Im Dezember 1939 teilte Stefan Stillich dem im Genfer Exil lebenden Pazifisten und Friedens-Nobelpreisträger Ludwig Quidde mit: „Mein Vater schreibt mir über schwere Nahrungssorgen.“ Wenn überhaupt, dürfte die Hilfe Quiddes eher bescheiden gewesen sein. Fünf Jahre später – der Siegesrausch der Deutschen war längst verflogen – wurde das Haus Oskar Stillichs in Schulzendorf bei Berlin ausgebombt. Seine Frau war sofort tot, ihn selbst bargen Nachbarn aus den Trümmern. Der bereits körperlich angeschlagene Stillich litt unter dem Verlust seiner Frau schwer. Dennoch arbeitete er weiter an seinen Studien über die verheerenden Auswirkungen des Nationalsozialismus, um sie nach dessen Ende zu veröffentlichen. Mit Hilfe seines Sohnes gelang es ihm nach dem Ende des Krieges noch, seine Studien über die Militarisierung des Volkes und der Sprache, seine Kritik der Reden Hitlers und dessen Verrat an der Kunst auf den letzten Stand zu bringen. Doch am 31. Dezember 1945 starb Oskar Stillich, zum Skelett abgemagert und unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, an den Folgen jahrelanger Unterernährung – und geriet in Vergessenheit.
Über Stillichs umfangreiches Werk als Agrarökonom, Volkswirt und Soziologe und sein wechselhaftes Lebensschicksal (1872–1945) liegt seit 2013 eine bemerkenswerte Biographie von Toni Pierenkemper vor. Er schildert ihn als „Außenseiter unter Außenseitern“, was aber kaum Beachtung fand. In der Tat ist Stillich, Sohn eines Gutsverwalters und Mühlenbesitzers aus Niederschlesien, schon früh angeeckt. Nach seiner Promotion seit 1898 Dozent an der Berliner Volkshochschule, der Humboldt-Akademie, deckte er soziale Missstände auf, so etwa über „Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin“ (1902), die sich zumeist in ausbeuterischer Abhängigkeit zu ihren Herrschaften befanden. 1908 erregte er im Rahmen seiner Untersuchungen des deutschen Parteiwesens mit seinem Werk über „Die Konservativen“ das Missfallen des preußischen Generals Colmar von der Goltz. Ein Anhänger des antisemitisch-militaristisch gesinnten Alldeutschen Verbandes, witterte er in Stillich, der sich als langjähriger Pazifist gegen die Flottenrüstung und für Volksbildung ausgesprochen hatte, eine Gefahr und sah in dessen Buch eine politisch-programmatische Tendenzschrift. Zwar meinte selbst die reaktionäre „Kreuzzeitung“: „Der konservative Politiker wird das Werk mit Genuss lesen und manche bedeutsame Winke für unsere Taktik finden.“ Doch von der Goltz blieb stur und ging gegen Stillich vor. Aber der Versuch, den Ausschuss der Humboldt-Hochschule zu bewegen, den viel geschätzten Autor und Vortragenden aus dem Lehramt zu vertreiben, scheiterte am Widerstand der Dozentenschaft.
Stillich betrachtete es, mit Leib und Seele Wissenschaftler, als seine Aufgabe, der Wahrheit und sozialen Gerechtigkeit zu dienen. In seinen nationalökonomischen Schriften griff er auf Methoden benachbarter Wissenschaften zurück, entwickelte neue Darstellungs- und Analyseformen, so etwa mit seinen graphischen Kurstabellen. Mit der Auswertung von formalisierten Fragebögen wandte er Techniken an, die in der empirischen Sozialforschung erst viel später Verbreitung fanden. Prägend für sein Forscherleben war seine Auseinandersetzung mit marxschen Gedankengut. Aber selbst hier galt: Wenn er auch die ökonomische Basis bei der Betrachtung sozialer und politische Tatbestände stets berücksichtigte, blieb er gleichwohl undogmatisch und ein freier Geist. Wie anderen SPD-nahen Wissenschaftlern war ihm ein Lehrstuhl an der Universität verwehrt. Mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn fristete Stillich ein bescheidenes, zurückhaltendes Dasein. Von den Hörergeldern allein ließ sich nicht leben. Also machte er aus der Not eine Tugend und besserte sein Einkommen durch Auftragsarbeiten auf. Neben zahlreichen Artikeln und Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften publizierte er bis 1933 etwa 60 Bücher und Broschüren.
Auch im Ersten Weltkrieg folgte er dem Mainstream nicht. 1915 wies er auf die großen Opfer des Volkes hin und dass die Jugend des Landes auf den Schlachtfeldern verblute, während zahlreiche Unternehmen, Aktiengesellschaften und landwirtschaftliche Produktionsstätten immer mehr verdienten. Am stärksten profitierten die Rüstungskonzerne von der Hochkonjunktur des Krieges. Insbesondere, so Stillich 1916 in der „Friedens-Warte“ (Zürich), die „Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken“. Sie verschleierten ihre enormen Gewinne, indem sie die Abschreibungen aufblähten. Keineswegs werde es, wie weithin behauptet, nach dem Sieg wegen des Ersatzes der Verluste einen Nachkriegsboom geben. Das sei „naiv“ und „illusionär“; statt der vielfach erwarteten großen Hochjunktur prognostizierte Stillich: „Stagnation auf den Gebieten wirtschaftlicher Tätigkeiten und Verschlechterung der gesamten volkswirtschaftlichen Lage“ als Folge des Krieges, verbunden mit Geldentwertung und Kaufkraftschwund. Ebenso rechnete der Metallarbeiterverband, der eng mit Stillich kooperierte, „mit einem außerordentlichen Niedergang der Konjunktur“. Die Jahre nach 1918 sollten die Voraussagen noch übertreffen.
Je länger der Krieg dauerte, umso größer die Verluste. Statt dem Schrecken ein Ende zu bereiten, schossen „Siegfriedens“- und Annexionsforderungen ins Kraut. Stillich, seit 1916 als Mitbegründer der rasch verbotenen pazifistischen, „Zentralstelle Völkerrecht“ für einen raschen Verständigungsfrieden, wandte sich gegen die Eroberungspläne. Mit seiner Publikation „Deutschlands Zukunft bei einem Macht- und bei einem Rechtsfrieden“ (1918), unterstützt von dem späteren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und dem Gewerkschaftsführer und SPD-Politiker Otto Huë, knüpfte er an die Resolution des Reichstages vom 19. Juli 2017 an. Sie sprach sich für einen Friedensschluss ohne Annexionen aus. Doch die Militärs kriegten den Hals nicht voll. Die Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff zeigte in ihrer Denkschrift vom 14. September 1917, was künftig unter deutschem Einfluss stehen sollte: Belgien, Nordfrankreich, Holland, Dänemark, Russland, Südamerika und Afrika. Umso schärfer fiel Stillichs Kritik aus. Insbesondere den Annexionismus der Alldeutschen wies er er als weder nützlich noch realistisch zurück. Neue schwere Opfer, weitere Verluste von Menschen und der Rückgang der Beschäftigtenzahl führten zu einem riesigen Ansteigen der Staatsschuld, ganz abgesehen von den künftigen Belastungen für die internationalen Beziehungen.
Vollends in die doppelte Rolle eines Außenseiters geriet Stillich nach 1918/19 mit seiner Haltung zum Versailler Vertrag. In gleich drei Publikationen schlug er vor, ihn als Chance für eine friedliche und demokratische Entwicklung Europas zu betrachten. Vor dem Hintergrund eines Vergleichs des Vertragswerkes mit den Diktatfrieden des Deutschen Reiches von Paris (1871), Brest-Litowsk und Bukarest (beide 1918) schätzte er die Lasten von „Versailles“ als „gewiss hart“, aber nicht als „unerträglich“ ein. Das wollte kaum einer hören. Auch nicht, dass die größten Hauptschreier gegen den Vertrag die schlimmsten Annexionisten gewesen waren und ein deutscher Friede ganz anders ausgesehen hätte. Doch Stillich hielt trotz des gegen ihn entfachten Entrüstungssturms an seiner Einschätzung fest, selbst als Teile der Weimarer Friedensbewegung sich der Revisionskampagne gegen „Versailles“ anschlossen. Immerhin aber übernahmen der antimilitaristische Flügel der Deutschen Friedensgesellschaft, Teile der Gewerkschaften und linksrepublikanische Kreise fortan Stillichs Einschätzung. Er war und blieb also nicht allein.
Nachdrücklich warnte er vor der Bekämpfung des Vertrags durch die Presse und Parteien und bezeichnete die damit einhergehenden Folgen als „geradezu eine Gefahr für Deutschland.“ Wie Wenige erkannte Stillich den Propagandatrick: Man machte den Frieden und nicht den Krieg für das Not und Elend verantwortlich – und erklärte „Versailles“ zur Wurzel allen Übels. In der Tat reichte die Wirkung der Propaganda vom „Schanddiktat“ weit über die Kreise der NSDAP und Deutschnationalen hinaus. Sie beließ viele Deutsche geistig in einem Kriegszustand.
Am 6. Januar 1923 sprach Stillich im Pirmasenser Volksbildungsverein zum Thema „Irrtümer über den Friedensvertrag von Versailles“. Er führte aus, dass die Wiedergutmachungen Deutschlands sich nicht auf einen Ersatz des gesamten Kriegsschadens, sondern sich vor allem auf die mutwillig, von der Obersten Heeresleitung auf dem Rückzug der deutschen Truppen angeordneten Zerstörungen in Belgien und Nordfrankreich bezogen. Die Zuhörer glaubten ihren Ohren nicht zu trauen. Als Stillich zudem behauptete, dass die Reparationen in der geforderten Höhe durchaus bezahlbar seien, ließen sie ihrem Unmut freien Lauf. „Die ganze Versammlung“, berichtete der „Pfälzer Volksbote“ am 10. Januar 1923, „erhob lauten Protest dagegen, und als er trotzdem vorlas, durchbrauste ein Schrei der Entrüstung den Saal, und durch Rufen, Trampeln und Stühlerücken wurde die edle Absicht des Herrn vereitelt. Der Großteil der Anwesenden verließ den Saal. Der Kassierer des Volksbildungsvereins verließ seinen Tisch an der Tür, warf dem Leiter des Volksbildungsabends Bücher und Kasse schallend vor die Füße und verließ unter lautem Protest den Saal ... Nach der deutschen Jugend rief Dr. Stillich. Mann, danken Sie einem gütigen Geschick, dass diese nicht da war! Nach dem dritten Satz schon hätten Sie Straßenpflaster unter der Sitzfläche gehabt. Nach Schluss der Versammlung kleidete ein Urpfälzer unter lautem Beifall seine Kritik in die Worte Paul Münchs: ‚Dem gehört es Kreiz versohlt, so lang bis‘ n der Deiwel holt.‘“
Die rechtsstehende Presse ging noch einen Schritt weiter. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“, ein Blatt des Stinnes-Konzerns, legte es als „tief traurig“ nahe, dass Stillich „als Dozent an … der Volkshochschule Berlin Gelegenheit hat, solche Anschauungen dauernd in die Öffentlichkeit zu verpflanzen.“ 1925 suchte der deutschnational gesinnte Professor Otto Gramzow, erster Vorsitzender des Ausschusses der Humboldt-Hochschule, Stillich aus dem Amt zu vertreiben. Doch anders als bei der gegen Theodor Lessing inszenierten Hetzkampagne ohne Erfolg. Die Hörerschaft und der republikanisch gesinnte Teil des Lehrkörpers stellten sich an Stillichs Seite. Allerdings konnten seine Kollegen nicht verhindern, dass er mit dem Odium belastet wurde, er hätte mit seinen Schriften über den Versailler Vertrag das Ansehen der Hochschule geschädigt. Fortan musste es Stillich vermeiden, dass sein Name im Zusammenhang mit seinem öffentlichen Engagement als Kritiker nationalistisch-militaristisch verblendeter Politik-Konzepte erneut in Verruf geriet. Im März 1927 legte „Das deutsche Tageblatt“, ein Organ der „deutsch-völkischen Freiheitsbewegung“ nach: Gramzow stellte sie als „einzigen bedeutenden Vertreter … deutscher Weltanschauung“ vor, Stillich verunglimpfte sie als „typischen Vertreter eines krankhaften Pazifismus“.
Auch mit seinem seit 1929, unter dem Pseudonym „Von einem deutschen Hochschullehrer“ publizierten „Deutschvölkischen Katechismus“, von dem bis 1933 drei Bände erschienen, erwies sich O. Stillich als „Outsider“ und weitsichtiger Autor. Darin warnte er 1932: „Die gegenwärtige Gefahr für Deutschland liegt nicht in der bolschewistischen, sondern in der völkischen“ – und widersprach damit allen Unkenrufen, die Weimarer Republik sei von „links“ oder „Sozialfaschisten“ bedroht.
Im ersten Band seines „Katechismus“ sind die Ansichten und Theorien all jener reaktionären gesellschaftlichen Gruppen vorgestellt, die sich damals „deutschvölkisch“ nannten. Was im Einzelnen dargelegt wird, ist heute noch aktuell. Ihr Inhalt enthüllt die Gedankenwelt, aus der Fremdenhass, Deutschtümelei, Brand- und Mordanschläge herausgewachsen sind und sich tradiert haben. Durch den logischen Aufbau und die allgemeinverständliche Darbietungsweise wird der Leser in den Stand versetzt, sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Ein verdienstvolles Werk, das offenbart, in welchem Ausmaß große Teile des deutschen Volkes lange vor dem Wahlerfolg der NSDAP von September 1930 von völkisch-rassistischem Ungeist durchtränkt und in welchen Parteien, Vereinen, Verbänden und Orden die kriegstreiberischen und republikgefährdenden Kräfte organisiert waren. Doch der Weg in das Dritte Reich, so Stillich, musste nicht sein. Politische Fehlleistungen spielten eine ebenso wichtige Rolle. Statt sich angesichts der Krise und der hohen Arbeitslosigkeit für eine Keynesianische Wirtschaftspolitik zu entscheiden, setzte Hindenburg für die ostelbischen, zumeist deutschnational gesinnten Großagrarier ein riesiges Subventionsprogramm, die „Osthilfe“, durch. Sie kam vor allem dem kriselnden und maroden Großgrundbesitzern des Ostens zugute. Eine Politik des „deficit spending“, von der die breite Bevölkerung profitiert hätte, lehnten Hindenburg und die auf die Ernennung des Reichskanzlers einflussreichen Kreise ab. Die Selbstmordrate schoss in die Höhe, der restriktive Sparkurs, der Abbau der Sozialleistungen und die Perspektivlosigkeit trieb viele enttäuschte Wähler in die Arme des „Trommlers“.
1933 verlor Stillich sein Lehramt. Trotz eines Rede- und Schreibverbotes setzte er sich weiter mit den Auswirkungen der völkischen Ideologie auf das Denken und Handeln des deutschen Volkes auseinander. Seine Analysen verdeutlichen, „dass der Ungeist des Nationalsozialismus nicht an die Herrschaftsperiode des Dritten Reichs gebunden war, sondern sich schon vorher in der Mentalität zahlreicher und einflussreicher Deutscher ausprägte“, so der Völkerrechtler Hans Wehberg 1947, und – ist hinzuzufügen – auch heute nicht vollends überwunden ist.
Stillichs Hoffnung, sein aufklärerisches Bemühen werde nach dem Zusammenbruch des NS-Verbrecherstaates den Deutschen helfen zu gesunden, erfüllte sich nicht. Die Veröffentlichung seiner Manuskripte lehnte das Münchner Institut für Zeitgeschichte schließlich nach 3 ½ verschleppten Jahren im April 1957 ab. Wohl sagte man sich von 1933 bis 1945 los, nicht aber von den geistig-politischen und ideologischen Voraussetzungen, die zu 1933 geführt hatten. Nach vorne geschaut, ergibt sich daraus heute, alles zu tun, um deutschvölkisches Denken und die damit einhergehende Mentalität zu überwinden. Seine Beiträge und Forschungen bieten sich dabei als Hilfe an. Es scheint, als fielen uns die Warnungen Stillichs, der auch ein Rufer in der Wüste war – und wie es sich für das Vermächtnis eines „Außenseiters unter Außenseitern“ gebührt–, heute in einem doppelten Sinne vor die Füße.
Gerade erschienen sind von Oskar Stillich:
»Begriff und Wesen des Völkischen« (= Deutschvölkischer Katechismus, Heft 1) – Mit einer Einleitung von H. Donat, 176 S., 16.80 Euro, ISBN 978-3-943425-92-5
»Militarisierung des Volkes, Kritik der Reden Hitlers und andere Studien zum Nationalsozialismus« – Mit einem Beitrag von H. Donat, 400 S., 24.80 Euro, ISBN 978-3-949116-14-8
- Weitere Informationen siehe unter oskarstillich.de