Geschätzter Freund! Gestatte, daß ich, wie jeder Historiker, der auf sich hält, mit der Topographie und der Tektonik beginne.
Das Land Kärnten ist durch mehrere Gebirge von der Außenwelt abgeschlossen. Noch in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war eine Reise nach Kärnten ein verkehrstechnisches Abenteuer. Gefährliche Gebirgsstraßen, im Schrittempo fahrende Züge, Banditentum in den Gasthöfen und fehlende Anbindungen an internationale Hauptverkehrsrouten prägten das Bild. Es ist daher verständlich, daß die Kärntner Bevölkerung eine Neigung zur Klaustrophobie entwickelte, die sich in einer kollektiven Wagenburgmentalität manifestiert. Wer sich von der Welt abgeschottet sieht, bekämpft den Makel, indem er die eigene kleine Welt zum Nabel derselben erklärt. So kommt es, daß die Kärntner nicht müde werden, ständig und unaufgefordert zu betonen, daß sie im schönsten Land Europas wenn nicht der Welt leben. Die schneebedeckten Gipfel, die in Kärnten weltberühmten Seen, die Sommerschlösser des Zollfelds und die Sakralbauten des Gurktals, die den Charme von Kommandobunker der Maginot-Linie ausstrahlen, werden von jenen, die praktisch und geistig nicht über die Randgebirge hinausgekommen sind, zur Vollendung der Schöpfung erklärt.
Die verkehrstechnische Lage hat sich erst in den letzten Jahren gebessert, seit 2009 verbindet eine vierspurige Autobahn Triest mit Wien, Kärnten rückte dadurch zu einem unschwer zu passierenden Transitland auf. Wenig später wurde allerdings die Eisenbahnverbindung nach Venedig eingestellt.
Vom historischen Standpunkt kann das Gebiet des heutigen Kärnten auf eine große Vergangenheit unter den Kelten, Römern und Karolingern verweisen, damals öffnete Karantanien sich zur mediterranen Welt und den damit verbundenen künstlerischen und gesellschaftlichen Aufbrüchen. Im Spätmittelalter und in der Renaissance begann jedoch ein rasanter Abstieg, in der Neuzeit verfestigte sich dieser und seit rund hundertfünfzig Jahren steckt Kärnten in den Klauen eines dumpfen und bösartigen Deutschnationalismus, den man in Kärnten allein deshalb nicht Chauvinismus nennen soll, weil die Einwohner infolge des inferioren Schulsystems und dem krötenhaften Hockenbleiben auf Minderwertigkeitskomplexen und Ressentiments aller Art den Begriff nicht verstünden.
Die »Aktion Reinhardt«, wie die industrielle Vernichtung von zwei Millionen jüdischen Menschen in Ostpolen genannt wird, sowie die Massentötung von Angehörigen der slowenischen Volksgruppe und behinderten Menschen, waren das Werk von Himmlers »besten« Männern, nicht mehr als sechzig fanatischen Kärntner SS-Führern, unter ihnen Ärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure. Namen wie Globocnik, Rainer, Lerch, Niedermoser und Ramsauer stehen für die abscheulichsten Schandtaten, die die Geschichte gesehen hat.
Nach der Befreiung Kärntens durch slowenische Partisanen und die britische Armee wurden einige Massenmörder in Klagenfurt angeklagt, nach dem Abzug der Engländer kamen sie aber allesamt frei und nahmen sehr bald wieder als Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Unternehmer, Lehrer und Politiker leitende Positionen im öffentlichen Leben ein. Einige emigrierten auch mit Hilfe des im Vatikan lebenden österreichischen Bischofs Alois Hudal nach Lateinamerika oder Syrien und Ägypten (Rattenlinie). Sigbert Ramsauer, ein Arzt, der sein Handwerk in den Konzentrationslagern Hartheim, Mauthausen und Buchenwald, Loibl und anderen erlernte und kranke Häftlinge mittels Eisduschen, Organentnahmen bei lebendigem Leib und Benzininfusionen ins Herz traktierte, arbeitete nach dem Krieg im Landeskrankenhaus Klagenfurt und führte eine Ordination im Zentrum der Stadt. Er starb erst in den neunziger Jahren, hochbetagt, im Kreise der Familie, versehen mit allen Orden und Ehrungen, die das Land Kärnten für seine Besten zu vergeben hat und mit der Versicherung auf den Lippen, er würde alles noch einmal genauso machen.
Die Wertschätzung von Massenmördern ist identitätsstiftender Teil des unablässig beschworenen Deutschkärntnertums, wie es sich in Gailtaler Speckfesten, Wettkämpfen um die fetteste Kärntnernudel und das schmalzigste Heimatlied, vorgetragen von drallen Dirndl- und Lederhosenträgern, manifestiert. Geradezu zwanghaft blitzt bei derartigen Zusammenrottungen des Volkstums, die von der Landesregierung mit hohen Geldbeträgen gefördert werden, unter den bunten Trachtentüchlein der schwarze Rock mit den Totenköpfen auf den Uniformspiegeln hervor.
Die braune Saat fiel auf einen fruchtbaren Boden. In Kärnten sind die Nachfahren der Mörder ungebrochen vom Edelmut ihrer Eltern und Großeltern überzeugt, die in schwerer Zeit alles gaben, um das Volkstum zu schützen und sei es bei der Vergasung von behinderten Kindern in oder beim »Abspritzen« von Patienten im »Hinterhaus« der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses. Regelmäßig machen diese Herrschaften, deren Vermögen einschließlich spätromantischer Seevillen nicht selten nach 1938, nach der Vertreibung der jüdischen Besitzer, ihren Ausgang nahmen, ihrem Herzen Luft, indem sie in Leserbriefen unbedeutende Zugeständnisse an die slowenische Minderheit hysterisch beklagen und das Gedenken an den verunglückten Landeshauptmann, dessen Reichtum ebenfalls auf eine arisierte Immobilie, ein ausgedehntes Gebirgstal, zurückging, hochhalten. Während in anderen Teilen Europas zumindest einige Kinder- und Kindeskinder der Kriegsverbrecher sich ernsthaft und nicht ohne seelische Mühen mit den Greueltaten ihrer Vorfahren auseinandersetzen, ist in Kärnten kein derartiger Fall bekannt. Die Söhne und Töchter der Mörder konzentrieren sich hier auf das Erlangen von Motorbootlizenzen für den Wörthersee und die Veranstaltung von Schlagerfestivals in Bad Kleinkirchheim. Im übrigen schicken sie ihre Kinder auf Privatschulen, verbringen Pfingsten im nahen Grado auf ihren Motoryachten und veranlagen den von ihren Vätern in ganz Europa zusammengeraubten Schmuck und anderes Kapital in Liechtenstein und in der Schweiz. Die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit läßt sich in Kärnten in einem Satz zusammenfassen: Man genießt und schweigt.
Das Bild wäre unvollständig, würde man zu Kärntens unlöschbarer Schande nicht hinzufügen, daß die Schonung und Förderung von stolz bekennenden Kriegsverbrechern nicht nur auf Seilschaften ehemaliger SS-Angehöriger zurückzuführen ist, sondern wesentlich auch von sozialdemokratischen und christlichsozialen Polizeibehörden, Richtern und Staatsanwälten mitgestaltet wurde. In den fünfziger und sechziger Jahren war die SS-Dichte unter der sozialdemokratischen Kärntner Elite bei weitem die höchste im deutschen Sprachraum. Das Bild vom »politischen Punschkrapferl« – außen rot, innen braun – hat hier seinen Ursprung.
Gegen das Kärnten des »Ortstafelsturms« Mitte der siebziger Jahre war das strammrechts regierte Bayern des Franz Joseph Strauß ein Hort der Moderne und der Aufklärung. Dieser Zivilisationsabstand ist heute größer denn je.
Das Kriminalstück um die Kärntner Landesbank wäre nie an die Öffentlichkeit gelangt, wäre nicht die Bayrische Vereinsbank in die von langer Hand vorbereitete und bis zu den politischen Führungsspitzen reichende Finanzverschwörung hineingetappt, die sich in einem illustren politischen Umfeld ereignete, in dem sich libyische Diktatorensöhne, kroatische Ustascha-Mörder, irakische Antisemiten, italienische Mafiaboten, heimische Waffenproduzenten, Rechtsradikale aus Flamen und Nationalisten aus Ungarn und Litauen wohlig eingerichtet hatten. Dazu gesellten sich noch zwielichtige Oligarchen aus Rußland, halbseidene Finanzinvestoren aus Saudi-Arabien, größenwahnsinnige Industriemagnaten aus Kanada und abgehalfterte Bundespolitiker, die zu Okkasionspreisen an ausgedehnte Seegrundstücke kamen. Zwischen den Repräsentanten des organisierten Verbrechens wuselten braungebrannte freiheitliche Jungpolitiker und deren Sekretäre, die mit ihren deutschen Sportwagen Geldkoffer durch halb Europa kutschierten.
So wie die Nazi-Kriegsverbrecher in Kärnten ungeschoren blieben und mit Heimatverdienstorden überhäuft wurden, werden die lokalen Verantwortlichen für den zwanzig Milliarden Euro teuren Immobilien-, Steuer- und Finanzbetrug, sowie jene Politiker, die den dadurch verursachten Bankrott der Landesfinanzen zu verantworten haben, von den Landesbehörden verschont. Seit jeher stand die Klagenfurter Staatsanwaltschaft im Ruf einer für politische Liebedienerei besonders anfällige Justizbehörde. Verfahren gegen bestochene Politiker, im Hintergrund abkassierende Treuhänder und willfährige Bankmanager wurden und werden in Klagenfurt grundsätzlich niedergelegt. …
Daß in diesem Land von der halben Größe Israels eine qualifizierte Minderheit von Antifaschisten, unter ihnen Ärzte, freiberuflich Tätige, Wissenschaftler der Universität Klagenfurt, Vertreter der slowenischen Minderheit und Aktivisten der autonomen Behindertenbewegung bis heute überleben, läßt sich nur mit dem Fortwirken von Traditionen der Partisanen erklären und muß als europäisches Wunder gewertet werden. …
Mit den zuletzt genannten Menschen, lieber Freund, sollst Du Kontakt pflegen. Du bist ein aufmerksamer und wachsamer Mann und wirst sie ohne Schwierigkeit erkennen. Wenn doch bei dem einen oder anderen Zweifel auftauchen sollten, wende Dich ohne zu zögern an mich. Wie Du weißt, verbringe ich viel Zeit mit der Erfassung von Daten. Mein Archiv ist mein Stolz und meine Waffe, es ist der Kärntner Zeit voraus, weil es die Vergangenheit ausbreitet, mit Name und Anschrift. Es wird, wenn die Zeit gekommen ist, die Kärntner Verhältnisse zum Tanzen bringen. Aber noch ist es nicht soweit, noch geht das Unrecht einher mit sicherem Schritt. Und ich schärfe das Archiv.
Lieber Freund,
zum Schluß noch zwei Warnungen und eine Empfehlung. Meide Dorffeste und Brauchtumsveranstaltungen – die Jungmänner hier nehmen sofort Witterung auf, wenn etwas Fremdes auftaucht, und sie verteidigen ihr Revier mit abgebrochenen Bierflaschen. Die zweite Warnung: hüte Dich auch vor dem Kärntner Jungwein, er wird zwar in Flaschen abgefüllt, aber mehr hat er mit jenen Gewächsen, deren Produkte wir schätzen, nichts gemein.
Hingegen empfehle ich dir selbstgebrannten Slivowitz aus dem ehemaligen »Bandengebiet«, jenem Teil Südkärntens, in dem die slowenischen Kärntner leben. Dieser Schnaps macht Tote lebendig, aber nur die Guten. Die Bösen verwesen umso schneller.