Viertes Hauptstück: Von den journalistischen Tugenden
Was ist journalistische Tugend?
Eine Seelenverfassung, deren Willen zum Guten, Wahren und Schönen hinneiget, dann aber rechtzeitig abbiegt.
Wie vielerlei Tugenden gibt es?
Zweierlei: Zum einen gibt es die verlegerischen Tugenden, welche da sind Glaube (an die Kraft der Auflage), Hoffnung (auf die Steigerung der Auflage) und Liebe (zur Höhe der Auflage) und die journalistischen, von denen vier Grund- (oder Kardinal-) Tugenden genannt werden, weil sie die vornehmen sind und großen Einfluss auf alle übrigen Tugenden äußern. Diese sind: Spürsinn (für das Vorhandensein einer Story), Hartnäckigkeit (für das Verfolgen einer Story), Gleichmaß (in der Komposition einer Story) und Prägnanz (in der Präsentation der Story) .
Auf welche von diesen Tugenden muss ein journalistischer Mensch ganz besonderen Fleiß verwenden?
Das Allerheiligste ist das Gleichmaß, welches verhindert, als parteiisch wahrgenommen zu werden. Desobwegen sollten keine Begriffe verwendet werden, die – obwohl zutreffend – »umstritten« sind (und zwar meist vonseiten derer, auf die sie angewendet werden). Deshalb lieber das Rückgrat abgeben, als die Unabhängigkeit in den Augen derer zu verlieren, die sie einem ohnehin absprechen. Wenn schon weggeschwemmt, dann gleich auch weichgespült!
Wie aber ist das heilige Gleichmaß des Einerseits-Andererseits am besten umzusetzen?
Ein oberer Grundsatz ist, dass es zunächst darum geht, nicht gleich durch die Wortwahl den Schleier der Unparteilichkeit zu zerreißen. Terrorismus und Faschismus bloß nicht vorschnell als solche bezeichnen! Wie aber von Humanitätsverbrechen sprechen, ohne Neutralitätsversprechen brechen?
Es gilt, die μεσότης zu wahren – die Lebenslüge der bürgerlichen Gesellschaft von der Mitte aufrechtzuerhalten. Dazu genügt völlig, sich bekenntnishaft dort zu verorten, denn niemand fragt nach dem archimedischen Punkt, von dem aus diese »Mitte« geeicht wird. Dieser sweet spot sind natürlich die herrschenden gesellschaftlichen Normen. Die tautologische Bestimmung der »Mitte« ist demnach die, dass sie sich dort befindet, wo diejenigen, die sich in sie einkuscheln, sagen, dass sie sich befindet. Die Mitte ist dort, wo die Mittemenschen wohnen und wenn die Mittemenschen finden, dass es Aufgabe der Mitte ist, nicht nur Terrorismus zu kritisieren, sondern auch diejenigen, die ihn bekämpfen, dann ist das eo ipso die Position der Mitte. Wenn diese Position dann weiterhin die ist, dass man doch wohl das Recht haben muss, Kritik üben zu dürfen, wenn diese angebracht ist – dieses Recht aber komischerweise primär für ein Land in Anspruch genommen wird, dann ist dies die Richtschnur, an der sich die Berichterstattung zu orientieren hat. Dann werden aus Terroristen schnell militante Kämpfer – zugleich aber (im gegenläufigen Steigerungsausgleich) umstrittene zu besetzten Gebieten. So kann das geneigte, aber kritische Publikum erleichtert ausrufen: »Das nenne ich Ausgewogenheit – dieser Wortbrei ist weder zu kalt, noch zu heiß, den lasse ich mir jetzt schmecken. Da kommt zwar der ranzige Geschmack massenmedialer Bigotterie durch, aber – derart temperiert – auch die Bouquetpyramide der Mitte am besten zur Geltung. Über der Basisnote seriöser Selbstgewissheit eine markante Kopfnote der Absage an jegliche Radikalität mit einer Herznote von Haltung (hier stehe ich und kann nicht anders).«
Es ruft alsdann das äquidistant bleeding liberal heart: »Ich verwahre mich gegen jede Gewalt auf beiden Seiten, aber wo Rauch, da ist oft auch Feuer und niemand mordet gänzlich ohne Grund.«
Welche Tugend und journalistische Fertigkeit kann man gleichsam als Hüterin der übrigen Tugenden nennen?
So wichtig das Austarieren des Einerseits-Andererseits auch ist, gilt im Sinne der Prägnanz zuvörderst: Ober sticht Unter und eine starke Überschrift alles andere. Diese sollte nicht dadurch vermasselt werden, dass ihr Gehalt durch den Text selbst zurückgenommen wird. Nehmen wir dieses Prachtexemplar einer Schlagzeile:
»Israel riegelt Gaza von Wasser, Strom und Lebensmitteln ab«
Es wäre doch schade, wenn dann diese schön kompakte Headline durch Erläuterungen desavouiert würde, die besagen, dass:
- lediglich 10% der Wasserversorgung von Israel stammen, 90% aus den Grundwasserspeichern in Gaza selbst – aus denen aber, da der Grundwasserspiegel nahe an der Oberfläche liegt, durch illegal gebohrte Brunnen (gegen die die Hamas nicht vorgeht, obwohl sie dazu verpflichtet wäre) oftmals zuviel Wasser gezogen wird und die (aufgrund der Nähe zum Mittelmeer) die Gefahr von Verbrackung durch Meerwasser erhöhen.
- was die Stromversorgung in Gaza angeht, 44% des verbrauchten Stroms von der Israel Electric Company gedeckt werden, der über 10 Leitungen geliefert wird, von denen 9 (!) am 7. Oktober von der Hamas während ihrer mörderischen Attacke gekappt wurden, 30% von der Gaza Power Company erzeugt werden (großteils mittels Dieselgeneratoren mit Treibstoff aus Israel, dessen Lieferung zwar eingestellt wurde, die Hamas aber ca. eine halbe Million Liter Diesel gebunkert hat, den sie aber selbstredend nicht der palästinensischen Bevölkerung zur Verfügung stellt) und die verbleibenden 26% von PV-Anlagen kommen, die v.a. im Zuge von UN- und WHO-Programmen installiert wurden – oft auf Krankenhäusern, die sich dadurch zu 70% selbst versorgen können.
- Gaza in puncto Lebensmitteln prinzipiell autark ist und Obst, Gemüse und Fisch nach Israel exportiert – die Fähigkeit zur Selbstversorgung mit Nahrung in den den letzten Jahren unter Hamas-Herrschaft allerdings abgenommen hat.1
Aber egal – bis Dinge richtiggestellt werden (sofern dies geschieht), sind sie bereits Makulatur, weil der nächste Konflikt die Titelseiten deckt. Oft ist es schwer, denen zu widersprechen, die meinen, dass die edelste Form von Medienfreiheit die Freiheit von Medien ist.
Die nächste Folge handelt von den journalistischen Andachts-Übungen.