Die Tradition psychoanalytischer Theorie und Praxis, die sich seit der Zeit des Ersten Weltkriegs in Großbritannien etablierte, unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von der Freudschen Psychoanalyse, der sie sich dennoch verpflichtet fühlte. Die zwei auffälligsten Unterschiede stehen miteinander im Zusammenhang: Die britischen Psychoana-lytiker, ob sie sich nun den »Freudianern«, den »Kleinianern« oder der »Independent Group« innerhalb der 1913 von dem Freud-Schüler Ernest Jones gegründeten British Psychoanalytical Society zurechneten, entwickelten ihre beruflichen Erfahrungen in einem gesellschaftlichen Milieu, das sich bereits stark von der klinischen Alltagspraxis Freuds unterschied. Es war gezeichnet von der anbrechenden Massenge-sellschaft, vom virulenten Zerfall der Kleinfamilie und einem schwindenden Vertrauen in die Institutionen der bürgerlichen Demokratie. Tendenzen, die Freud selber seit dem Ersten Weltkrieg in Schriften wie »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915) und »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) verstärkt, aber eben erst retrospektiv zum Gegenstand der Reflexion machte, waren für die britischen Psychoanalytiker der Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Infolge des Ersten Weltkrieges hatten sie sich plötzlich und massenhaft mit alleinerziehenden Müttern, an zeitgeschichtlichen Zwängen zerbrochenen Familien und mit psychischen Leiden, die ganz offenkundig nicht allein in der individuellen Psychogenese, sondern in schockhaften gesellschaftlichen Umbrüchen begründet waren, zu beschäftigen.
Der stärkere Praxisbezug der britischen Psycho-analytiker war somit nicht nur durch ihre engere ideengeschichtliche Bindung an Pragmatismus und Empirismus motiviert, sondern auch durch die veränderten Erwartungen, die an ihren Berufsstand herangetragen wurden. Das zweite Spezifikum der britischen psychoanalytischen Tradition – die Bedeutung der Kinderanalyse für die Theoriebildung – hat mit diesem Wandel zu tun. Hatte Freud noch Kleinkinder einer psychoanalytischen Behandlung für unzugänglich befunden, stellten seit den 1920er Jahren britische Psychoanalytiker, neben Melanie Klein programmatisch der sich der »Independent Group« zurechnenden Donald W. Winnicott, die psychoanalytische Arbeit mit Kindern in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Reflexion. Stärker noch als bei Klein hat sich das bei Winnicott in seiner Begriffsbildung niedergeschlagen. Zentrale Kategorien seiner Theorie der Objektbeziehung wie die des Spiels, des Übergangsobjekts, des »Haltens« und der »fördernden Umwelt« (holding environment) entstammen der Interpretation frühkindlichen Verhaltens und dessen Bedeutung für die spätere Subjektgenese. Doch während Melanie Klein mit ihrer größer werdenden Popularität immer gleichgültiger gegenüber den Regeln des psychoanalytischen Settings wurde, indem sie etwa die eigene Tochter zum therapeutischen Untersuchungsobjekt machte, und eine Schar Gleichgesinnter um sich sammelte, die einer Sekte nicht unähnlich war, verstand Winnicott seine Arbeit gemäß dem Ideal des public intellectual, der die Früchte des eigenen Bildungsprivilegs denen zugutekommen lassen möchte, die von ihm ausgeschlossen sind.
Die Verbindung von psychoanalytischer Grundlagenreflexion und sozialer Phantasie, von Begriffsschärfe und Genauigkeit in den Fallbeschreibungen, macht Winnicotts Werk nicht nur ergiebig für andere Disziplinen wie Pädagogik und Kunstwissenschaften, sondern auch beispielhaft für die Fähigkeit der Psychoanalyse, zeitgeschichtliche Veränderungen seismographisch zu registrieren. Winnicotts Schreib- und Arbeitsweise wäre selbst nicht denkbar gewesen ohne seine Sozialisation. Er wurde am 7. April 1896 in Plymouth als Kind wohlhabender Eltern des südenglischen Unternehmensbürgertums geboren, der Großvater mütterlicherseits war ein angesehener Chemiker und Drogist, und die meisten Familienmitglieder setzten diese Tradition fort; Winnicotts Vater war Magistratsmitglied und zweimal Bürgermeister von Plymouth. Bedeutend für Winnicotts späteres Denken war das zwiespältige Verhältnis zur Mutter, die von Beginn an seine geistigen Interessen förderte, ihn aber durch ihre chronisch depressiven Neigungen, die sie innerhalb der Familie nur dem Sohn gegenüber glaubte, ausdrücken zu können, auch permanent überforderte. Von den Eltern großzügig finanziell unterstützt, wurde Winnicott zunächst Kinderarzt und ließ sich dann zum Psychoanalytiker ausbilden. Sein Lehranalytiker, der Freud-Übersetzer James Strachey, brachte ihn in Kontakt mit dem Kreis um Melanie Klein und der dort entwickelten Kinderanalyse. Zugleich lernte er über Stracheys Bruder Lytton, der zur Bloombury Group um Virginia Woolf gehörte, Autoren der Londoner Literaten-Avantgarde kennen, die wiederum in ihren Schreibweisen stark von der Psychoanalyse beeinflusst waren.
Die souveräne Selbstverständ-lichkeit, mit der in diesem geistigen Milieu die Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur sowie zwischen verschiedenen Textgenres missachtet wurden, kam Winnicotts eigenem Interesse für Übergänge, Uneindeutigkeiten und Nichtidentität entgegen, die er nicht etwa – wie später die Poststrukturalisten – als positiven Gegenentwurf zum Realitätsprinzip als der Kristallisationsform bürgerlicher Individuation, sondern als konstitutiv für die Ausbildung eines starken Ich ansah: Die Bewusstwerdung von Brüchen, Widersprüchen, Erfahrungen von Angst, von Unsicherheit und Verlassensein nicht als Gefahr einer stabilen Ich-Identität anzusehen, die im Namen zu verinnerlichender Normen abzuwehren sei, sondern sie durch eine sowohl vom Subjekt wie von dessen »Umfeld« zu leistende Arbeit für die Stärkung des Ich produktiv zu machen, war das Ziel von Winnicotts kinderanalytischer und therapeutischer Arbeit. Daher rührt seine fast obsessive Beschäftigung mit der Bedeutung des Kinderspiels für die Subjektgenese, die unter anderem in den in »Playing and Reality« (1971) zusammengefassten Schriften dokumentiert ist. Im kindlichen Spiel konvergieren für Winnicott primärnarzisstische Selbstbezüglichkeit und soziale Affektation des Kindes durch die Außenwelt, Selbstliebe und Objektlibido, weil das Spiel dem Kind in einem abgezirkelten, gerade dadurch aber freien, von sozialen Zwecksetzungen entlasteten Bereich erlaubt, sowohl Objekte zu verlebendigen, ihnen imaginär den Status von Subjekten zu verleihen, wie auch umgekehrt Impulse der eigenen Subjektivität zu vergegenständlichen.
In den von Winnicott analysierten Spielsituationen kommt den von ihm so genannten »Übergangsobjekten« besondere Bedeutung zu. Dabei handelt es sich um – dem erwachsenen Blick wertlos erscheinende –Gegenstände und Gegenstandsfragmente wie Bettzipfel, Strümpfe, Knöpfe, provisorisch hergestellte Puppen oder auch Lockenwickler und Stofffetzen, die vom Kind wie lebendige Wesen behandelt werden. In seiner Theorie des Übergangsobjekts, die er unter anderem in »The Child and the Outside World« (1957) und »Maturational and the Facilitating Environment« (1965) entwickelt hat, stellt Winnicott die Funktion dieser Objekte im kindlichen Spiel als notwendig für den Prozess der Ablösung von der Mutter und der Anerkennung des mütterlichen Körpers als eines nicht zum Kind gehörenden Objekts dar. Welche Objekte dem Kind zum Übergangsobjekt werden können, ist nicht beliebig, sondern hängt ab von der sozialen und lebensweltlichen Funktion der Objekte im Alltag des Kindes. Durch ihren Gebrauch im Alltag stehen sie für das Kind mit dem mütterlichen Körper in Beziehung und können in Situationen der Abwesenheit der Mutter deren Körper vertreten, ohne ihn zu ersetzen. Dadurch ermöglichen die Übergangsobjekte, als vom Kind mit Subjektivität belehnte und ihm dennoch gegenüberstehende, die Erfahrung, dass die zeitweilige Abwesenheit des Körpers der Mutter und die damit verbundenen Verlustängste dem eigenen Körper keinen Schaden zufügen und das eigene Selbst nicht zerstören. Die Übergangsobjekte dienen dem Kind zur erprobenden Einübung dieser Erfahrung. Indem es im Spiel mit ihnen die Abwesenheit der Mutter überbrückt, lernt es nicht nur, die Unterschiedenheit von mütterlichem und kindlichem Körper anzuerkennen, sondern auch – für Winnicott eine der wichtigsten Erfahrungen auf dem Weg zur Genese eines starken Ich –, mit sich selbst allein zu sein, was Voraussetzung freier Selbstbeschäftigung im Spiel wie später in der produktiven Tätigkeit ist.
Damit dieser Ablösungs- und Individuationsprozess gelingen kann, bedarf es Winnicott zufolge einer sowohl gesellschaftlichen wie intimen, sowohl individuellen wie kollektiven Fähigkeit, die er »Halten« (holding) nennt und die entscheidend ist für seinen vielfach missverstandenen Begriff der »fördernden Umwelt«. Dieser Begriff zielt weder auf eine Fürsorgegesellschaft, auf einen nanny state, in dem alle soziale Institutionen symbolische Fortsetzungen der mütterlichen Pflege wären – das würde Winnicotts emphatischem Verständnis von Alleinsein widersprechen –, noch soll die »fördernden Umwelt« das werdende Individuum von den psychischen Leistungen entlasten, die es zur Konstitution eines sowohl starken wie ansprechbaren Ich erbringen muss. Eher zielt der Begriff, in Abgrenzung zu Melanie Klein, auf ein realistischeres Verständnis der Mutter im Zusammenhang des Interaktionsprozesses zwischen Kind und Objektwelt. Zu einem ähnlichen Zweck hat Winnicott in seinem 1953 erschienenen Essay »Transitional objects and transitional phenomena« den nicht abwertend, sondern positiv gemeinten Begriff der »ausreichend guten Mutter« (good enough mother) geprägt. Neigte Melanie Klein im Zuge ihre immer rigideren Distanzierung von den Freudianern seit den 1930er Jahren dazu, die Bedeutung der präödipalen Phase für die kindliche Entwicklung und der frühkindlichen Beziehung zur Mutter für die Subjektgenese gegenüber der Konstitution des väterlichen Gesetzes zu hypostasieren, vertrat Winnicott die Ansicht, dass in der realen frühkindlichen Biographie, die immer auch abhängig von den sozialen Bedingungen des jeweiligen »Reifeprozesses« ist, eben gerade nicht die »perfect mother«, sondern die »good enough mother« die beste wäre, die dem Kind und damit auch sich selbst die Möglichkeit gewährt, Nähe und Distanz zum mütterlichen Körper gleichermaßen nicht nur zu ertragen, sondern zu genießen, und dadurch die Fähigkeit zur Identifizierung mit Objekten, die Voraussetzung für deren libidinöse Besetzung ist, einzuüben: Identifizierung ist das Gegenteil von Identität, sie meint nicht Verschmelzung, sondern Ähnlichkeit, also die ausbalancierte Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne.
Dass Winnicott weder bei orthodoxen Freudianern noch bei orthodoxen Kleinianern bis heute wirklich geschätzt wird und seine Schriften meist nur verstreut verfügbar sind (die Veröffentlichungsgeschichte seiner anachronologisch, verspätet und bruchstückhaft erschienenen deutschen Übersetzungen ist eine besondere Katastrophe), dürfte an jenem realistischen Zug liegen, den er sowohl den Freudschen wie den Kleinschen Begriffen durch deren sozial- und lebensgeschichtliche Erdung verleiht. Soziale Historisierung bedeutet jedoch keine Relativierung: Gerade, indem er die Terminologie der Psychoanalyse ins Verhältnis setzt zu den Veränderungen der Lebensrealität der Subjekte und zu ihrem spezifischen, sozial vermittelten Erfahrungshintergrund, konnte es Winnicott überhaupt gelingen, die Bedeutung scheinbar banaler Alltagsgegenstände für die Ich-Konstitution zu erschließen und bewusst zu machen, dass die Bedingungen dessen, was er »fördernde Umwelt« und »Reifeprozess« nennt, historisch geworden und daher wandelbar sind und ihre Errettung immer aufs Neue den Bedingungen erst abgetrotzt werden muss. Er hat der Psychoanalyse damit eine neue, ihren Begriffen treu bleibende Konkretion verliehen, die ihr durch ihre verhaltenstherapeutische Pragmatisierung heutzutage erst recht verloren zu gehen droht.
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19. Jänner 2023, 18.30 Uhr im Saal der Stadtwerkstatt:
Magnus Klaue stellt seine beiden, im XS-Verlag erschienenen Bände von »Die Antiquiertheit des Sexus« im Rahmen eines Vortrags vor.