Analytische Werkzeuge mit Zeitkern

In der Reihe theorie.org ist gerade ein Überblicksband zu Faschismustheorien erschienen. Till Schmidt hat ihn gelesen.

Kaum ein Begriff wurde in der Geschichte der Linken des 20. Jahrhunderts so vielfältig gebraucht wie der des Faschismus. Als Kampfbegriff diente er mitunter auch dazu, das eigene Handeln als antifaschistisch zu bemänteln – obwohl es in einigen Fällen sogar in engem Zusammenhang zum Verdammten stand, so etwa im Fall des Antisemitismus der RAF oder der unerklärten Kriege der DDR gegen Israel. Inflationäre Verwendungen des Faschismusbegriffes lassen sich vor allem in der bewegungsorientierten Linken finden. Gemäßigtere hingegen scheuen sich mitunter, einschlägige Bewegungen und Regimes beim Namen zu nennen.

Doch auch die zahlreichen, mal mehr, mal weniger elaborierten theoretischen Analysen sind recht divers. Auch sie verstehen sich als Beitrag im Kampf gegen den Faschismus, das Feld aber ist geprägt von teils enorm unterschiedlichen Prämissen und intellektuellen Bezugspunkten, die auch in starker normativer Konkurrenz stehen. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass die zum Klassiker der deutschen Linken avancierte Publikationsreihe theorie.org erst jetzt einen Band zu Faschismustheorien veröffentlicht hat. 

Die im Schmetterling Verlag erscheinende Reihe versteht sich als programmatische Sammlung von Büchern, die den theoretischen Grundlagen linker Politik sowie dem Bedürfnis nach inhaltlicher Reflexion der politischen Praxis der vergangenen Jahrzehnte Rechnung tragen. Zentrale Themen linker Debatten sollen, so beschreibt es der Verlag, im Stil sachlich und ohne Nostalgie, aber mit stets emanzipatorischem Anspruch, aufgegriffen werden. Das Ziel sei, mit verständlich aufbereitetem Überblickwissen eine Orientierungshilfe zu geben, Perspektiven aufzuzeigen und zur Erneuerung emanzipatorischer Praxis beizutragen.

Keine Sekundärliteratur ersetzt die Lektüre des Originals – doch Matthias Wörschings Einführung ist trotz ihrer Dichte und Kürze aufschlussreich. Es vermittelt wissenswerte Informationen gerade auch, weil der Autor verschiedene theoretische Ansätze nüchtern, kritisch und auf ihre Kernaussagen beschränkt skizziert. Angenehmerweise begreift er diese Ansätze als analytische Werkzeuge, die einen Zeitkern haben, sich auf einen bestimmten Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit beziehen und durch ihre je spezifischen Blickwinkel und Argumentationsweisen idealerweise Aspekte erhellen können, die in anderen Ansätzen zu kurz kommen.

So ist es kein Wunder, dass Wörsching in seiner Einführung auch ausführlich Autor*innen vorstellt, die sich eher als Liberale denn als Linke verorten. Sinnvollerweise, denn zur produktiven Debatte haben liberale Ansätze mitunter um Längen mehr beizutragen als so manch linker. Georgi Dimitroffs Faschismus-Definition etwa wurde in Folge ihrer offiziellen Verabschiedung durch die Komintern 1935 enorm wirkmächtig und hat einiges an Unheil angerichtet. Der bulgarische Kommunist verstand den Faschismus als »offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« (zit. n. 42). 

Die Ursprünge des Begriffes »Faschismus« liegen im Italien kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Dort wurden mit den fasci di combattimento ultranationalistische Kampfbünde gegründet, die wie Mussolini früher in der Sozialistischen Partei Italiens gewesen waren oder aus der nicht-marxistischen Gewerkschaftsbewegung, aus imperialistisch-chauvinistischen Gruppierungen sowie der kulturellen Bewegung des Futurismus stammten. Faschismus kann deshalb wörtlich als »Bundismus« verstanden werden. Die fasci, Rutenbündel, symbolisierten bereits im antiken Rom die starke, strafende Herrschaftsgewalt.

Die in den fasci organisierte »verschworene Gemeinschaft des Kampfes und der Aktion« (S. 18) stellte Wörsching zufolge das »Urbild des Faschismus« (ebd.) dar. Dessen Gesellschaftsideal nähmen sie vorweg: sie waren männliche Kampfbünde, die auf einen Führer ausgerichtet waren; sie waren paramilitärisch organisiert und ausstaffiert und inszenierten dies auch wirkungsvoll. Und: die Kampfbünde übten brutalen und systematischen Terror aus gegen ethnische, kulturelle, religiöse oder sexuelle Minderheiten sowie gegen politisch Andersdenkende. In seiner Phase als Oppositionsbewegung war der männliche Kampfbund, wie Wörsching ausführt, die »wichtigste Praxis- und Vergemeinschaftungsform des Faschismus« (ebd.).

Der Faschismus könne, so Wörschings Grundannahme, im Prinzip in jeder von kapitalistischer Modernisierung erfassten und geprägten Gesellschaft auftreten. Damit aber bleibt der Faschismus weder auf seine klassische Epoche von 1918 bis 1945 noch auf seinen historischen Ursprungsort Europa beschränkt. Insofern können sich, um eine kontroverse Debatte innerhalb der Linken aufzugreifen, auch im Globalen Süden faschistische Regimes, Parteien, Bewegungen formieren. Oder unter von der Mehrheitsgesellschaft diskriminierten Minderheiten.

Hierfür liefert Wörsching einige fundierte, historische und aktuelle Beispiele, etwa aus Japan, Indien oder der islamischen Welt. Die Islamische Republik Iran, der von Kurd*innen häufig als »islamfaschistisch« bezeichnete Islamische Staat oder Gruppierungen wie die Hisbollah oder die türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe – in Deutschland immerhin eine der größten rechtsextremen Organisationen – erhalten in Wörschings Buch allerdings wenig bis keine Aufmerksamkeit.

In seiner Kartierung des theoretischen Feldes der Faschismustheorien skizziert Wörsching zunächst einige singularistische Theorien, die Faschismus als nationale Besonderheit oder als bloßes Werk eines Führers begreifen. Dazu kommen frühe generische Theorien. Diese fassen den Faschismus als extremen Nationalismus, Nihilismus, Machiavellismus, als Bewegung Krimineller und Deklassierter sowie als vormodernen Atavismus auf.

Vorgestellt wird auch der Ansatz von Eric Voeglin. Für den christlich-konservativen Politologen und Philosophen stellte der Faschismus (genauso wie Nationalismus, Sozialismus und Kommunismus) eine »politische Religion« dar. Schade nur, dass die bestehende Diskussion zu religiösen Dimensionen des Nationalsozialismus von Wörsching an dieser Stelle nicht aufgegriffen wird. Denn gerade dieser Aspekt wird immer wieder angeführt, um den deutschen Nationalsozialismus beispielsweise vom italienischen Faschismus abzugrenzen.

Nach kurzen Ausflügen in frühere marxistische Theorien sowie zu späteren Agenten- und Bonapartismustheorien wendet sich Wörsching detailliert den Ansätzen des Freudo-Marxismus und der Kritischen Theorie zu; die Namen Reich, Fromm, Horkheimer, Pollock, Fraenkel, Neumann und Adorno seien hier genannt. Darüber hinaus thematisiert Wörsching Faschismus- und Totalitarismustheorien aus der Zeit des Kalten Krieges sowie generische Theorien des deutschen Neomarxismus, der Psychoanalyse (z.B. Klaus Theweleits Männerphantasien) und der Diskursanalyse.

Zudem führt Wörsching ein in zentrale Thesen und Perspektiven des israelischen Historikers Zeev Sternhell (Die faschistische Ideologie, 2019 neu veröffentlicht im Verbrecher Verlag), von George L. Mosse aus den USA und Roger Griffin aus Großbritannien. Sie alle analysierten vergleichend die historischen Faschismen Frankreichs, Italiens, Deutschlands und anderer Länder und fokussierten sich dabei vor allem auf deren Frühstadium. Wegen ihres Schwerpunkts auf faschistische Ideologie und Praxis werden diese Ansätze als ideozentrisch bezeichnet. Schade, dass Umberto Ecos 2020 wiederveröffentlichter Aufsatz Der ewige Faschismus in diesem Kontext nicht einmal erwähnt wird.

Dem Phasenmodell von Robert O. Paxton schenkt Wörsching relativ viel Aufmerksamkeit – zu Recht. Paxton fasst Faschismus als sozialen Prozess auf, also als etwas, das in und mit einer Gesellschaft passiert und sich entsprechend kontextspezifisch ausgestaltet. Eine zentrale Frage, die sich Paxton stellt, ist, warum der Faschismus in manchen Gesellschaften erfolgreich ist, in anderen aber nicht. Sein Modell – das er in die Phasen Initiation, Aufschwung, Machtübername, Machtausübung und Radikalisierung bzw. Abkühlung differenziert – kann hierauf durchaus instruktive Antworten geben.

Seinen Band abschließend skizziert Wörsching einige historische, aktuelle und zukünftige Probleme der Faschismustheorie. Diese zeigen – wie bereits erwähnt – etwa in Bezug auf türkischen und arabischen Ultranationalismus, Hindu-Nationalismus oder Jihadismus, was Wörsching unter dem Schlagwort »globale Faschismen?« diskutiert. Darüber hinaus geht Wörsching ein auf transnationale Aspekte des Faschismus im Zeitalter der digitalisierten und postmodernen Globalisierung sowie auf das komplexe Verhältnis von Faschismus und Frauen.

Nicht zuletzt lassen sich interessante Ausführungen lesen zu den schwierigen Grenzziehungen zwischen Konservativismus, Austrofaschismus und Nationalsozialismus sowie zur Frage, inwieweit die aktuell so virulenten Autoritarismen und Rechtspopulismen als faschistisch begriffen werden können. Dabei geht es Wörsching keineswegs darum, deren Wirkmacht und Bedrohungspotential durch eine vorsichtige Verwendung des Faschismusbegriffes zu bagatellisieren. Im Gegenteil: erst durch eine nüchterne Analyse kann herausgefunden werden, worum es sich bei diesen Regimes, Parteien, Bewegungen überhaupt handelt – eine unabdingbare Bedingung für die politische Praxis.

»Der Faschismus wird die kapitalistische Moderne sicher weiterhin begleiten, doch wird er dies nicht unter den Bedingungen seiner klassischen Epoche von 1918 bis 1945 tun«, resümiert Wörsching am Ende seines Buches. Aus dieser Diagnose ergeben sich für ihn einige offene Fragen: etwa zum Verhältnis der Faschismen zur Umwelt- und Klimakrise oder zur Bedeutung von neuen Bio-, Nuklear- und Computertechnologien; zu faschistischen Strömungen in der aufstrebenden Weltmacht China oder zum Krieg als Kernbestandteil faschistischer Praxis, der, so Wörsching, heute wohl kaum noch mit militärischer Massenmobilisierung und Massenarmeen, sondern unter neuartigen technologischen-militärischen Bedingungen geführt wird.

Das Buch

Wörsching, Mathias: Faschismustheorien Überblick und Einführung, 1. Auflage 2020, kartoniert, 12 Euro