Am Taubenmarkt

Eine Groll-Geschichte.

»Warum haben Sie mich hierher bestellt«, fragte der Dozent und schüttelte Herrn Groll die Hand.
»Weil ich wußte, daß Sie an der Uni eine Vorlesung über ‚Jugendkulturen und Gewalt‘ halten. Und zweitens, weil der Taubenmarkt jener Platz in Linz ist, an dem Fragen des gesellschaftlichen Lebens öffentlich verhandelt werden.«
Der Dozent sah sich um. »Ich sehe keine Tauben.« 
»Aber es gibt Waldviertler Würste – falls der Würstelstand geöffnet hat.«
»Ich komme von dort. Waldviertler gibt es nicht, dafür eine Joe Biden Käsekrainer.« 
»Entsetzlich«, sagte Groll und schüttelte sich. 
»Aber ich sehe alte Menschen, die auf den Bänken sitzen oder vor den Auslagen stehen. Mit einer Tüte in den Händen. Einer Tüte voll Brot.«
»Sie haben recht«, sagte Groll. »Obwohl es hier keine Tauben gibt, werden sie gefüttert. Falls sich irrtümlicherweise doch eine Taube auf den Platz verirren sollte …«
»Wurden die alten Herrschaften hierher beordert«, führte der Dozent den Gedanken fort. 
»Hoffentlich nicht unter der Androhung von Sozialkürzungen«, schloß Herr Groll den Gedanken ab. »Halloween ist ja noch verwerflicher und dümmer als ‚Licht ins Dunkel‘, und das will etwas heißen. Ein Karneval von Neonazis und geistigen Himmelsstürmern.«
»Vor wenigen Wochen ereignete sich hier auf dem Taubenmarkt ein öffentlicher Aufruhr, veranstaltet von über hundert vorwiegend afghanischen und syrischen Jugendlichen – eine Halloween-Feier im Zeitalter der ‚social medias‘. Sie bewarfen Passanten und Polizisten mit Steinen und Böllern. Der Strom für die Straßenbahn mußte für drei Stunden abgedreht werden, denn einige Sprengkörper hatten die Stromleitungen der Tramway getroffen, worauf die Kabel lose auf den Boden hingen. Kabel, die unter Starkstrom standen.«
»Es bestand also Lebensgefahr«, resümierte Groll.
»Ich würde sagen, die Veranstalter und Teilnehmer des lustigen Halloween-Rummels haben nur bis zur nächsten Detonation gedacht.«
Herr Groll ergänzte. »Sie nahmen es billigend in Kauf, daß Menschen zu Schaden kommen. Wie sollte jemand wie ich sich vor einem geworfenen Böller in Sicherheit bringen? Soll ich mit meinem armen Joseph zur Seite springen? Vielleicht vor eine Straßenbahn? Oder die alten Menschen mit ihren Brottüten? Wer von den afghanischen und syrischen Kollegen hat an sie gedacht?«
»Die Dummheit der Jugendlichen ist grenzenlos. Ebenso grenzenlos ist aber auch die Freude der Asylgegner und Rassisten, die jetzt auf die Undankbarkeit und Gefährlichkeit der jungen Männer verweisen – mit dem Ziel, alle Asylwerber, egal ob Frauen und Kinder oder traumatisierte, der Todesmaschinerie des IS oder der Taliban entkommenen Flüchtlinge, ins schiefe Licht zu setzen«, sagte der Dozent bitter. 
»Mir kann niemand erzählen, daß die Polizei die Aufrufe zum ‚Halloween-Krieg‘ in den sozialen Medien nicht gesehen hat. Nach dem Versagen der oberösterreichischen Behörden im Fall der Welser Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die sich – alleingelassen und von Coronanazis bedroht – das Leben nahm, ist das Versagen der Polizei offensichtlich. Jeder Mensch weiß doch, daß Teile der Jugend zu Halloween durchdrehen. Und wo verabreden sich die Jugendlichen? In den sozialen Medien! Da läge es doch wohl nahe, in diesen Tagen ein Auge darauf zu haben.«
»Das ist nicht fahrlässig, sondern eine behördliche Vorschubleistung krimineller Handlungen. Mit welchem politischen Zweck, darüber brauchen wie beide nicht zu rätseln.« 
»Wie auch immer. Auf mich wirken die Ausschreitungen wie bestellt.« 
»Das können Sie hier im Schutze der öffentlichen Anonymität leicht sagen. Schreiben würden Sie sich das nicht zu trauen.«
»Jeder Mensch weiß das.« 
»Nur nicht die Linzer Polizei.« 

»Es sollte mich nicht wundern, würden die Rädelsführer dieser Aktion in den Tagen davor Kontakte mit Freiheitlichen oder Neonazis oder beiden gehabt haben. Am Sonntag, den 7. November um sechs Uhr dreißig früh trat der Generalsekretär der FPÖ, Michael Schnedlitz, als Hauptredner einer öffentlichen Veranstaltung in der Wiener Innenstadt auf. Begleitet wurde er vom Kärntner »Coronaheld« Rutter, bei dem man nicht lang darüber nachdenken muß, woher er seine Befehle und das Geld für deren Umsetzung hat. Die Rechtsextremen schickten sich in der Folge an, den Balkon des Innenministeriums mit einem Transparent zu verzieren, auf dem zu lesen war: ‚Politiker einsperren – Grenzen zusperren‘. Innenminister Karner zufolge konnte der Anschlag aber durch Beamte des Objektschutzes der Landespolizei Wien verhindert werden. Die Identitäten der Aktivisten wurden festgestellt, das Transparent eingezogen. Und Innenminister Gerhard Karner versicherte, dass man sich von Rechtsradikalen, deren Parolen und Hass nicht beeinflussen lassen werde. Sein Ziel sei der Kampf ‚gegen die brutale, menschenverachtende Schleppermafia.‘«
»Eine Häufung von Adjektiven ist meist eine Lüge. Von der FPÖ sprach er nicht?«
Der Dozent schüttelte den Kopf.
»Das heißt, er führte die Rede von Schnedlitz weiter. Toller Mann, unser Innenminister. Und eine tolle Polizei, die seelenruhig zusieht, wie die Identitären sich auf dem Platz versammeln. Und weiter zusieht, wie ein Identitärer den Balkon des Innenministeriums erklimmt, um ein Banner zu enthüllen. Weiß man denn Näheres über Schnedlitz?« erkundigte sich Groll.
»Freilich«, sagte der Dozent beflissen. »Er folgte 2019 dem langjährigen FPÖ-Generalsekretär Harald Vilimsky nach, der dem Schlachtenlärm des Ibizaskandals entkam und sein segensreiches Wirken seither als Abgeordneter in Brüssel entfaltet. Der 1984 in Tamsweg geborene Michael Schnedlitz ist Nationalratsabgeordneter der FPÖ, des weiteren bekleidet er das Amt des Bürgermeister-Stellvertreters in Wiener Neustadt, wo er auch Stadtrat für Wohnen und Soziales ist. Wiener Neustadt war bis 2015 eine Hochburg der SPÖ. Seither regiert dort die ÖVP mit dem Bürgermeister Schneeberger, seit 2020 in einer Koalition mit den Freiheitlichen und der SPÖ.« 
»Eine gewagte Mischung«, sagte Groll.
»Sie zeigt, was alles noch kommen kann«, erwiderte der Dozent. »Weiter zu Schnedlitz: Sein Zwillingsbruder besuchte in Wiener Neustadt das Militärrealgymnasium, dorthin war auch Michael gefolgt. So manche Kontakte mit Identitären werden wohl auf diese Zeit zurückzuführen sein. Außerdem schloß Schnedlitz Freundschaft mit Udo Landbauer, dem jetzigen FPÖ-Chef in Niederösterreich und Protagonist der sogenannten Liederbuch-Affäre in einer Burschenschaft, in deren ‚Bude‘ Lieder gegrölt werden, die zu einem neuerlichen Massenmord an den Juden aufrufen.«
»Ich kann mich erinnern. Er habe dieses Lied nie gesungen, rechtfertigte sich Landbauer. Damit galt er bereits als reingewaschen.«
Der Dozent fuhr in seinem Bericht fort: »Schnedlitz schloß sich dem Ring Freiheitlicher Jugend (RFJ) an, weil ihm bei anderen Parteien die rechte Linie fehlte. Als Generalsekretär der Bundes-FPÖ soll der noch junge Schnedlitz den Kommunikations-Auftritt der FPÖ modernisieren. Aus dem Jahr 2016 ist ein derartiger Auftritt bekannt. Laut einem Dossier von »SOS Mitmensch« grüßte Schnedlitz bei einer Kundgebung wie folgt: ‚Liebe Identitäre Bewegung, ich begrüße euch recht herzlich in Wiener Neustadt! Hier seid ihr herzlich willkommen! Bewegungen wie die Pegida in Deutschland, die sind die Speerspitze, die die Bevölkerung im Kampf gegen die Bundesregierung und gegen dieses System noch 
brauchen wird.‘« 
»Er teilt mit den einstigen Nazi-Führern nicht nur das Weltbild, sondern auch die Unkenntnis der deutschen Sprache«, sagte Groll. »Schnedlitz‘ Liebe zu den Identitären ist also notorisch. Es ist immer wieder erstaunlich, welch lupenreine Demokraten von den Wählern ins Parlament entsandt werden.«
Der Dozent lächelte. »Die SA war zu chaotisch, um aus freien Stücken Überfälle und Fememorde gegenüber Gewerkschaftern, Kommunisten und Sozialdemokraten zu verüben. Sie benötigte eine Partei im Hintergrund, die die Rolle des braunen Hirns übernahm.«
»Diese Partei gibt es heutzutage auch«, bekräftigte Groll. »Und wenn ÖGB und SPÖ weiter Dienst nach Vorschrift machen, müssen sie froh sein, wenn ihnen in nicht allzu langer Zeit Bundeskanzler Kickl die Rolle des Juniorpartners zuweisen wird. Siehe Wiener Neustadt.«
»Sie werden die Demütigung schlucken und annehmen. Aus Verantwortung gegenüber dem Land.«
Der Dozent wandte sich um. »Die alten Leute mit den Tüten …«
»Was ist mit Ihnen?«
»Sie warten geduldig …« 
Groll schaute den Dozent fragend an. 
»Ich dachte eben … Wenn die Menschen nicht auf Tauben warten …« 
»Dann?«
»Nennen Sie mich jetzt bitte nicht naiv.«
»Reden Sie schon!«
»Ich dachte, vielleicht warten die alten Menschen … auf den Frieden.«
»Auf den Frieden?«
»Ich meine … Es könnte immerhin sein.«
»Das täte Ihrem sanften Gemüt schmeicheln. Aber ich muß Sie enttäuschen. Die Leute warten auf die Öffnung des Sozialmarktes um die Ecke. Und weil sie sich dafür genieren, ihre Armut vor den Gaffern auszustellen, haben sie sich hier auf den Taubenmarkt begeben und tun so, als würden sie Tauben füttern.« 
Der Dozent wandte sich um und betrachtete zwei alte Männer, eine großen und einen kleinen. Der Große trug einen verschlissenen Mantel, der Kleine steckte in einem zu engen Parka. Als sie das Interesse des Dozenten bemerkten, schlug der Große verschämt die Augen nieder. Der Kleinere streckte dem Dozenten die Tüte mit dem Vogelfutter entgegen. Sein Blick war streng und hart. Der Dozent wandte sich verschämt ab und verfolgte die Ankunft einer Straßenbahn. Auf den Seitenblechen wurde für Fernreisen in die Karibik geworben. 

Verirrte Eigentümerversammlung am Linzer Taubenmarkt (Bild: Versorgerin)