»Lange nichts von Ihnen gehört, verehrter Dozent. Alles in Ordnung?«
»Danke der Nachfrage. Man lebt. In diesen Zeiten ist das nicht wenig.«
Herr Groll traf den Dozenten im Schönbrunner Schlosspark, und zwar in jenem Gärtchen, in dem Kaiser Franz Joseph seine Geliebte Katharina Schratt zu sehen pflegte. In späteren Jahren besuchte er sie in ihrer nahe gelegenen Villa, aber als er noch mit Elisabeth verheiratet war, musste es der kleine abgeschiedene Schlossgarten auch tun.
»Sie wirken ein wenig … nun, sagen wir, zerknautscht«, sagte Herr Groll.
»Tatsächlich? Ja, das könnte stimmen. Ich bin tatsächlich etwas
indisponiert.«
»Das ist schöner als zerknautscht?«
»Schon.«
»Aber zerknautscht ist anschaulicher.«
»Für mich nicht.«
»Da merkt man den Akademiker. Sie gehören aber keiner Risikogruppe an.«
»Doch. Privatgelehrte zählen immer zur höchsten Risikogruppe, und wenn sie dann auch noch freischaffende Kriminalsoziologen sind, potenziert sich das Risiko.«
»Das ist mir neu.«
»Das war vor Corona, so, das ist jetzt so und das wird nach Corona
auch so sein.«
»Angeblich wird es keine Zeit nach Corona geben. Das Virus wird
uns erhalten bleiben. Sagen die Virologen.«
»Von mir aus. Wir haben auch mit den Tirolern leben gelernt.«
Der Dozent holt sein Notizbuch aus der Windjacke und blätterte darin. Dann präsentierte er Groll einen Eintrag. Der las:
»Deep Green Resistance. Strategien zur Rettung des Planeten. Von Derrick Jensen, Lierre Keith und Aric McBay. Promedia Verlag, Wien 2020, 350 Seiten. In fast unleserlicher Schrift extrem klein und mit engstem Zeilenabstand gesetzt. Bedenkt man diese Erschwernis, sind es achthundert Seiten oder mehr.«
»Eine Schwarte oder ein Ziegel, sozusagen.«
»Ich würde eher sagen: Ein Monumentalwerk des Übergrunds …«
»Sie meinen Untergrunds!«
»Nein, Übergrunds. Die Anarcho-Ökologen von Deep Green Resistance legen Wert darauf, im Übergrund zu konspirieren.«
»Allerhand. Ich beginne, Ihren Rückzug aus der menschlichen Gesellschaft zu verstehen.«
»Ich habe viel exzerpiert …«
»Und ins Buch geschrieben! Mit Ihrer Schweizer Füllfeder, dem kostbaren Familienerbstück.«
»Woher wissen Sie …?«
»Sie schreiben gern in Bücher. Eine Unsitte.«
»Karl Marx hat das auch getan.«
»Gratulation zum Vorbild. Jedenfalls ist man ganz schön beschäftigt, wenn man so wie Sie ein Haupt- und Standardwerk bearbeitet.«
»Sie haben es erfasst. Aus diesem Grund ist unser Gesprächsfaden in der letzten Zeit abgerissen. Was die drei Autoren und Autorinnen vortragen, ist starker Tobak. Ein Engländer würde sagen: challenging. Ich sage: herausfordernd und verstörend. Die Strategien der Gruppe zur Überwindung der industriellen Zivilisation – in der sie alles Übel dieser Welt festmachen – reichen bis zum Bürgerkrieg. Sie würden wahrscheinlich sagen, das Buch ist ein Hammer.«
»Hammer ist auch anschaulich! Ich bitte um eine kurze Einführung.«
»Wie Sie wünschen. Die Autoren kommen aus der Tiefenökologie-Bewegung und leben zurückgezogen in den nördlichen Rocky Mountains, wo sie Selbstversorger-Landwirtschaften betreiben. Ihr Leitspruch lautet: »Respect existence or expect resistance«. Die von ihnen begründete Deep Green Resistance ist eine radikale Umweltbewegung, welche den konventionellen Umweltaktivismus à la »fridays for future« und Verwandte als ineffektiven bourgeoisen Zeitvertreib betrachtet.«
»Weicheier! Warmduscher!« bekräftigte Groll.
»Wie Sie wollen.«
»Mit der Vermeidung von Plastikgeschirr und veganem Essen wird der immer rascher ablaufenden Umweltzerstörung nicht Einhalt geboten werden. Die betuliche Streichelkritik ist bestenfalls eine Sackgasse der Umweltbewegung.«
»Eine Rue de Gack, wie ein Franzose sagen würde.«
»Oder eine Französin!« ergänzte der Dozent.
»Verehrter Dozent. Die würde ordinärer antworten. Die Französinnen sind bekannt für ihren ordinären Wortschatz. Das liegt an den lahmarschigen und großsprecherischen französischen Männern.«
»Wie Sie wollen. Ich würde gern in der Sache fortfahren.«
»Bitte. Prolongieren Sie.«
»Deep Green Resistance sagt, letztlich würden die hellgrünen Bewegungen mit ihrem verbindlichen Blabla und Latschdemos das gegenwärtige Natur- und Menschen ausbeutende System sogar stützen, denn sie generieren Aufmerksamkeit, die von den Medien begierig aufgegriffen und multipliziert wird. Scheinradikalität und Schaumschlägerei sind Verkaufsschlager. Etliche Künstler und Künstlerinnen, die mit dem Etikett Avantgarde herumliefen, haben das schon vor Jahrzehnten begriffen. Die tiefgreifende Lösung der Umweltfragen würden durch diese Nebelgranaten erschwert, so die Autoren des Handbuchs. Auch Elektromobilität und Windkraftwerke seien Scheinlösungen, die Kräfte binden, welche für radikalere Strategien besser einsetzbar wären.«
Herr Groll hielt inne. »Das Fahren im Kreis macht mich schwindlig, und der grobe Kies gibt mir den Rest. Lassen Sie uns ein wenig rasten.«
»Wie Sie wünschen.« Der Präsident nahm auf einer grün gefärbelten Bank Platz. »In gut zwei Dritteln des Buches werden scharfe Analysen und Zustandsbeschreibungen mit großer Stringenz in elementarer Wucht vorgetragen. Diese Teile lesen sich wie ein marxistisches Lehrbuch der Ökonomie aus den dreißiger Jahren. Und gut geschrieben sind sie auch noch. Allein für diesen Teil gilt Georg Christoph Lichtenbergs Satz:
Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.
Im zweiten Teil »Strategie und Taktik« verwässert sich der grundsätzlich gute Eindruck, den ich von dem Buch habe. Zuerst werden gute Überlegungen zu einer Art Zangentheorie vorgestellt. Ein Teil der Bewegung geht im Untergrund vor, unternimmt Angriffe und Sabotage gegen Material und Bauten, greift gezielt Kader der Sicherheitsdienste an, schüchtert Politiker und andere Personen der Öffentlichkeit ein und knüpft – einem Geheimdienst nicht unähnlich – konspirative Informationsnetzwerke. Der andere Teil der Bewegung bemüht klassische Mittel der öffentlichen Propaganda und Kommunikation wie Demonstrationen, Leserbriefe und andere Werkzeuge der Öffentlichkeitsarbeit. Im Zusammenwirken der beiden Zangenarme sollte sich dann eine revolutionäre Änderung der Herrschaftsverhältnisse ergeben. In der Folge müsste es in rascher zeitlicher Abfolge zur Stillegung und Zerstörung der industriellen Landwirtschaft und aller anderen industriellen Bereiche, besonders aber des Bergbaus und des Rohstoffabbaus, kommen.«
»Hungersnöte und der Zusammenbruch von städtischen Regionen wären die Folge«, erwiderte Groll. »Wir haben ja durch Corona gesehen, wie anfällig das System ist.«
»Das sieht der Autor dieses Buchkapitels, Aric McBay, ebenso. Er geht aber davon aus, daß das jetzige System der schrankenlosen Ausbeutung von Boden und Mensch ohnehin auf einen Zusammenbruch hintreibt. Insofern muß man den Tod von großen Teilen der Menschheit in Kauf nehmen, damit der andere Teil in vorindustriellen Strukturen
überleben kann.«
»Eine zynische, eine apokalyptische Strategie, die an die Weltuntergangsversessenheit eines Adolf Hitler erinnert.«
»Ja, die Protagonisten des Öko-Anarchismus geben sich nicht mit halben Sachen zufrieden. Natürlich ist diese Strategie hanebüchen. Ärgerlich sind auch Fehler wie die Behauptung, daß Hitler erst Ende der dreißiger Jahre an die Macht gekommen sei oder die unkritische und positive Erwähnung von Hamas und Hizbollah.«
Herr Groll löste die Bremsen des Rollstuhls.
»Im Grunde genommen scheint mir da ein zweihundert Jahre alter Konflikt innerhalb der Arbeiterbewegung in modernem Gewand aufs Neue ausgetragen zu werden«, sagte der Dozent. »Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gab es hunderte ökoanarchistische Gruppen, die in Europa und besonders in den USA sektenähnliche Gruppierungen bildeten. Die vernünftigeren dieser ‚utopischen Sozialisten‘, wie sie auch genannt wurden, ließen den Menschen noch einige Freiheiten, andere entwickelten sich zu widerlichen Kleindiktaturen.«
Der Dozent erhob sich. »Einige dieser Leute leben ein minimalistisches einfaches Leben als Aussteiger. Andere werden aktiv und verbreiten anarchistische Ideen in der Gesellschaft oder versuchen gewaltsam, eine Revolution herbeizuführen, die das industrielle System und dessen moderne Technik zerstören soll, so beispielsweise der als »Unabomber« bekannt gewordene US-amerikanische Theodore ‚Ted‘ Kaczynski, der zwischen 1978 und 1995 sechzehn Briefbomben an verschiedene Personen in den USA verschickte, durch die drei Menschen getötet und weitere 23 verletzt wurden. Die Opfer wurden von ihm wegen ihrer Verbindung zu neuen Technologien ausgesucht. Die Attentate waren nach Kaczynskis eigener Aussage extrem, aber notwendig, um auf die Bedrohung von Freiheit und Würde der Menschen durch die Industriewelt aufmerksam zu machen. Sie sollten das gesamte System zum Einsturz bringen. In der Auseinandersetzung von Marx und Engels mit den Anarchisten und in der anarchistischen Welle um 1890 und in späteren Jahren wurde der Konflikt fortgesetzt und jetzt, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, hat die anarchistische Agenda wieder Oberwasser.«
»Mir scheint, der Kern des Problems liegt in einer falschen Gewichtung der Pole Industrie, Staat und Privateigentum«, erwiderte Herr Groll. »Ich sage das als mechanischer Materialist, füge aber hinzu, daß man sich vor Verallgemeinerungen hüten soll. Das Argument der Kommunisten, die Atomkraft sei in der sozialistischen Welt schon deshalb sicher, weil sie unter der Kontrolle des Volkes und ihres konzentrierten Ausdruckes, der Partei sei, wurde ja mit Tschernobyl auf das Fürchterlichste falsifiziert. Die einen betätigen sich als Maschinenstürmer, entwickeln pseudoreligiöse Anwandlungen und verehren die Muttererde als Quasi-Gottheit, die anderen halten den Wechsel von Privat- zu vergesellschaftetem Industrieeigentum für die Lösung aller Probleme. Tatsächlich können die einen von den anderen lernen, wenn sie darauf verzichten, ihre Positionen zu verabsolutieren.«
»So versöhnlich kenne ich Sie gar nicht.«
»Ich bin auch von mir überrascht. Lassen Sie uns aufbrechen, meine Beine sind eingefroren.«