Räumung des öffentlichen Raumes

Paul Schuberth schreibt über die steigende institutionalisierte und »zivilgesellschaftliche« Gewalt gegen Obdachlose.

Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt. Zugegeben, diese Behauptung beruht auf einer Umfrage unter sogenannten Expats. Aber womöglich genießen diese an Wien auch, nicht permanent durch allzu sichtbare Armut anderer auf ihre eigenen Privilegien hingewiesen zu werden. Würden sich Lifestylemagazine für die Meinungen und Vorlieben von Obdachlosen interessieren, könnte das Ergebnis einer entsprechenden Befragung ähnlich lauten: Die Aufstockung der Notschlafstellen sei bisher »ganz gut angenommen« worden, urteilten verschiedene Mitarbeiter der Notquartiere Wiens im August dieses Jahres. Nach einer Mord- und Mordversuchsserie an obdachlosen Menschen im Sommer war diese Maßnahme notwendig geworden. Die zitierte Formulierung wirft Fragen auf: Wie schafft man es, an ihr unerträglich zu finden, dass sie Obdachlose zu Kunden umlügt, die immerhin zwischen dem gefährlichen Angebot der Straße und dem der Notschlafstelle entscheiden können; ohne zu übersehen, dass die Formulierung auch für Respekt vor Obdachlosen und ihrem freien Willen steht, und dass der Obdachlose als Kunde zumindest rhetorisch eingemeindet bleibt? Ist es möglich, es befremdlich zu finden, wie plötzlich Mittel für zusätzliche Schlafplätze freigemacht werden können – obwohl Meldungen über überfüllte Quartiere auch sonst nichts Seltenes sind –, wie Obdachlosigkeit also als je nach Lage zu regulierendes Naturphänomen aufgefasst wird; ohne zu übersehen, dass die adäquaten Maßnahmen für ein Maß an Empathie und sozialer Verantwortung sprechen, das beim aktuellen Stand der Verrohung gar nicht mehr zu erwarten war? Zum freien Willen ist vielleicht zu sagen: Der Obdachlose ist in der Entscheidung zur Nacht unter der Brücke so frei wie der Magistratsbedienstete in seiner, fehlerhafte Wohnbeihilfs-anträge ablehnend zu beantworten – will er sich auf lange Sicht sein Dach über dem Kopf finanzieren. Und zur Beantwortung der zweiten Frage lohnt ein Blick in Länder, in denen Obdachlosigkeit zunehmend als »unnatürliches« Phänomen aufgefasst wird, gegen das repressiv vorgegangen werden muss.

 

Lager von Obdachlosen in Highland Park/Los Angeles, das nach einem »encampment sweep« verlassen wurde. (Bild: Levi Clancy (CC BY-SA 4.0 Deed))

 

Es ging schnell im Vereinigten Königreich: Sollten die »eviction bans« (Stopp der Delogierungen) während des ersten Pandemiejahres der zunehmenden Obdachlosigkeit noch etwas entgegensetzen, so sind die Wohnungsräumungen seit der Aufhebung der Maßnahme im Juni 2021 offenbar einfach nachgeholt worden. Die Zahl der Menschen, die in allen Arten von Notunterkünften oder auf der Straße schlafen müssen, steigt so schnell wie die Gewinne der größten Immobilienkonzerne im UK. Aber die Politik bleibt nicht untätig. Zumindest gegen die Sichtbarkeit dieses Problems könnte nun rigoros vorgegangen werden, wie die britische (mittlerweile Ex-)Innenministerin Suella Braverman vorschlug. Auf der Straße in Zelten zu schlafen, sei eine »Lifestyle«-Entscheidung, die verboten werden müsse, verlautbarte Braverman. Nach ihren Plänen sollten Freiwillige, die Zelte an obdachlose Menschen verteilen, mit Strafen zu rechnen haben. Ob ihre Nachfolge diese Pläne weiterverfolgt, wird sich zeigen. Wo Armenbekämpfung so offensiv und selbstbewusst gefordert wird, helfen einem auch die alten Analysemittel nichts mehr – mit denen man früher noch auseinandersetzte, dass das herrschende Vorgehen gegen Armut doch eher eines gegen arme Menschen sei. Zwar unterstützte Premier Rishi Sunak die Pläne seiner Innenministerin nicht. Um trotzdem eine ähnliche Politik jeden Tag umzusetzen, war er auf diese aber auch nicht angewiesen.  2021 versprach die britische Regierung, den »Vagrancy Act« aus dem Jahre 1824 abzuschaffen, ein Gesetz, das bis heute dazu genutzt wird, Obdachlosigkeit und Betteln zu kriminalisieren. Seit dem Versprechen der Regierung wurden (Stand April 2023) 1173 Menschen unter diesem Gesetz verhaftet. Während der »Vagrancy Act« noch immer nicht abgeschafft ist, gesellt sich zu ihm schon sein künftiger Ersatz: Im April veröffentlichte das Innenministerium einen 48-seitigen »antisocial behaviour action plan«. Beim Entfernen von Obdachlosen von Gehsteigen und Geschäftsein-gängen wird man bald nicht mehr auf ein Gesetz zurückgreifen müssen, das vor 200 Jahren zur Auflösung von illegalen Camps von arbeitslosen Kriegsveteranen geschaffen wurde, sondern auf ein zeitgemäßes, das sich auf das Entfernen von Obdachlosen von Gehsteigen und Geschäftseingängen bezieht. Auch in etlichen Bundesstaaten der USA wurden im vergangenen Jahr Anti-Obdachlosen-Gesetze verabschiedet. In Missouri wurde das Verbot, im öffentlichen Raum zu schlafen, mit dem Stopp der staatlichen Förderung von Notunterkünften verknüpft, wo Menschen noch vorübergehend halbprivater Raum zur Verfügung gestellt wird. In Houston werden Menschen, die Essen an Obdachlose verteilen, mit einer Geldstrafe belegt. Auf Übernachtung im Zelt unter einer Brücke steht in Tennessee seit Juli 2022 eine Gefängnisstrafe, und in Los Angeles und Portland traten Restriktionsmaßnahmen gegen Zeltlager in Kraft. Diese Zeltlager, in denen sich obdachlose Menschen unter anderem aufgrund des besseren Schutzes und des Gemeinschaftsgefühls zusammenschließen, sind als Massenphänomen relativ neu. Nun haben sich allerorten brutale Räumungsaktionen (»encampment sweeps«) eingebürgert, die von den jeweiligen städtischen Polizeitruppen durchgeführt werden. Dabei wird das Hab und Gut der betroffenen Personen (Zelte, haltbares Essen, …) zerstört oder weggeworfen. Zeltlager, ein Ergebnis von Wohnungsräumungen, dürfen nicht sein. Solche gewaltvollen Aktionen gehören mittlerweile zum Alltag: In Seattle war im Jahr 2022 durchschnittlich mit 2,5 solcher »encampment sweeps« pro Tag zu rechnen. Nur in Portland verschaffte die Tatsache, dass die finanziellen Mittel für weitere Räumungen nicht aufgetrieben werden konnten, den Bewohner*innen der Zeltlager kurzfristig Ruhe vor derartigen behördlichen Überfällen. Getreu der Einsicht, dass ein Saubermann-Image für politischen Erfolg nicht mehr reicht, inszeniert sich besonders der New Yorker Bürgermeister Eric Adams als skrupelloser Säuberungsmann. Unter seiner Ägide nahm die Zahl der Räumungen, an denen sich mit der »Strategic Response Group« (SRG) auch die Anti-Terror-Einheit der New Yorker Polizei beteiligt, weiter zu. Seinen Plan, obdachlose Menschen von U-Bahnsteigen und aus den Zügen selbst zu vertreiben, stellte er vergangenes Jahr mit den Worten vor: »Man kann kein Pflaster auf ein Krebsgeschwür kleben. Man muss den Krebs entfernen und den Heilungsprozess starten.« 

Diese strukturelle, aber auch direkte behördliche Gewalt – die als Chance und Schutz für die Betroffenen zu verkaufen versucht wird – wird von einem massiven Anstieg nicht-institutioneller Gewalt gegen obdachlose Menschen begleitet. Die Mordserie in Wien, oder der schreckliche Fall in Horn-Bad Meinfeld (Nordrhein-Westfalen) diesen Oktober, bei dem Jugendliche einen Obdachlosen erstachen und die Tat dabei filmten, sind keine Einzelfälle. Sie reihen sich in einen globalen »Trend« ein. Zunächst: Gewalt zu erfahren, stellt für obdachlose Menschen keine absolute Ausnahme dar. Bei einer aktuellen Befragung in England und Wales gaben 35 % der obdachlosen Menschen an, während ihrer Obdachlosigkeit geschlagen oder getreten worden zu sein oder ähnliche Formen von Gewalt erlebt zu haben, 9 % geben an, anuriniert worden zu sein, und knapp die Hälfte gibt an, Gewaltdrohungen erhalten zu haben. In den USA, wo die Obdachlosigkeit zwischen 2005 und 2022 um 
30 % gestiegen ist, ist die nackte Zahl der Obdachlosenmorde nicht mehr an den wenigen helfenden Händen abzuzählen. Die Aktivist*innen von HomelessDeathCounts.org dokumentierten (Stand: März 2023) 1285 Morde seit 2010, wobei die wahre Zahl noch um einiges höher liegen dürfte. Alleine im Jahr 2019 verloren 73 obdachlose Menschen durch Gewalt in einer einzigen Stadt, Los Angeles, ihr Leben. 2022 waren dort 24 % der Mordopfer Obdachlose; Mord war 2020/2021 in der Altersgruppe der unter-fünfzigjährigen Obdachlosen die zweithäufigste Todesursache. Im Santa Clara County war zwischen 2015 und 2020 ein 514-prozentiger Anstieg an entsprechenden Morden zu beobachten, in New York ein Anstieg um 93 %. Manche dieser Fälle schlagen hohe Wellen. Am 1. Mai 2023 wurde in der New Yorker U-Bahn Jordan Neely, ein 30-jähriger Obdachloser und ehemaliger Michael-Jackson-Darsteller, von einem ehemaligen Marinesoldaten durch einen minutenlangen Würgegriff getötet. Zuvor hatte Neely im Zug geschrien, dass er hungrig und bereit zu sterben sei, sowie seine Jacke auf den Boden geworfen. Wenige Zeit nach der Tötung Jordan Neelys veröffentlichten verschiedene Medien sein Vorstrafenregister und stigmatisierten ihn als Gefährder, während republikanische Politiker den Marinesoldaten – der ihnen zufolge offenbar mit Zivilcourage in einer brenzligen Situation eingeschritten war – als Helden bezeichneten. In Jordan Neelys entsetzlichem Fall verdichten sich zwei Tendenzen: zum einen das immer höhere Risiko für obdachlose Menschen, Opfer eines Gewaltverbrechen zu werden; zum anderen die Tatsache, dass sie in den meisten Medien viel eher als Gefährder und Täter denn als Betroffene dargestellt werden. Selbstverständlich werden auch manche Obdachlose zu Mördern; auch gibt es Morde »unter« Obdachlosen. Hier sind die Motive zu unterschiedlich, um sie verallgemeinern zu können. Mitunter geben Passanten brutale Gewalt als Antwort auf akute psychotische Krisen von obdachlosen Menschen. Drogenkonsum kann das Auftreten solcher Krisen begünstigen. Umfragen ergeben jedoch, dass Obdachlose Drogen teilweise bewusst einsetzen, um in der Nacht wach bleiben und sich vor Angriffen schützen zu können. Ein Teufelskreis. Bei einem Teil der Obdachlosenmorde handelt es sich um Hassverbrechen, denen durch die herrschende Stimmung einer Dämonisierung und Dehumanisierung (»Krebsgeschwür«) und durch alltägliche behördliche Gewalt nicht gerade entgegengearbeitet wird. Dazu gehören wohl die Taten des Immobilienmaklers, der 2021 in Miami zwei obdachlose Menschen ermordete, oder der Anschlag auf eine Notunterkunft in San Diego im Jänner dieses Jahres. Auch in Deutschland verübten in den letzten Jahrzehnten Rechtsextreme eine Reihe von Anschlägen auf obdachlose Menschen (siehe dazu das Buch »Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus« von Lucius Teidelbaum): ein Sozialdarwinismus der Tat, mit dem Hass auf alles Schwache, besonders das ungeschützt Schwache, als Urgrund. Untersuchungen, die einen zeitlichen Zusammenhang zwischen ökonomischen Einbrüchen wie der Rezession 2007/2008 und einem Anstieg der Gewalt gegen Obdachlose zeigen, drängen eine weitere Erklärung auf. Der Obdachlose wird um die ihm attestierte bequeme Verantwortungslosigkeit beneidet. So wird die Verklärung seiner Situation zum Ausgangspunkt eines Vernichtungs-wunsches. Zudem stellt Obdachlosigkeit eine den Produktionsmittel- und Immobilienbesitzern willkommene permanente Drohung dar, was geschieht, wenn nicht anständig geschuftet wird. Mord kann, bleiben großangelegte soziale Wohnungsbauprogramme aus, die brutalste Möglichkeit sein, sich dieser Drohung zu entledigen.

Studien aus den USA legen nahe, dass die Kriminalisierung obdachloser Menschen dem braven Steuerzahler drei Mal mehr kostet, als ihnen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Obdachlosigkeit soll so sichtbar bleiben, dass das Drohungspotential nicht erlischt, aber auch so wenig sichtbar, dass die Bevölkerung kein großes Versagen bei der Politik ortet. Eine konsequente Housing-First-Politik ist aber auch in den europäischen Sozialstaaten nicht umsetzbar. Dazu müssten Zwangsräumun-gen abgeschafft werden, oder menschenwürdiger, Privatsphäre gestattender Wohnraum für betroffene Menschen bedingungslos zur Verfügung gestellt werden. Das würde aber den Erpressungsspielraum der Menschen, die es sich leisten können, sich Immobilieneigentum bauen zu lassen, gegenüber denen, die ihnen das mit Profit danken sollen, unakzeptabel verkleinern. Selbst im Vorbildland Finnland befürchten Expert*innen, nach der Kürzung des Wohngeldes durch die rechte Regierung, einen Anstieg der Obdachlosigkeit. Neues Unterrichtsmaterial des Board of Education stimmt Dritt- und Viertklässler schon auf den richtigen Umgang damit ein: In den Lehrmaterialien werden die Kinder dazu angehalten, das Aussehen und Verhalten von »Spurgu« und »Puliukko« (abwertende Begriffe für obdachlose suchtkranke Menschen) zu diskutieren. Musterantworten: »ein Spurgu riecht schlecht«, »ein Spurgu spricht mit sich selbst«, »ein Spurgu war früher ein ganz normaler Mensch«.