In der von Friedrich Pollock unter dem Titel »Späne« erstellten Sammlung von Notizen, Aphorismen und Gesprächsäußerungen Max Horkheimers findet sich eine Skizze aus den späten fünfziger Jahren, die die Überschrift »Der Fachmann und die totalitäre Gesellschaft« trägt. Darin heißt es: »Das Schwergewicht in der Gesellschaft verschiebt sich auf allen Gebieten immer mehr zum Fachmann. Für ihn ist das Individuum nichts als ein Gegenstand der Manipulation. Leitung von Wissenschaft und Gesellschaft durch Fachleute ist die rationalste Art der Lösung der auf diesem Gebiet vorliegenden Probleme. Die adäquate Gestaltung der Gesellschaft, in der die Fachleute alles beherrschen, ist die totalitäre.« Der Terminus des Totalitarismus, theoriegeschichtlich eher von Hannah Arendt als von der Kritischen Theorie her vertraut, scheint hier zunächst so etwas wie ein Deckbegriff für Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus zu sein, die in der Zeit, als die Notiz entstand, als Begriffe zur Beschreibung der Gegenwart westlicher Gesellschaften an Gültigkeit eingebüßt hatten. Doch evoziert die Vorstellung einer totalitären Expertokratie zugleich die Rede von der »verwalteten Welt«, die seit den frühen fünfziger Jahren von Horkheimer wie Adorno mehrfach zur Beschreibung dessen herangezogen wurde, worin sich die Staaten des westlichen und des östlichen Blocks allen Unterschieden zum Trotz auf beklemmende Weise zu ähneln schienen.
Weder Horkheimer noch Adorno waren eingeschworene Gegner von Bürokratie, sachbezogener Arbeitsteilung und Teamwork, die sie vielmehr als notwendige Konstituenten westlicher Demokratie verteidigten. Wie Adorno in seinem 1959 entstandenen Vortrag »Kultur und Verwaltung« sachlich-nüchtern, und nur scheinbar seiner Hochschätzung ästhetischer Autonomie entgegengesetzt, eine funktionierende Kulturverwaltung als Voraussetzung freier künstlerischer Betätigung und unreglementierter ästhetischer Wahrnehmung ansah, so hat Horkheimer in seiner Funktion als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung transparente Arbeitsteilung, Spezialisierung und Departementalisierung der Formen wissenschaftlicher Erkenntnis, die sich historisch ausdifferenziert und voneinander abgespalten haben, zur Voraussetzung der eigenen Arbeit gemacht. Die Kritische Theorie war modernen Formen der Arbeitsteilung und der Kooperation nie feindlich gesinnt; im Gegenteil erkannte sie im Ressentiment, das Lebensphilosophie und Existentialontologie gegen derlei Erscheinungsformen gesellschaftlicher Entfremdung hegten, deren Affinität zum Faschismus.
Ähnlich wie die vermeintliche Gegnerschaft der Kritischen Theorie zu Bürokratie und Teamwork ist die Ansicht, sie hätte den Naturwissenschaften prinzipiell skeptisch gegenübergestanden, ein Gerücht. Hans-Joachim Dahms hat 1994 in seiner instruktiven Studie über die Positivismus-Kritik der Kritischen Theorie gezeigt, dass es nie eine pauschale Ablehnung jeglicher Formen positivistischen Denkens seitens der Kritischen Theorie gegeben hat, sondern Horkheimers Positivismus-Kritik der dreißiger Jahre, die er vor allem in dem 1937 erschienenen Essay »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« formulierte, sowie deren Reprisen durch Adorno und Jürgen Habermas, die sich im sogenannten Positivismusstreit anlässlich der Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Tübingen 1961 kristallisierten, nur im Zusammenhang eines Zerfalls bürgerlicher Philosophie seit dem Ersten Weltkrieg angemessen zu verstehen sind, der sowohl Metaphysik wie Empirismus, Nominalismus wie Rationalismus bis ins Innerste tangierte; Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften waren von diesem Erosionsprozess, wenn auch auf verschiedene Weise, gleichermaßen betroffen (Hans-Joachim Dahms: Positivismusstreit. Die Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus). Es ging der Kritischen Theorie mit ihrer Polemik gegen den Positivismus auch nie darum, ob die Philosophie oder die Einzelwissenschaften für eine realitätsgerechte Regulierung des Lebens besser geeignet seien. Um einer solchen pragmatistischen Verengung der Geistes- ebenso wie der Naturwissenschaften entgegenzuarbeiten, suchte die Kritische Theorie beide auf die sie verbindende Aufgabe der Wahrheitseinsicht und Urteilsfähigkeit zu verpflichten.
Wenn in den vergangenen Jahren im Zusammenhang der Corona-Krise, aber auch der Frage nach den politischen Konsequenzen des Klimawandels, Autoren, die sich zu Recht oder Unrecht in der Nachfolge Kritischer Theorie sehen, einen haltlosen Kult um »Experten« pflegen und jede Kritik an deren angemaßter Richtlinienkompetenz als Spekulation und Schwurbelei unter Generalverdacht stellen, beruht dies auf einem Missverständnis über das Verhältnis der Kritischen Theorie zu den positiven Wissenschaften. Angelegt ist dieses Missverständnis schon in Habermas‘ 1985 unter dem Titel »Der philosophische Diskurs der Moderne« veröffentlichten Vorlesungen, in denen in Abweichung vom Anspruch der »Dialektik der Aufklärung«, Aufklärung müsse das ihr inkommensurable, dunkle, spekulative und irrationalistische Denken als ihren eigenen Widerspruch in sich aufnehmen, die bürgerliche Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts sauber und widerspruchsfrei in »Aufklärer« und »Gegenaufklärer«, »fortschrittliches« und »reaktionäres«, richtiges und falsches Denken aufgespalten und sortiert wird. Konsequent hat Habermas selbst während der Corona-Krise über Möglichkeiten technokratischer Lenkung der Gesundheitspolitik nachgedacht und jeglichen Widerspruch gegen den neuen Pseudopositivismus in der Gesundheits- und Klimapolitik als potenziell rechts und jedenfalls gefährlich abgewehrt: Die Vernunft steht immer auf der Seite der positiven Wissenschaften, die Unvernunft auf Seiten der Spekulation, die mit Esoterik und Aberglauben gleichgesetzt wird. In welchem Maße die positiven Wissenschaften selber längst ein Kult geworden sind und Aspekte von Aberglauben angenommen haben, wird nicht gefragt.
Demgegenüber gälte es in Erinnerung zu rufen, dass seit den sechziger Jahren Schüler Max Horkheimers es sich in ihrer philosophischen Arbeit zum Programm gemacht hatten, gegen solche Entgegensetzungen von Positivität und Spekulation, Aufklärung und Gegenaufklärung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften selbst Einspruch einzulegen. Auf je spezifische Weise bestimmte dieser Einspruch die Werke von Karl Heinz Haag, Peter Bulthaup und Alfred Schmidt. Am weitesten entfernt von genuin naturwissenschaftlichen Fragestellungen schien dabei zunächst Schmidt zu sein, der zwar bei Horkheimer mit einer Arbeit über den Begriff der Natur bei Karl Marx promoviert hatte, sich aber die sechziger und siebziger Jahre hindurch der Profilierung Kritischer Theorie gegenüber den Moden des Existenzialismus und Strukturalismus widmete. Doch je stärker Schmidt das vermeintlich gegenaufklärerische Denken Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches in dessen Bedeutung für die Kritische Theorie gegenüber dem Ableitungsmarxismus der damaligen Zeit konturierte, desto mehr rückte der innere Zusammenhang zwischen dem Naturbegriff der Naturwissenschaften und ihrem spekulativen Gegenpart in den Blick. In seinem Werk »Goethes herrlich leuchtende Natur« brachte Schmidt 1984 gewissermaßen zum Ende, was er in den Beobachtungen über die Wirkung Schopenhauers auf Horkheimer in den »Drei Studien über Materialismus« 1977 begonnen hatte: Am Beispiel von Goethes Naturlehre als dem Versuch, Naturwissenschaft und Naturphilosophie, positive und spekulative Naturerkenntnis im Namen einer »zarten Empirie« zusammenzuführen, die dem Menschen als Teil der Natur ebenso gerecht werden möge wie der außermenschlichen Natur als dem Gegenstand von Arbeit, Genuss und Liebe des Menschen, sah Schmidt eingelöst, was die spätere Lebensphilosophie nur noch obskurantistisch beschwören konnte.
Karl Heinz Haag und Peter Bulthaup wiederum widmeten sich von gegenläufiger, nämlich theologischer und naturwissenschaftlicher Perspektive der Frage nach den ontologischen Grundlegungen, die die positiven wie spekulativen Wissenschaften miteinander gemein haben. Der Jesuitenschüler Haag rekonstruierte in seinem 1983 erschienenen Hauptwerk »Der Fortschritt in der Philosophie«, wie von der Antike über das mittelalterliche Denken bis zum Positivismus der perennierende Widerspruch zwischen Nominalismus und Rationalismus die abendländische Philosophie grundiert und gleichzeitig in ihren Möglichkeiten beschränkt hat. Die Pointe des Titels von Haags Buch besteht im Grunde darin, dass sich im »Fortschritt« als dem begrifflichen Fortgang philosophischen Denkens die immer gleiche Problemkonstellation wiederholt, dem Fortschritt selber mithin eine Art tieferliegender Stillstand zugrunde liegt: eine Starre, die sich für Haag nur auflösen lässt, indem Natur- wie Geisteswissenschaften auf ihre verschwiegenen theologischen Grundlagen reflektieren. Bulthaup, der Philosophie und Physikalische Chemie studiert hat, lieferte in seiner Schrift »Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften«, die in Horkheimers Todesjahr 1973 erschien, nicht etwa eine marxistische Ableitung naturwissenschaftlichen Denkens aus dessen sozialer Funktion, sondern zeigte – unabhängig von Haag, aber teils mit den gleichen Bezugsquellen –, in welchem Maße die Logik der Natur- und der Geisteswissenschaften ihrer historischen Departementalisierung und Abspaltung zum Trotz durch die Reflexion und Verleugnung des ihnen zugrunde liegenden Antagonismus von Subjekt und Objekt der Erkenntnis miteinander zusammenhängen, ihre Entgegensetzung also Schein ist.
Auch jenseits des engen Kreises der Horkheimer-Schüler war das Bewusstsein um die Gemeinsamkeit erkenntnistheoretischer Grundsatzfragen in Philosophie und Naturwissenschaft, positiven und spekulativen Wissenschaften, bis in die achtziger Jahre hinein gegenwärtig, etwa in den Arbeiten von Herbert Schnädelbach und Albrecht Wellmer. Dass dieses Bewusstsein seitdem nicht nur aus dem Blick geraten ist, sondern an seine Stelle eine selbst irrationale Begeisterung für vermeintlich evidenzbasierte Fakten und ein neuer pseudowissenschaftlicher Aberglaube treten konnte, müsste einer Kritischen Theorie, die sich ernst nimmt, der dringlichste Gegenstand sein.