Aus Stuttgart ist etwa der Grafiker und Fotograf Günther Ahner angereist. Er ist einer der rund zwanzig Ehrenamtlichen, die hinter dem live Websender flügel TV stehen. Aus einer simplen Webcam, die ein engagierter Bürger in seinem Fenster aufgestellt hatte, um die anfangenden Abrissarbeiten am Nordflügel des Bahnhofs zu dokumentieren, ist im Herbst 2010 binnen kürzester Zeit ein Websender entstanden, der Ereignisse rund um den Widerstand gegen das umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21 festhält.
Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche sind die Kameras auf Bauarbeiter, Demonstranten und Polizisten gerichtet. Zu Spitzenzeiten schalten sich bis zu 500.000 Zuseher aus der ganzen Welt zu, darunter viele abgewanderte Stuttgarter. Ungeschnitten und unkommentiert will flügel tv berichten, anders als die klassischen Medien, meint Günther Ahner. Als ich frage, wie zufrieden er mit der klassischen Medienberichterstattung ist, schaltet sich sein Nachbar ein: Die Medien im Umkreis von Stuttgart, hätten über Ereignisse wenig und sehr einseitig berichtet, meint Jo Fabian Langer. »Die Zeitungen haben im Wesentlichen Pressemitteilungen der Polizei unhinterfragt übernommen«. Auch Langer ist in Stuttgart als Volksreporter, wie er sich nennt, unterwegs. Er arbeitet ehrenamtlich für den Websender Cams21, der ebenfalls »von unten« berichtet. In Wien ist er, um sich mit anderen Aktivisten und Aktivistinnen auszutauschen. Denn trotz dem Immer und Überall der sozialen Medien: Ohne Treffen im physischen Raum geht die politische Arbeit nicht. Am zweitägigen Camp trifft er auf eine bunte Truppe, die von Bürger- und Medienaktivistinnen bis hin zu Mitarbeitern von NGOs und größeren Organisationen wie Kirche oder Gewerkschaften reicht.
Der gute alte Blog
Im Gespräch vertieft sind auch der österreichische Blogger und Webentwickler Luca Hammer und Niels Pawlik, Aktivist und Mitarbeiter der deutschen Gewerkschaft verdi. Luca Hammer ist einer der vielen Autoren des dicken und höchst spannenden Wälzers »Soziale Bewegungen und Social Media«, das vor einem Monat erschienen ist und dem Camp als Diskussionsgrundlage dient. Als Handbuch für den Einsatz von Web 2.0 liefert es ein Reihe von Fallbeispielen: von bloggenden Betriebsräten und Arbeitnehmerinnen, die Missstände in ihrem Unternehmen an die Öffentlichkeit bringen, Onlinekampagnen diverser NGO‘s und Bürgerinitiativen und Erfahrungsberichten etwa aus der unibrennt-Bewegung. Aber auch die Do´s und Dont´s im Umgang mit Sozialen Medien fehlen nicht. So raten die Autoren einhellig zur Vorsicht bei der Nutzung von Facebook und Twitter, die ja im Grunde weniger hehren, also ökonomischen Interessen nachgehen. Dementsprechend sollten sie nur als Distributionsapparat verwendet werden. Die Inhalte sollen aber woanders liegen. Etwa auf einem Blog. Diese beinahe schon altmodischen Publizistentools sind für Christian Voigt immer noch das Herzstück für NGOs und Aktivisten. Der Soziologe war und ist in der unibrennt-Bewegung und in der Besetzung des Augartenspitzes involviert. Hauptsächlich beschäftigt er sich als Soziologe seit fünf Jahren akademisch mit den Möglichkeiten, das Mediensystem dissident zu nutzen. Blogs ermöglichten für ihn den höchsten Grad an Autonomie, weil sie nichts anderes als eine Datenbank sind, von wo aus die Inhalte schnell woanders hin transferiert werden können.
Nachdenkende Bloggeropas
Ein bisschen was an der öffentlichen Debatte verschieben möchte auch Wolfgang Lieb. Er ist einer der Herausgeber der Nachdenkseiten, einem der bedeutendsten politischen Blogs in Deutschland, das sich mit der öffentlichen Meinungsmache hauptsächlich in den Bereichen Wirtschafts- und Bildungspolitik beschäftigt. Eines der zentralen Themen der Nachdenkseiten ist derzeit die Eurokrise. Besonders interessiert die Schreiber des Blogs, wie es im öffentlichen Diskurs gelungen ist, die Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise umzudeuten. »Die Staatsschuldenkrise ist jedoch nur aufgrund der Finanzkrise entstanden«, betont Lieb. Täglich zieht das Blog an die 60.000 Besucher an. Hauptsächlich Journalisten, Gewerkschaftsmitarbeiter, Lehrer sowie Studierende und Menschen aus dem kirchlichen Bereich. Sie erwarten alternative Analysen und Kommentare, die im öffentlichen Diskurs oft untergehen oder ganz fehlen.
Wolfgang Lieb, der sich mit seinen 67 Jahren gern als Bloggeropa bezeichnet, sieht sein ehrenamtliches Engagement in der Pension als Fortsetzung seiner beruflichen Tätigkeit. Er war Regierungssprecher Nordrhein-Westfalens unter Johannes Rau. Neben den Herausgebern hat das Blog an die dreißig ehrenamtliche Mitarbeiter.
Kampagne 2.0
Aus Brüssel angereist ist Ani Degirmencioglu. Die Mitarbeiterin der österreichischen Arbeiterkammer koordiniert dort gerade eine Webkampagne für eine europäische Finanzreform. Allem voran geht es derzeit um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Die Homepage europeansforfinancialreform.org bietet neben prägnanten Informationen zur gewünschten Steuer auch einen Einblick in den Gesetzesprozess der EU.
Sehr vereinfacht ausgedrückt: die Europäische Kommission, die in der EU als einzige Gesetze vorschlagen darf, lädt Bürgerinnen und Bürger ein, sich auf einer Homepage an der sogenannten Gesetzeskonsultation zu beteiligen.
»Diese Konsultation ist sehr kompliziert, die Fragen sind umständlich formuliert und nur auf Englisch. Wir haben die Fragen vereinfacht. Eine standardisierte Antwort in siebzehn Sprachen verfasst und dafür gesorgt, dass so viele Menschen wie möglich am Konsultationsprozess teilnehmen,« so Ani Degirmencioglu. Sie ist überzeugt, dass die europäische Transaktionssteuer kommen wird. Es wird aber unter Umständen noch etwas länger dauern.
Keine Chance ohne Offline Aktivismus
Nach dem zweitägigen Camp über soziale Bewegungen und soziale Medien und einer Fülle an Arbeitskreisen, Diskussionen und Workshops ist für Werner Drizhal eines klar: So eine bunte Veranstaltung hätte es im ÖGB noch nie gegeben. Drizhal ist bei der Gewerkschaft für Privatangestellte für Bildungsarbeit zuständig und bietet unter anderem Blogschulungen für Betriebsräte. Gewerkschaften hätten, was die Nutzung sozialer Medien anbelangt, sicherlich einiges aufzuholen. Dennoch: mit Webaktionismus allein, so Drizhal, ist es noch lange nicht getan. »Social Media ist für Kommunikations- und Informationszwecke unheimlich wichtig. Aber einen Streik gewinnen wir nur mit den Menschen vor Ort.«
http://camp.sozialebewegungen.org
http://www.fluegel.tv
http://cams21.de
http://www.nachdenkseiten.de
http://europeansforfinancialreform.org