Nach dem Geschichtsbruch

In einer literaturwissenschaftlichen Arbeit hat sich Marcel Matthies mit der literarischen Gestaltung jüdischer Identitäten in Romanen Maxim Billers und Doron Rabinovicis auseinandergesetzt. Hier gibt er einen Abriss.

Die Arbeit trägt den Titel »Literarische Gestaltung jüdischer Identität bei Maxim Biller und Doron Rabinovici« sowie den Untertitel »Vier Romane im Schatten der Shoah und im Widerschein Israels«. Sie stellt vier Romane zweier prominenter Vertreter deutsch-jüdischer Gegenwarts-literatur ins Zentrum. Ihr Anliegen ist es, die auf Grund ihrer Neuheit bislang wenig bis gar nicht erforschten Romane mit Blick auf die Identitätsthematik zu erschließen. Es handelt sich um Maxim Billers Biografie (2016) und Sechs Koffer (2018) sowie Doron Rabinovicis Andernorts (2010) und das von ihm in Co-Autorschaft mit Natan Sznaider verfasste Herzl Relo@ded (2016).

Der in den 1960er Jahren von Erik H. Erikson für die Entwicklungspsychologie konzipierte Identitätsbegriff ist inzwischen fast zu einem Äquivalent der Seele geworden. So ist Identität zum Kampfplatz von Selbstviktimisierung und Selbstermächtigung geronnen. Infolge der Psychologisierung der Öffentlichkeit wurde der Identitätsbegriff so sehr aufgeweicht, dass sich seine genuin klinisch-psychosoziale Ausrichtung in absurder Weise auf den Bereich der Gesellschaft ausgeweitet hat. Die Überaffirmation von Forderungen nach Anerkennung von Differenz und Identität geht nicht zufällig mit einer Brutalisierung ökonomischer Verteilungskämpfe einher. Obwohl Bedenken gegen das zur Wortschablone erstarrte »Plastikwort« (Uwe Pörksen) vor diesem Hintergrund berechtigt sein mögen, hat die Identitätsthematik doch gerade im Kontext jüdischer Geschichte und Kultur ein hohes zeitdiagnostisches Potential, weil sie auf kollektive Extrem-Erfahrungen in den 1940er Jahren reagiert. Ausdruck dessen ist die bis heute andauernde Auseinandersetzung mit Fragen jüdischen Selbst- und Weltverständnisses.  

Paradoxe Entstehungsbedingungen des Schreibens

Nachdem die Nationalsozialisten zunächst ein Deutungsmonopol über die Bestimmung jüdischer Identität durchgesetzt und schließlich die europäischen Judenheiten weitgehend vernichtet hatten, versuchten Juden nach 1945 allmählich, sich durch erkenntnisbezogene
Reflexionen die Deutungshoheit über Belange des Jüdisch-Seins wieder anzueignen, um sich so mit meist widerstreitenden Identitätsformeln vom nazistischen Verständnis des Jüdischen zu befreien. Laut Lutz Niethammer hängen die mitunter obsessiv geführten innerjüdischen Selbstverständigungsdebatten unmittelbar mit der Erfahrung des Genozids zusammen. Dadurch lässt sich die Katastrophenerfahrung paradoxerweise in eine positive Solidarisierung wenden.

Weil das Schreiben von Juden mitten in Europa nicht mehr vorgesehen war – genauso wenig wie deren Existenz – und der Schock »nach dem Geschichtsbruch« (Thomas Wild) in ein gesteigertes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung umschlug, lässt sich festhalten, dass die paradoxen Entstehungsbedingungen dieser Literatur gerade deshalb einen geeigneten Rahmen dafür bieten, derlei Fragen zum Gegenstand einer künstlerisch-fiktionalen Darstellung und Gestaltung zu machen. Diese Überlegung liegt der Arbeit als methodologisch-theoretischer Rahmen zugrunde. Zudem greift sie auf politische und soziologische Theorie, psychoanalytische und sozialpsychologische Ansätze sowie auf Impulse aus der Gedächtnis- und Ideengeschichte zurück.

Dass Identität von Individuen und Kollektiven meist »als ein Problem des Sinns« (Andreas Reckwitz) erlebt wird, führt insbesondere die jüdische Identitätsthematik »im Schatten der Shoah und im Widerschein Israels« (Rabinovici/Sznaider) vor Augen: Sie stellt eine Herausforderung an einen auf das Verstehen literarischer Texte ausgerichteten Interpre-tationsprozess dar. Die aus historisch-politischen, kulturellen und religiösen Gründen erwachsene Überbestimmtheit jüdischer Identitätserwar-tungen und -zuschreibungen erschwert ein auf Sinnerschließung ausgerichtetes Verstehen der jeweiligen Texte, da eine auf Reflexivität der Mittel und der Form hin angelegte Auseinandersetzung mit Gestaltungsfragen jüdischer Identität dadurch verstellt wird, dass sich eine Katastrophe wie Auschwitz einer Verdichtungs-, Stabilisierungs- und Sinngebungsfunktion grundlegend entzieht. Und beide Autoren machen weniger das Ereignis Auschwitz als vielmehr die infolge von Auschwitz aufgerissene, abgründige Leere und Unbestimmtheit zu einem Ausgangspunkt ihrer Texte, ohne damit etwa den Anspruch zu verfolgen, das Abgründige einzuebnen oder ihm gewaltsam einen Sinn abzupressen.

Die Faszinationskraft, die Fragen jüdischer Identität ausstrahlen und von beiden Autoren literarisch-künstlerisch gestaltet werden, speist sich vor allem daraus, zum einen auf die grenzenlose Sinnlosigkeit des Extrem-Ereignisses Auschwitz und zum anderen auf die mit der Gründung und Verteidigung Israels verbundene Hoffnung zu reagieren, also zwischen Untergang und Neubeginn zu schwanken. Auch die Protagonisten in den vier behandelten Romanen sind sich ihres Jude-Seins nicht nur aufgrund der Erfahrungsberichte ihrer Vorfahren überaus bewusst, sondern ihre Jüdischkeit wird nochmals durch die von außen zugewiesene Zugehörigkeit und durch die Selbstverortung in einem der Nachfolgestaaten des Dritten Reichs gesteigert. Wie sich die Wahl des Lebensmittelpunkts in einer post-nazistischen Gesellschaft also auf die mit überschießenden Sinnpotentialen aufgeladene Rollenzuweisung eines in der Öffentlichkeit stehenden Juden auswirkt, bildet ein Meta-Thema ihres selbstreferentiellen Schreibens über Juden in Deutschland bzw. Österreich.

Um Rückschlüsse auf die zwischen Ethnizität und Religion, Gegenwarts- und Ewigkeitsorientierung sowie zwischen einem Staatsvolk Israel und einer Diasporabevölkerung zum Zerreißen aufgespannten Konstitutions-bedingungen innerjüdischen Selbstverständnisses zu ziehen, hat es sich als ergiebig erwiesen, Paradigmen jüdischer Identität nicht von außen an den jeweiligen Romantext heranzutragen, sondern aus dem inneren Gehalt des jeweiligen Sprachkunstwerks herauszuarbeiten. So rückt die in den Texten gestaltete Mehrdeutigkeit jüdischer Identität in den Fokus der Untersuchung.

Ist jüdische Identität in den vier Romanen also primär durch die Ethnizität, die Religion, den Bezug auf ein bestimmtes Territorium, das Leben in der Diaspora, die gemeinsame Geschichte oder den Antisemitismus bzw. die Shoah definiert? Bezieht sich Ethnizität auf Vorstellungen von Nation, Stamm, Rasse, Volk oder Volksgeist? Oder ist vielmehr »das Nachdenken über die Frage, was es überhaupt bedeutet, jüdisch zu sein« (Natan Sznaider), der Fixpunkt des Jüdischen? An diesen Fragen lässt sich ablesen, dass die vorgebliche Bestimmtheit des Identitätsbegriffs durch die Vagheit seines Inhalts strapaziert wird. Das sich einer klaren Zuordnung verweigernde Konglomerat teilweise disparater Anteile jüdischen Selbstverständnisses verschafft sich dabei im Gehalt und in der Gestalt der Romane Ausdruck.

Gestaltungsmöglichkeiten jüdischer Identität

Künstlerisch-narrative Verfahren haben das Potential, Antagonismen und Aporien durch Gestaltungs- und Inszenierungsfelder der Literatur vorzustellen und erfahrbar zu machen. Dazu kann die literarische Gestaltung jedoch einen über die gesellschaftliche Wirklichkeit hinausweisenden Vorstellungsraum eröffnen, dessen im Fiktionalen geschaffene Signifikanz potentiell mehr über das Selbstverständnis von Juden, dessen Brüche und Bezüge aussagt, als dies eine nicht-fiktive Beschreibung leisten könnte.

Die Romanfiguren werden meist durch ihren Umgang mit der Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Judenheiten und meist auch durch ihr Verhältnis zu Israel charakterisiert. So lassen sich Gestaltungsmöglichkeiten jüdischen Selbstverständnisses durch Figurenanalysen kenntlich machen: Mustergültig verkörpert die Figur Dov Zedek aus Rabinovicis Roman Andernorts die Gebrochenheit jüdischer Identität nach 1945. Zedeks Lebensgeschichte macht deutlich, was es heißt, wenn lebendig begrabene Gefühle Jahrzehnte später wiederkehren: Die Ausrottung seiner ganzen Familie zieht bei ihm die Ausbildung eines neuen Ichs nach sich, das die Erinnerung an das alte Ich, das den Namen Adolf Gerechter trug und in Wien beheimatet zu sein glaubte, lange erfolgreich bekämpft. Zudem ist sein persönlicher Neubeginn biografisch mit der kollektiven Neuinstallation der jüdischen Heimstätte verknüpft, flieht er 1938 doch noch rechtzeitig aus Wien in das Mandatsgebiet Palästina, um dazu beizutragen, die in der zionistischen Literatur angelegte Idee von der Rückkehr der Juden nach Eretz Israel in die Wirklichkeit zu überführen.1

Fortan heißt er Dov Zedek. Doch mit steigendem Alter brechen sich bis dahin nie betrauerte Verlusterfahrungen aus seinem früheren Leben in der Wiener Diaspora Bahn, so dass auch von dem Gefühl der „Überlebensschuld“ (William G. Niederland) heimgesucht wird. Zedek ist gezwungen, einen Kompromiss mit seinem alten Ich zu schließen: Obwohl er den Vernichtungsstätten-Tourismus in einem unauflösbaren Dilemma verhaftet sieht, das darin besteht, dass die Musealisierung ehemaliger Todeslager entweder zur Trivialisierung oder zur Sakralisierung tendiere, gehorcht er der Forderung seines alten Ichs und führt Schüler-Exkursionen nach Auschwitz durch. Genau daran – und an seinem Engagement für den Zionismus – entzündet sich (in der erst nach seinem Ableben einsetzenden Romanhandlung) eine brisante Kontroverse. Auch an der zweiten Vaterfigur namens Felix Rosen wird deutlich, dass der Roman »im Zeichen der toten Väter« (Jakob Hessing) steht.

In Billers 900-seitigem Roman-Monstrum Biografie flüchtet der Ich-Erzähler Solomon Karubiner aus Deutschland ins »israelische Exil«, nachdem ein Film online gestellt wurde, der ihn dabei zeigt, wie er sich in einer Berliner Sauna beim Anblick eines weiblichen Gesäßes exhibitioniert. Sein ohnehin aus den Fugen geratenes Leben ist in Israel von einer weiteren Zunahme sozialer Isolation, einer schriftstellerischen Schaffenskrise und psychotischen Dissoziationen gekennzeichnet. Wieder verselbständigt sich die dranghafte Intensität sexuellen Verlangens in einer Krisensituation – diesmal in einem Tel Aviver Schwimmbad. Hier wie dort wird er zum Ausgestoßenen, sobald er sich in der Öffentlichkeit »heimlich zwischen die ungestreichelten Beine fassen [...] musste, um [...] das tiefe, metaphysische Gefühl von Einsamkeit zu vertreiben.«

Doch das groteske Geschehen endet in der Stadt Iwano-Frankiwsk im Südwesten der Ukraine im Jahr 2007, nachdem sich Karubiners Aufmerksamkeit im Wellnessbereich eines Kiewer Hotels anfallartig so sehr verengt hat, dass ihn die Plötzlichkeit des sexuellen Impulsdurchbruchs abermals vollkommen überwältigt. Iwano-Frankiwsk symbolisiert als ehemaliges Stanislau im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn einen Sehnsuchtsort und die tragische Geschichte Mittelosteuropas im 20. Jahrhundert. Die mit der Reise verknüpfte Hoffnung auf Rückkehr »in den historischen Mutterkuchen«, die das Illusorische des Identitätsbegehrens augenfällig werden lässt, scheitert. Am Ort der Urheimat und Herkunft seiner aus Galizien stammenden väterlichen Vorfahren vollendet sich das Sinnlosigkeitsgefühl sogar: »Ich dachte, viel gelassener und entschlossener als sonst, daran, dass alles keinen Sinn hatte [...].«

Obwohl Karubiner aus- und abschweifend über seine in ein Chaos übergegangene Paria-Existenz erzählt, führt die ausgefeilte Konzeptlosigkeit des Romanganzen vor, dass die Geschichte der Shoah und deren tiefgreifende Folgen ebenso auserzählt sind wie sie insgesamt nicht erzählbar sind. Eine Leistung der Interpretation besteht in der Wiederent-deckung des Parias, der als Sexualstraftäter, Schriftsteller und Jude in leidenschaftlicher Opposition zur jüdischen wie nichtjüdischen Umwelt steht und damit »zu einem politischen Outlaw der ganzen Welt geworden« (Hannah Arendt) ist. So ist in Karubiners Schicksal ein vorläufiger Endpunkt in der Gestaltung der Paria-Figur nach der weitgehenden Auslöschung der europäischen Judenheiten dargestellt, obwohl und weil mit dieser Zäsur auch der Paria als historische Figur längst sinnlos geworden ist. Damit antwortet der Roman auch auf eine von Saul Friedländer aufgeworfene Frage:

Es bleibt die Frage,
ob ein Ereignis wie die Shoah,
wenn einmal auch die letzten Überlebenden verschwunden sind,
auch auf der kollektiven Ebene,
jenseits des individuellen Erinnerns,
Spuren einer Tiefenerinnerung hinterläßt,
die jedem Versuch der Sinngebung widerstehen. 
(Saul Friedländer)

 

Das Buch

Marcel Matthies: Literarische Gestaltung jüdischer Identität bei Maxim Biller und Doron Rabinovici. Vier Romane im Schatten der Shoah und im Widerschein Israels. Heidelberg: J.B. Metzler 2023, ca. 350 Seiten.

Das oben vorgestellte Buch wird voraussichtlich im ersten Quartal 2023 im Verlag J.B. Metzler (Part of Springer Nature) als Print- und eBook-Ausgabe erscheinen.

[1] Dieses Thema wird im E-Mail-Roman Herzl Relo@ded wieder aufgegriffen: Um die auf Verwirklichung ausgerichtete Idee zionistischer Literatur – d.h. die Vorwegnahme des zu verwirklichenden Zusammenschlusses von Schrift und Erde – besser zu verstehen, wird die Ästhetik des Zionismus mithilfe der von Philipp Theisohn aufgespürten Poetik der Urbarkeit »als Überführung der Schrift auf die Erde« kenntlich gemacht. Es folgt eine Auswahl einiger im Roman Herzl Relo@ded zur Diskussion stehender Streitpunkte: Ist Israel Judenstaat oder jüdischer Staat? Ist im Zionismus ein säkulares Verständnis von staatlicher Territorialität oder ein sakrales Verständnis heiliger Erde bestimmend? Oder ist in ihm eine Synthese beider Konzepte angelegt? Inwiefern ist Israel durch Auschwitz legitimiert? Was spricht gegen eine ausschließlich negative Begründung Israels durch Auschwitz? Und was macht Israel zum »Kristallisationspunkt eines neuen Antisemitismus, der sich gleichwohl teils als antirassistisch und antikolonialistisch versteht« (Rabinovici)?