch diese determiniert.
Mit der Postulierung eines objektiven Klassenbewusstseins des Proletariats stellt sich Lukács gegen die Marx’sche Vorstellung von der klassenübergreifenden Kraft des Fetischismus. Ohne Zweifel sind Klasseninteressen in den realen sozialen Gegebenheiten begründet. Lukács Begriff des objektiven Interesses meint aber mehr. Er unterstellt dem objektiven Interesse des Proletariats einen Emanzipationscharakter, obwohl als objektives Interesse, das nur aus den sozialen Gegebenheiten hergeleitet wird, streng genommen auch nur systemimmanente Interessen verstanden werden können.
Das Kapitalverhältnis kann nicht durch die konsequente Wahrnehmung von Interessen aufgehoben werden, da es diese Interessen selbst konstituiert. Lohnarbeiter als Lohnarbeiter wollen mehr Lohn, nicht den Kommunismus – was ihnen keinesfalls zum Vorwurf zu machen ist. Der Wille und das Interesse, die sich hier artikulieren, sind nicht jene von voraussetzungslosen Subjekten, sondern von gesellschaftlichen Charaktermasken. Die Verwirklichung einer allgemeinen Emanzipation kann demnach nicht die Verwirklichung eines Klasseninteresses sein, sondern nur die Überwindung von Klassen und ihren Interessen. Die Arbeiterklasse kann nicht den Sozialismus aufbauen, sondern der Aufbau des Sozialismus impliziert den Abbau der Arbeiterklasse.
Schon Adorno hat darauf verwiesen, dass wirkliche Freiheit nicht allein einer Klasse, sondern allen zugute käme: „Wäre Kritik der Gesellschaft nur das Interesse einer Klasse und nicht das konkrete der Menschheit, so wäre sie keinen Schuß Pulver wert.“ Ein revolutionäres Subjekt kann daher auch nicht in Gestalt einer Klasse existieren, sondern nur als Summe jener unzufriedenen und leidenden Menschen, die in Reflexion auf die gesellschaftlichen Zwänge und im Bewusstsein ihrer trotz all dieser Zwänge stets existierenden Freiheit, Kritik formulieren und ein Interesse an emanzipativer Aufhebung und Abschaffung artikulieren: ein „seiner eigenen Konstitution wie Logik gemäß ins Nichts sich aufhebender antagonistischer Anti-Souverän der zum revolutionären Subjekt sich assoziierenden Individuen“, wie es der 2019 verstorbene Joachim Bruhn einmal formuliert hat.
Geschichte und Klassenbewußtsein ist der letzte ernstzunehmende Versuch, positive und negative Dialektik, wie sie aus dem Kapitalverhältnis selbst entspringen, noch einmal zusammen zu zwingen. Die Identifizierung der Totalität mit dem Proletariat, die in der Kritischen Theorie dann negiert werden wird, äußert sich bei Lukács noch darin, dass das, was in der Methode antizipiert wird – die sich selbstbewußt produzierende und reproduzierende Gesellschaft – ausschließlich in Verbindung mit dem Proletariat gedacht wird, das dieses Antizipierte in der Praxis erst noch umzusetzen hat. Dennoch ist es richtig, Geschichte und Klassenbewußtsein als „Anfang vom Ende des Marxismus als Emanzipationstheorie der Arbeiterklasse” zu begreifen, wie Michael Koltan es formuliert hat. Bereits Mitte der 1920er-Jahre war der Widerspruch zwischen dem weltgeschichtlichen Auftrag, den das Proletariat von Marx erhalten hatte und von Lukács in Erinnerung gerufen bekam, und dem tatsächlichen Desinteresse großer Teile des Proletariats an einer revolutionären Vollendung der menschlichen Emanzipation so groß, dass die materialistische Kritik darauf reagieren musste. Nicht nur Lukács, sondern auch Karl Korsch stand vor der grundsätzlichen Frage, warum die in der Theorie stets behauptete Notwendigkeit (verstanden im Sinne von Zwangsläufigkeit) der Revolution nicht schon längst Wirklichkeit geworden war. Die Rückbesinnung auf die Marx’sche Fetischkritik war dafür naheliegend.
Von dieser Rückbesinnung ausgehend rekurriert Korsch auf eine potentiell revolutionär orientierte Subjektivität bei den Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft, ohne jedoch eine Klassenbewusstseinstheorie nach dem Lukács’schen Muster auszuarbeiten. Korsch favorisierte die Untersuchung konkreter Möglichkeiten der Intervention und vermeidet die bei Lukács mal mitschwingende, mal konstitutive Geschichtsphilosophie.
Was Lukács mit Geschichte und Klassenbewußtsein hingegen noch einmal versuchte, war das Unterfangen, den offensichtlichen Bruch zwischen Theorie und Praxis mit einem von Michael Koltan zu Recht als „theoretischen Kraftakt” charakterisierten Unterfangen zu kitten – ein Unterfangen, dessen Aussichtslosigkeit spätestens mit dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland offen zu Tage trat. Lukács sah die Stagnation im revolutionären Prozess. Mit der Konstruktion eines objektiven, zugerechneten Klassenbewusstseins des Proletariats rettet er sich in die geschichtsphilosophische Gewissheit, dass diese Stagnation jedoch nur vorübergehend sein wird. Wie die von Lukács durchaus in Betracht gezogene, aber nicht für sehr wahrscheinlich gehaltene Möglichkeit, dass sich große Teile des Proletariats in der Krise den Fetischen der kapitalakkumulierenden Gesellschaft vollkommen unterordnen anstatt sie zu überwinden, historisch im Nationalsozialismus auf ganz spezifische Art und insbesondere durch den Antisemitismus Wirklichkeit werden sollte, konnte Lukács zur Zeit von Geschichte und Klassenbewußtsein noch nicht wissen. Es ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er die klassenübergreifende Anziehungskraft des Nationalsozialismus nicht vorausgesehen hat, aber es ist darauf hinzuweisen, dass sich in Geschichte und Klassenbewußtsein kaum Kategorien finden, die zum Verständnis der Begeisterung von großen Teilen des deutschen Proletariats für die deutsche Variante des kapitalaffirmativen Antikapitalismus beitragen könnten. Vor diesem Hintergrund ist es wohl auch nicht überraschend, dass – worauf Gerhard Scheit nachdrücklich hingewiesen hat – Lukács’ spätere Parteinahme für den autoritären Staatssozialismus in den 1950er-Jahren (kurz nach dem antisemitischen Slánsky-Prozeß in der Tschechoslowakei) selbst noch den stalinistischen Hass auf den Westen und Angriffe gegen den stets mit antisemitischen Untertönen attackierten „Kosmopolitismus“ beinhaltete, dem Lukács allen Ernstes „prinzipiellen Vaterlandsverrat“ attestierte und einen „Marxismus-Leninismus“ entgegensetzte, der als „Beschützer und Vorkämpfer der nationalen Freiheit und Selbstbestimmung“ auftreten sollte.
Die Aufgabe der Reflexion des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Marx’schen Fetischkritik stellte sich erst der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer, für die Lukács zwar als eine Art Stichwortgeber fungierte, die aber im Angesicht der Katastrophe Dialektik dahingehend neu bestimmten, dass sie nur mehr als negative zu haben ist. Nach der keineswegs bloß in der nationalsozialistischen Propaganda, sondern im gemeinsam begangenen Massenmord und im Vernichtungskrieg real vollzogenen Aufhebung der Klassen in der Volksgemeinschaft muss sich eine kritische Theorie der Gesellschaft von der Hoffnung auf die emanzipativen Potentiale des Proletariats endgültig verabschieden. Da der für den Traditionsmarxismus konstitutive Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit kein außerhalb jeglicher Geschichtlichkeit existierendes Verhältnis ist, kann er auch nicht unberührt bleiben von dem, was in der Kritischen Theorie als negative Aufhebung der Klassengesellschaft thematisiert wurde. Das proletarische Interesse hat sich im Nationalsozialismus mit dem Staat verbündet und sich an das Vernichtungswerk gemacht. Was das für die Emanzipation bedeutet, und warum damit jede positive Geschichtsphilosophie und Dialektik hinfällig wird, hat Joachim Bruhn festgehalten: „Nach der Wannsee-Konferenz ist jede Rede vom Klassenkampf Beschönigung und Verdrängung der Geschichte. Denn wenn es in der Geschichte des Kapitals jemals ein Kairos der Revolution gegeben hat, dann war es genau der Tag der Wannsee-Konferenz. Die Revolution aber blieb aus. Wenn die Revolution jetzt noch stattfinden würde, wäre das zwar sehr vernünftig, aber nur, wenn auch: immerhin, nachgetragene Rache. Die kommende Revolution kann keine mehr der Arbeiterklasse sein, keine des proletarischen Interesses. Die Revolution hat den Moment ihrer intensivsten historischen Notwendigkeit verpasst.”
Nicht zuletzt aus dieser Erfahrung resultiert eine unbedingte Parteilichkeit gegen jede Art falscher Unmittelbarkeit. Neben dieser Parteinahme für die Vermittlung und den daraus resultierenden Interventionen gegen jeden Versuch ihrer barbarischen, antisemitischen Aufhebung kann es Gesellschaftskritik nicht um eine Klassenbewusstseinstheorie im Sinne von Lukács gehen, sondern einzig um den Versuch, inmitten der falschen Gesellschaft individuelle und gesellschaftliche Selbstreflexion zu ermöglichen, um die Reste jener vom Zwang zu Kapitalproduktivität und Staatsloyalität systematisch beschädigten Mündigkeit zu retten, die eine Grundbedingung zur Verwirklichung von Freiheit ist.