Kopfschnittgalerie Wildfrucht

Nestbau und Kunstexkurs: Georg Wilbertz über das Donauufer-Projekt von Andrea Lehmann und STWST.

Auf der Ostseite der Nibelungenbrücke steht der Linzer Stadtwerkstatt ein gepachteter, knapp 90 Meter langer Abschnitt Donaulände zur Verfügung. Auf diesem, der Innenstadt zugewandten Außenposten namens DeckDock realisiert die Stadtwerkstatt seit 2008 unregelmäßig Projekte im öffentlichen Raum, deren Charakter maßgeblich durch die besonderen Bedingungen auf diesem Streifen geprägt sind. Offensichtlich bot der dabei über die Jahre eingetretene, charmante Wildwuchs des stetig ausufernden Bereiches (STWST-Credo für das DeckDock: »Wildwuchs vs Planung«) immer wieder Anlass für teilweise harsche Kritik von Nachbarn und Passanten. Zudem herrschen entlang der innerstädtischen Donau erstaunlich detaillierte Regeln für beinahe alle Dinge, die man an der Donau vorhaben könnte; das heißt, »Wildwuchs« ist an sich hier eher nicht gefragt. Selbst dann nicht, wenn er im Schatten der Nibelungenbrücke und dem lauten Getriebe der Stadt eigentlich untergeht. Wie auch immer: Nach diversen Winter- und Sommerbespielungen sowie einem herausfordernden Pflanzenwachstum war es wieder Zeit zu handeln.

 

(Bild: jan)

 

Rund ein Jahr lang, von Herbst 2021 bis Herbst 2022, befasste sich die Linzer Künstlerin Andrea Lehmann mit dem Streifen Uferland, um nicht nur für dieses, sondern auch aus diesem heraus, künstlerische Impulse zu entwickeln. Dies war von der STWST angefragt, und ein Konzept, das sozusagen weiträumigeren Sicht- und Benutzungsachsen öffnen sollte. Lehmann unterwarf deshalb die Umgestaltung des Ortes zunächst keinem stringenten Konzept, außer, die aus ihrer künstlerischen Arbeit entwickelten »bildnerisch permakulturellen« Ansätze und Methoden zu realisieren. Zunächst standen das Beobachten, Kennenlernen, Sammeln und Dokumentieren im Vordergrund. Es ging dabei um konkrete Fragen: Was ist hier eigentlich »Natur«? Sollte oder muss man sie formen? Wenn ja, wie? Was verbindet die Sphäre des Bewuchses mit den vorbeigehenden Passant*innen? Wie wurde der Streifen bisher genutzt? Hinsichtlich der letzten Frage gaben die reichlich im Gebüsch zu findenden Artefakte (sprich Müll) beredt Auskunft. Im Zuge der von Andrea Lehmann mit der STWST durchgeführten Schnitt- und Aufräumaktionen ergab sich eine ortsspezifische »Archäologie« der Überbleibsel (Flaschen, Kabel etc.). Auch diese wurden dokumentiert, aufgeklaubt und zu Ausgangsmaterialien weiterer künstlerischer Produktion. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Bild: sandrik)

 

Am – vorläufigen? – Ende von Lehmanns Auseinandersetzung mit dem Uferstreifen stand im Oktober 2022 ein umfassender Umgang mit dem Beschnitt der Vegetation und das Ausdünnen ihrer Dichte. Dazu wurde zunächst von der STWST ein Baumpfleger engagiert, der den Bewuchs professionell beschnitt – und an den Bäumen etwa einen sogenannten »Kopfschnitt« durchführte. Idee seitens der STWST war, auch diese ohnehin notwendigen Tätigkeiten in die Länden-Bearbeitung von Andrea Lehman einfließen zu lassen – und diese Materialien zu einer »Kopfschnittgalerie« zu transformieren. Daraus entwickelte Andrea Lehmann ihre bereits begonnenen Zugänge von »Nestern« weiter. Der Wildwuchs wurde zum Garten. Das dabei anfallende Material wurde nicht entsorgt, sondern zu einem überdimensionalen Nest arrangiert. Dieses riesige Nest stand nicht nur in der Tradition der Landart, und erzeugt etwa bereits von der Brücke aus eindeutige Sichtbarkeit, sondern verwies als eine Art Ur-Architektur auf Aspekte wie Schutz, Geborgenheit, Versorgung oder Fortpflanzung. Lehmanns Nest symbolisiert damit grundsätzlich unseren von Widersprüchen geprägten Umgang mit Landschaft und Natur. Greift der Mensch bändigend in diese ein, geht es meist darum, sie zu funktionalisieren und die genannten Zwecke zu verwirklichen. Es geht um mehr als die Gemütlichkeit eines Nestes.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Bild: tb)

 

Als begleitenden Gegenpol zum Nest am Donauufer gestaltete Andrea Lehmann Ende Oktober in der Stadtwerkstatt eine Ausstellung namens »Kopfschnittgalerie - Wildfrucht«, die neben Fundstücken auch Fotografien und künstlerische Arbeiten zum Thema vereinigte. Vergleichbar der Beiläufigkeit, mit der das Nest trotz seiner Größe eher unauffällig den Uferstreifen besetzte, »schlichen« sich die Exponate in einen Foyerraum, der eigentlich nicht klassisch für Ausstellungszwecke gedacht ist. Entsprechend nicht-museal gestaltete sich das realisierte Setting. Der Verzicht auf gewohnte museale Präsentation hatte eine selbstverständliche Integration der Exponate in den Stadtwerkstatt-Alltag zur Folge. Damit adaptierte dieser Ausstellungsteil des Projekts die Wirkungsweise des Nests an der Donaulände. Die Artefakte auf diese Weise temporär in alltägliche Räume zu integrieren, ist nicht nur ein verbindendes Moment zwischen beiden Projektteilen. Lehmann verzichtet 
auf komplizierte Ästhetisierungsprozesse und macht das Gezeigte zum selbstverständlichen Teil unserer Lebens-wirklichkeit. Auch wenn vor allem die Fotografien teilweise auf traditionelle Muster der Natur- und Landschaftsfotografie zurückgreifen, rückt ein beschönigendes Bild von Natur und Landschaft in den Hintergrund. Nicht mehr das korrekte, zugleich ideale Abbild der Natur, wie es zum Beispiel Alfred Dürer in seinem »Großen Rasenstück« (1503) realisiert, steht im Vordergrund, wenn Andrea Lehmann geschnittenes Gras in Plastikflaschen stopft. Ihre »Rasenstücke« resultieren aus der Verformung, die sie durch das Hineinzwingen in die Flaschen erhalten. Werden sie schließlich aus diesen herausgeschnitten, bleiben melancholisch-traurige »Skulpturen«, die mit einem gewissen Witz zum Symbol vollkommener, zugleich nutzloser Naturbeherrschung werden. Einzig Lehmanns kreisförmige Blattbilder repräsentieren ein mit künstlerischen Mitteln geschaffenes Bild der Natur. Sie stellen damit ausschnitthaft eine Verbindungslinie zur langen, überreichen Tradition der ästhetisch aufbereiteten Natursicht und -darstellung in den bildenden Künsten dar.

 


Andrea Lehmann ist Bildende Künstlerin in Linz und Oberösterreich. Absolventin der Kunstuni in Linz, zahlreiche Ausstellungen. Im Rahmen verschiedener Langzeitprojekte erforscht sie unter anderem Naturräume, bearbeitet Orte mit Zeichnung und mit der Philosophie der Permakultur. 

Mehr Infos und Bilder zum Projekt »Kopfschnittgalerie Wildfrucht«:
https://newcontext.stwst.at/kopfschnittgalerie_-_wildfrucht_2022

Mehr Infos zum DeckDock: 
https://newcontext.stwst.at/deckdock

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Das Nest ist mittlerweile Geschichte – es wurde vom Grünschnittservice der Stadt Linz abgeholt.

Einige Stücke von Andrea Lehmann und ihrer Arbeit an der Lände sind in die Kunstschaffenden-Ausstellung DRAUSSEN gewandert. Noch bis 21. Dezember zu sehen. http://www.diekunstschaffenden.at/