Am 19. Juli 1915 schrieb Henry Morgenthau Senior, der seit 1913 als US-amerikanischer Botschafter im damaligen Konstantinopel weilte und dort die repressive Minderheitenpolitik der türkischen Regierung aus nächster Nähe verfolgte, an seinen Sohn, Henry Morgenthau Junior:
»The United States as a neutral power have no right to interfere in their [Turkey’s] internal affairs, and as I receive report after report of the inhuman treatment that the Armenians are receiving, it makes me feel most sad, their lot seems to be very much the same as that of the Jews in Russia, and belonging to a persecuted race myself, I have all the more sympathy with them.«1
Die Aussage des US-amerikanischen Diplomaten deutsch-jüdischer Herkunft macht beispielhaft deutlich, wie eng der Zusammenhang des Genozids an den Armeniern und des eliminatorischen Antisemitismus zumindest in der historischen Reflexion war und ist. Morgenthau Senior zog die Pogrome des Zarenreiches als Vergleich hinzu, um zu verdeutlichen, welches Schicksal den Armeniern am Ende des Osmanischen Reiches widerfuhr. Er sprach an dieser Stelle als Angehöriger einer Minderheit, dem bewusst war, was es heißt, immer wieder zu Projektionsfläche und Ziel grausamer Gewalt werden zu können. Das Schicksal der Armenier und der mittel- und osteuropäischen Judenheiten korrespondiert in dieser Hinsicht auf vielfache Weise.
Am armenischen Volk wurde im Wesentlichen zwischen 1915 und 1916 ein Genozid begangen, die systematische Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Menschen. Die Tatherrschaft lag bei dem sogenannten jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt, der Regierung des zerfallenden Osmanischen Reiches. Die Armenier galten in ihren Augen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Christentum als unzuverlässige Kantonisten und Bedrohung für die Einheit des Reiches. Ihre Verfolgung und Ermordung wurde verdeckend als »kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahme« tituliert. Tatsächlich aber waren die Armenier dem sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhunderts ausbildenden türkischen Nationalismus ein Dorn im Auge, da sie weder ein ‚Turkvolk’, noch muslimisch waren. Darüber hinaus hatten sie durch das relativ hohe Bildungsniveau eine höhere gesellschaftliche Stellung, die ihnen benieden wurde. Die äußere Bedrohung des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg durch die Entente-Staaten, insbesondere Russland, nutzten die Jungtürken dazu, die Armenier im Reich zur Fünften Kolonne, zu Feinden im Inneren zu erklären und zu verfolgen. Ihnen wurde mangelnde Loyalität vorgeworfen. Bis heute wird der Genozid an den Armeniern in der Türkei von staatlicher Seite geleugnet.
Das Genozid-Mahnmal Zizernakaberd westlich von Jerevan (Bild: Aleksey Chalabyan (CC BY-SA 4.0 Deed))
Genozide finden immer wieder unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt, auch wenn zeitgenössisch und in der Nachschau das Offensicht-liche immer wieder verleugnet wurde und wird. Den meisten Genoziden ist erstens gemein, dass trotz der Aufmerksamkeit, die ihnen zukommt, den Tätern niemand in den Arm fällt und zweitens, dass die Verbrechen nur in wenigen Fällen geahndet werden. Es überrascht daher wenig, dass sich auch im Kontext der Shoah auf den Genozid an den Armeniern bezogen wurde, auf Seiten der Opfer und der Täter.
Ähnlich wie Morgenthau Senior am Bosporus versuchte, Aufmerksam-keit auf das Schicksal der Armenier zu lenkten, versuchte Henry Morgenthau Junior mehr als 25 Jahre später als Finanzminister der Roosevelt-Administration in den USA Kräfte zu mobilisieren, aktiv gegen das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen. Morgenthau Jr. nahm als einer der Wenigen die Nachrichten über das Schicksal der europäischen Juden ernst, Deutschland wurde ihm aufgrund seiner genozidalen Politik zum Erzfeind. Was es bedeutete, Genozide hilflos beobachten zu müssen, und dass es gegen sie zu kämpfen galt, hatte Morgenthau Jr. von seinem Vater gelernt. Morgenthau Jr. ist heute vor allem dafür bekannt, dass sein detailliertes Wissen und der Schock, den dieses Wissen um das Ende des Judentums auf dem europäischen Kontinent bei ihm auslöste, dazu führte, dass er sich für eine drakonische Bestrafung Deutschlands nach Kriegsende stark machte, die er im sogenannten Morgenthau-Plan ausformulierte. Dort entwarf er die Zerschlagung der gesamten NS-Wirtschaft, die für ihn wie Kartelle bzw. kriminelle Rackets zu bekämpfen waren. Beide Morgenthaus waren Zeugen von Völkermorden geworden und mussten erkennen, dass ihr Protest wenig erreichte. Weder waren die USA wegen des Völkermords an den Armeniern in den Ersten Weltkrieg eingetreten, noch sind sie explizit gegen den Massenmord an den europäischen Juden eingeschritten.
Richard Lichtheim, zionistischer Politiker und Quasi-Diplomat eines noch nicht existierenden jüdischen Staats, war ebenfalls Zeuge des Massakers an den Armeniern geworden. Er hatte sich während des Ersten Weltkrieges in Konstantinopel aufgehalten, um sich im Auftrag der Zionistischen Organisation bei der Hohen Pforte für die Errichtung und Sicherung einer jüdischen Heimstätte in Palästina einzusetzen.2 Jahrzehnte später die Verfolgung und Ermordung der europäischen Judenheiten durch das nationalsozialistische Deutschland vom schweizerischen Genf aus beobachtend, schrieb er am 13. November 1941 in einem Brief:
»We are witnessing the most terrible persecution of the Jews which ever happened in Europe, overshadowing by its cruelty and extent even the massacres of the Armenians during the last war, which at that time provoked a storm of protest in England and America.«3
Das Massaker an den Armeniern durch Jungtürken, so scheint es in der Passage auf, war bis zum Mord an den europäischen Juden das Signum für Massenverbrechen, das sich auch im historischen Bewusstsein Lichtheims eingebrannt hatte. Mit der nationalsozialistischen Mordpolitik trat nun etwas in der Weltgeschichte auf, das das schreckliche Verbrechen an den Armeniern in der Zahl der Opfer um ein unvorstellbares Vielfaches übertreffen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war das Morden bereits in vollem Gange. Lichtheim hatte jedoch schon zuvor begriffen, dass mit dem Nationalsozialismus eine Katastrophe in die jüdische Welt eingebrochen war.
Er hatte sofort erkannt, dass mit dem Beginn der deutschen Herrschaft über den Kontinent die Totenglocken für das europäische Judentum zu läuten begannen, wie es sein langjähriger politischer Freund Vladimir Ze’ev Jabotinsky in seiner Schrift »Die jüdische Kriegsfront« von 1940/41 ausdrückte.4 Jabotinsky und Lichtheim gehörten zum revisionistischen Teil der zionistischen Bewegung, der sich für eine zielstrebigere und kompromisslosere Politik bezüglich der Errichtung einer jüdischen Heimstätte im Mandatsgebiet Palästina aussprach, nicht zuletzt weil sie deutlich vor Augen hatten, welche mörderische Qualität dem Antisemitismus innewohnte, der sich nach der Wahl der NSDAP in Deutschland nun auch hier Bahn brach. Der Genozid an den Armeniern wurde von Juden immer wieder als Chiffre für das eigene Schicksal hinzugezogen, nicht nur von ihren politischen Vertretern. Der Roman »Die 40 Tage des Musa Dagh« von Franz Werfel, der den Genozid an den Armeniern und ihren Widerstand gegen ihre Mörder zum Inhalt hat, war im Warschauer Getto eines der beliebtesten Bücher unter den Erwachsenen. Emanuel Ringelblum, der mit seiner Gruppe »Oneg Schabbat« das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto führte (siehe Versorgerin #138) und so dessen Geschichte und die seiner Bewohner dokumentierte, schrieb in seinem Tagebuch, dass angesichts der androhenden Deportation der Gettobewohner »jeder« an Werfels Roman denken müsse. Angesichts der aussichtslosen Situation in den Gettos erschien den Juden das Schicksal der Armenier als Spiegelung ihrer eigenen Lage.5 Schnell musste den Opfern der Deutschen aber klar werden, dass das, was ihnen widerfuhr, sich nicht mehr durch die Reflexion auf den vorangegangen Genozid an den Armeniern in Worte fassen ließ. War die Shoah auch präzedenzlos, gehört der Mord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern 1915/16 dennoch zu ihrer Vorgeschichte, allein deshalb, weil er vor Augen führte, was bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts möglich gewesen ist.
Auch für die Nationalsozialisten stellte der Völkermord an den Armeniern einen Referenzpunkt dar. Sie hatten wahrgenommen, dass für die Täter von 1915/16 kaum Konsequenzen erwuchsen. So soll Adolf Hitler am 22. August 1939, wenige Tage vor dem Überfall auf Polen, in einer Rede auf dem Obersalzberg Kommandeuren der Wehrmacht folgende rhetorische Frage gestellt haben: »Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?«6 Es war ein genozidaler Auftrag an seine Obersten. Er eröffnete der Wehrmacht, dass er in der SS die Totenkopfverbände aufgestellt habe, die bald »mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod schicken« würden.7 Zwar sprach Hitler hier nicht explizit über die jüdische Bevölkerung, aber mit dem Bezug auf Armenien stellte Hitler seinen Kommandeuren das Ausbleiben nennenswerter Konsequenzen, selbst angesichts größter Verbrechen, in Aussicht.
Gegenwärtig scheint sich erneut ein Zusammenhang zwischen dem Schicksal der Armenier und Juden zu eröffnen. Trotz inzwischen erreichter Staatlichkeit sehen sich beide Bevölkerungen aktuell wieder existenziellen Bedrohungen gegenüber. Von wortwörtlich einem Tag auf den anderen gab es die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Enklave Bergkarabach nicht mehr. Aserbaidschan hat es geschafft, sich das geografisch-spirituelle Zentrum der armenischen Geschichte im September 2023 endgültig zurückzuerobern, ohne dass es international eine merkbare Reaktion gegeben hätte. Auf diese Weise wurde ein langjähriger, komplizierter Konflikt wie im Vorbeigehen gewaltsam ‚gelöst‘. Es scheint, als ob in der aktuellen geopolitischen Lage das Schicksal Armeniens und dessen Anspruch auf die Region Bergkarabach nur noch eine Fußnote wäre. Aserbaidschan nutzte die Schwäche Russlands, der einstigen Schutzmacht Armeniens, die durch dessen Angriffskrieg auf die Ukraine entstanden war, und schaffte Fakten. Doch nicht nur Bergkarabach als armenische Enklave könnte verschwinden. Inzwischen gibt es die Befürchtung, dass Aserbaidschan das geopolitische Chaos, das sich seit dem Massaker der palästinensischen Hamas an israelischen Zivilisten noch vergrößert hat, nutzen könnte, um Armenien anzugreifen. Was die fortgesetzte Aggression Aserbaidschans bringen wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen, in jedem Fall aber bleibt die Situation Armeniens äußert fragil.
Wie bedroht auch das Leben von Jüdinnen und Juden, in Israel und andernorts, nach wie vor ist, hat der Angriff der Hamas auf Israel gezeigt: Dieser war ebenfalls als genozidal angelegt gewesen — es ging und geht der Hamas einzig und allein darum, so viele Jüdinnen und Juden wie möglich zu töten. Der 7. Oktober war eine »genozidale Botschaft« an alle Juden weltweit (Dan Diner), in deren Nachgang antisemitische Angriffe auch außerhalb Israels drastisch angestiegen sind. Die Hoffnung der Überlebenden der Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts und deren Nachkommen auf eine gesicherte Existenz ist in ihren Grundfesten erschüttert worden und erneut blieb eine empathische Reaktion der Weltöffentlichkeit weitgehend aus.
Henry Morgenthau Senior und Richard Lichtheim stehen beide exem-plarisch für die Bemühungen, die internationale Diplomatie für das Schicksal der jeweils Verfolgten zu interessieren. Beide blieben weitestgehend erfolglos, stießen auf Unglauben und Desinteresse. Aktuell ist ein ausgesprochenes Nicht-Interesse an dem Konflikt um Bergkarabach zu beobachten, und auch im Falle des antisemitischen Massakers der Hamas in Israel setzte trotz enormer medialer Aufmerksamkeit Unglauben, ja, Leugnung ein. Dieselben Tiktok-Kanäle, die die Taten der Hamas verbreiteten, gingen wenige Tage später dazu über, die Taten auf ihren Kanälen zu leugnen. Dieses Moment begleitet so gut wie jede genozidale Tat, nur die Wahl der Mittel ändert sich durch den Lauf der technischen Entwicklungen entsprechend.