Depression ist keine Option

Drinking firewater with the devil’s daughter: Anlässlich ihrer fulminanten Show in der Stadtwerkstatt schenkte die New Yorker Underground-Ikone Lydia Lunch heinrichantonschule aufmunternde Worte – und ein bis zwei Whiskey-Shots.

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Lydia Lunch ist das Gegenteil von leise. Seit den späten 1970ern ballert sie gegen das Patriarchat, gegen Kriegstreiberei, verwandelt Lust in Widerstand und Worte in eine Waffe. Wer ihr zuhört, bekommt kein Trostpflaster – sondern ein Flammenwerfer-Gedicht direkt ins Gesicht.

Sie ist die Königin des No Wave, eine Muse des Transgressionskinos, Musikerin, Schriftstellerin, Spoken-Word-Künstlerin – oder wie sie selbst sagt: »I’m a cuntfrontationalist«. In einer Welt, in der weibliche Wut unterdrückt und weibliche Sexualität normiert wird, bleibt Lydia Lunch eine unbequeme Stimme der Selbstermächtigung und der feministischen Subversion.

Sie hat zu viele musikalische Projekte veröffentlicht, um sie alle aufzuzählen, ist ständig auf Tour und gastiert immer wieder mal auch in Linz, wie zuletzt am 22. Mai in der Stadtwerkstatt. Sie hat mit Größen wie Nick Cave, Rowland S. Howard, Thurston Moore, Jim Thirlwell aka Foetus, Weasel Walter, Karen Finley, The Last Poets, Exene Cervenka und Hubert Selby Jr. zusammengearbeitet. Sie veröffentlicht Alben und Bücher wie andere Tweets, leitet Workshops, unterrichtet an Universitäten. Kurz gesagt: Lydia Lunch weigert sich einfach, den Mund zu halten. Spätestens seit sie 1976/77 nach New York City abgehauen ist.

75 Dollar

So viel kostete die Miete von Lydia Lunchs erstem New Yorker Domizil, einem Loft an der Lower East Side, links und rechts ausgebrannte Häuser, im Hinterhof türmte sich der Müll sechs Fuß hoch. Über die Runden kam Lydia Anne Koch, wie sie bürgerlich hieß, auf eher sinistren Pfaden. Immer wieder klaute sie Essen, um für sich und ihre Band was zum Beißen zu haben, woraufhin ihr der Singer-Songwriter Willy DeVille den Namen »Lunch« verpasste.

Ihre ersten Freunde wurden aber Alan Vega und Martin Rev, die zusammen seit etwa 1972 mit ihrem radikal-minimalistischen Projekt Suicide verstörten. Das Duo spielte im legendären Club Max’s Kansas City, gleich um die Ecke von Lydias Loft, wie sie sich im Gespräch erinnert: »Suicide war die erste Show, die ich in New York City sah. Es waren zehn Leute da und ich, also ging ich direkt auf sie zu, sagte Hallo und wir wurden Freunde. Ich war damals jünger als Martin Revs Sohn, etwa sechzehn oder siebzehn. Als ich Suicide hörte, war mir klar, dass das genau die Art von Musik ist, die ich will.«

Zu Martin Revs kaputter Farfisa-Orgel, die später durch stoisch-repetitive Synthesizer-Attacken ersetzt wurde, gerierte sich Alan Vega am Mikrofon als Elvis aus der Hölle. »Das Schöne an Suicide war nicht nur die Brutalität, sondern auch dieser Doowop-Flavour. Das Dazwischen, diese Psychosensibilität, das hat mich angezogen.«

A perfect match

Eigentlich war Lydia Lunch ja nach NYC gekommen, um Spoken Word zu machen. Infiziert von Henry Miller, Jean Genet oder den Poeten der Beat Generation, wollte sie den durchwegs männlichen Autoren eine unüberhörbar weibliche Stimme entgegensetzen. Allerdings nicht im Stil von Patti Smiths Rock’n’Roll-Poetry, sondern zwielichtiger, wütender, angriffiger.

Inspiriert von Suicide und der No-Wave-Szene New Yorks startete Lydia Lunch jedoch als erstes Projekt die halb instrumentale Band Teenage Jesus and the Jerks. »Suicide wurden nie sehr gemocht und Teenage Jesus and the Jerks auch nicht. Also passten wir perfekt zusammen.« Retrospektiv geht es Lydia Lunch mit dieser Zeit wie Keith Richards mit den 1960ern oder Falco mit den 1980ern. »Ich erinnere mich nicht daran, dass Suicide und Teenage Jesus jemals gemeinsam gespielt haben, aber ich habe das Plakat mit unseren Namen gesehen!«

Auch den französischen Elektronik-Musiker Marc Hurtado verband eine tiefe Freundschaft mit Suicides Alan Vega, der 2016 verstarb. Einige Jahre zuvor, als er gesundheitlich schon angeschlagen war, musste Vega ein mit Hurtado geplantes Konzert absagen. Lunch lebte zu dieser Zeit in Barcelona, Hurtado im südfranzösischen Montpellier, beide hatten schon bei diversen Projekten zusammengearbeitet. »Marc rief mich an, ob ich die Show machen würde, und ich sagte spontan ja. Es fühlte sich für mich wie das Einfachste der Welt an, ich weiß nicht, warum. Vielleicht weil ich in Ermangelung von zu viel Text bei Suicide meine eigene Agenda einbringen kann.«

Es sind weniger Suicides Rockabilly-Schmachtballaden, wie das wohl bekannteste Stück »Dream Baby Dream«, bei denen sich Lunch und Hurtado wiederfinden, sondern eher die brachialen Tracks wie »Harlem«, »Rocket USA« oder »Frankie Teardrop«, mit dem ihr sonischer Bühnen-Blitzkrieg in der Stadtwerkstatt einen fulminanten Showdown fand. »Es gibt bestimmte Songs, bei denen ich wirklich ein Gefühl der Vertrautheit habe, mehr noch als bei manchen meiner eigenen Songs, weil sie so psychotisch sind. Ich meine ‚Frankie Teardrop‘ setzt doch allem einen Schlusspunkt. Es ist einfach wunderschön.«

Drop dead New York

Nebst trostspendenden Grabkerzen mit Lydia Lunchs Konterfei konnte man beim Merch-Stand in der Stadtwerkstatt T-Shirts mit einem dieser, für sie so typischen sprachspielerischen Lines erstehen: »Suicide or Murder – you decide.« Und auf diese Optionen dürfte man in der Lower East Side Ende der 1970er in der Tat beschränkt gewesen sein.

Der Bandname Suicide war also keine Pose, sondern die Diagnose einer Stadt, die kaputtgespart und heruntergewirtschaftet war. Die Schlagzeile »FORD TO CITY: DROP DEAD« der New York Daily News nach Präsident Fords Weigerung, der Stadt zu helfen, wurde zum Symbol der Krise. »Dazu kam das bewusste Abfackeln von Gebäuden in der Lower East Side und der Bronx, um die Künstler:innen, die Queers, die Weirdos und die Immigrant:innen loszuwerden. Ich selbst fand es nicht sehr gefährlich, denn damals wie heute gilt: Leg dich nicht mit mir an, Motherfucker, sonst bring ich dich um«, droht die Tochter des Teufels.

Los Angeles, New Orleans, London, Barcelona – Lydia Lunch hat viele Städte bewohnt, aber nur in einer fühlt sie sich wirklich zuhause: New York. »Ich habe das Gefühl, dass ich eine:r der letzten verbliebenen einheimischen New Yorker:innen bin, obwohl ich nicht dort geboren wurde. Und das ist eine Drohung an die gesamte Menschheit«, lacht Lunch.

The worse it gets, the more I laugh

In der COVID-Zeit entwickelte Lydia Lunch gemeinsam mit der Filmemacherin Jasmin Hearst die Idee zum Dokumentarfilm »Artist – Depression, Anxiety & Rage«. »Ich habe weder Depressionen noch Angstzustände, und für meine Wut werde ich bezahlt. Aber meine Freund:innen, die haben das alle. Ich denke, es ist eine Untertreibung, dass 73 % der Künstler:innen, egal ob Musiker:innen, Schriftsteller:innen oder Filmmacher:innen, Depressionen oder Angstzustände haben. Ich glaube, es sind mehr.«

Für Lydia Lunch aber ist das Ende nie nah genug. Mit einer Extraportion Sarkasmus und Sadismus schöpft sie Freude aus noch so miserablen Umständen. »Je schlimmer es wird, desto mehr lache ich. Denn ich habe keine andere Wahl.« Schon als Kind hatte Lydia Lunch in Rochester, New York, zweimal Riots vor dem Elternhaus miterlebt, eine Stadt, durch die die Underground Railroad führte und wo Bürgerrechtler:innen wie Martin Luther King, Malcolm X, Emma Goldman oder Saul Alinsky präsent waren. »Ich meine, ich habe keine:n von ihnen gesehen, aber aus irgendeinem Grund liegt das im Blut von Rochester. Vielleicht ist es das, was mich zu meinem Sinn für Protest und auch zu meiner Empathie für Menschen geführt hat, denen es noch schlechter geht als mir, und das sind ja fast alle. Obwohl meine Arbeit sehr dunkel und schwer erscheint, ist sie nicht negativ, nur für diejenigen, die das nicht erkennen. Ich muss an dunklere Orte gehen, um ein Licht auf die Absurdität, Dummheit und Vulgarität zu werfen. Verdammt, das ist eine gute Aussage«, freut sich Lunch.

The war is never over

Das gegenwärtige Amerika spendet Lydia Lunch wohl mehr als ausreichend Munition für ihre kreativen Kanonaden. Unter dem Titel »Demonocracy: A Diss-ertation« gibt sie etwa Spoken-Word-Abende, »Dear Ivanka« heißt ein weiteres Stück, das sie dieser Tage gerne performt. »What the fuck is wrong with you darling«, fragt sie darin eingangs die Präsidententochter, geht dann die Verbrechenschronik der Trumps durch und wundert sich zum Schluss, wie Ivanka es denn aushalten könne, nicht diesen einen ehrenvollen Akt des Vatermords zu begehen. Alles nur metaphorisch gemeint, of course.

Überhaupt: Fällt das Thema auf Trump und die unterwürfigen Broligarchen vom Schlage eines Elon Musk, erlebt man ein Paradebeispiel der unerschöpflichen Rage Lydia Lunchs. »Wissen Sie, Trump ist so ein verdammter Clown. Das Erstaunliche ist, dass seine hypnotisierte, idiotische Fangemeinde am härtesten fallen wird. Ich denke, es ist wirklich gut für den Rest der Welt zu sehen, wie verdammt dumm Amerika ist: Die Bildung ist scheiße, die Gesundheitsversorgung ist scheiße, das Gefängnissystem ist scheiße, wir sind die Nr. 1 in so vielen schlechten Dingen. Das war schon immer die Heuchelei der ‚Republik der Demokratie‘. Und das reichste Arschloch der Welt will zum Mars fliegen, weil er die Probleme hier nicht lösen kann. Das ist wahnsinniger Autismus. Wir haben einen Präsidenten, der mit jedem Business gescheitert ist, sechs Konkurse, 34 Straftaten, und dann haben wir einen autistischen Junior-Buttbuddy, der Raketen abstürzen lässt, die Milliarden von Dollar kosten und ganz Amerika in den Bankrott treiben werden. Ich bin also im Himmel, ich mag es nicht, aber ich bin im Himmel.«

Aus diesem diabolischen Biotop wachsen wohl in nächster Zeit eher mehr als weniger Lunch’sche Widerstandspflanzen. Nicht nur in Form von radikalen Texten, sondern auch von Musik, wie einem Jazz-Noir-Album mit der Singer-Songwriterin Sylvia Black, einem ihres Projektes Murderous…Again und einem namens »Dead Man Talking«, wo Lydia Lunch Arbeiten von Henry Miller, Herbert Huncke, John Rechy und eigene Poetry zur Musik ihrer regelmäßigen Kollaborateure Tim Dahl und Matt Nelson zum Besten gibt. Außerdem hält sie weiterhin Workshops für schreibende Frauen unter dem Titel »From the page to the stage« und erweitert ihren jetzt schon mehr als 300 Episoden umfassenden Podcast »The Lydian Spin« jede Woche um eine Folge. Und dann steht ja auch noch die Revolution auf der Agenda – als Verschwörung der Frauen, wohlgemerkt.

Es gibt also viel zu tun für Lydia Lunch. Anders gesagt: Sie tut das, was sie schon seit fast 50 Jahren macht. »Ich meine, ich fühle mich wie eine Frau auf einem Berg mit einem Megaphon, einem Gewehr und einem Hund. Blablabla … aber der Krieg ist nie vorbei.«

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Während der Show war fotografieren nicht erwünscht: Deshalb hier die Lydia-Gedächtniskerze vom Merch. (Foto: johannaleitner_fotografie)