Seit das bürgerliche Eigentumsverhältnis sich als Form der konstitutiven Zurechenbarkeit von materiellen und immateriellen Gütern zu natürlichen oder nicht natürlichen Personen universalisiert hat, stellt sich die gesamte menschengemachte wie auch die nicht menschengemachte Objektwelt als eine unendliche Sammlung zurechenbaren oder auch nicht zurechenbaren, mithin herrenlosen, Eigentums dar. Die Tragweite dieser Tatsache – dass nämlich das Eigentumsverhältnis auch dort, wo es sich realgesellschaftlich noch nicht vollständig durchgesetzt hat, alles und jeden umspannt und affiziert, weil es keine jeweils partikulare Vergesellschaftungsform, sondern eine Totalität ist –, wird von manchen, die es verteidigen, ebenso missverstanden wie von vielen, die es abschaffen wollen. Die »Vergesellschaftung von Wohnraum« etwa, seine Überführung vom Eigentum des Inhabers bzw. Vermieters in kommunales Eigentum oder in Gemeindewohnungen, bedeutet weder, dass er seinem bisherigen Eigentümer »geraubt« würde, noch, dass das, worüber zuvor eine oder mehrere Einzelpersonen verfügten, nun plötzlich virtuell »allen« gehörte. Vielmehr geht das Eigentum (inklusive erforderlicher Neubestimmungen des Rechtsverhältnisses, Entschädigungen, Kompensa-tionen) von einer seiner Formen in eine andere über, bleibt aber Eigentum.
Erst recht unsinnig sind frühsozialistisch-utopisch anmutende Hippie-Maximen wie die, dass die Luft, der Himmel, die Liebe oder das Glück allen gehören würden, weshalb der Versuch, sie ins Eigentum Einzelner oder Weniger zu überführen, inhuman sei. Man muss kein Weltraumforscher, Militärstratege oder politischer Geograph sein, um zu wissen, dass längst auch der Himmel, das All und die fünf Elemente global erschlossen, kartographiert, aufgeteilt und der Eigentumsform subsumiert sind. Materielle wie auch immaterielle Gegenstände, die nicht in der Eigentumsform, und sei es als Gemeineigen-tum, als herrenloses Eigentum oder Gegenstand nicht rekonstruierbarer Eigentumsverhältnisse, erscheinen würden, gäbe es buchstäblich nicht, so dass sie weder Glück noch Unglück, Neid, Genuss, Liebe oder Hass induzieren könnten. Wie Menschen, die nicht wissen, wann und wo sie geboren wurden, wie sie heißen und was sie bislang auf der Erde getrieben haben, trotzdem ein prinzipiell angebbares Alter, eine Herkunft und eine in einem Namen zusammenfassbare Lebens- und Erfahrungsgeschichte sowie eine nie vorhersagbare Zukunft haben, so haben Objekte, Gebräuche, Gewohnheiten und Gedanken eine Geschichte: eine, wie verzweigt auch immer sich darstellende, unklare, verwischte oder sich im Unbekannten verlierende Herkunft, und eine ungewisse Zukunft – selbst dann, wenn sie sinn- und nutzlos herumliegen.
Statt davon zu sprechen, dass es Dinge gibt, die allen gehören oder wenigstens allen gehören sollten und darum kein Eigentum sein dürften, wäre es angebracht, unterschiedliche Grade der Sicherheit des Eigentums zu unterscheiden. Sicherheit ist dabei nicht einfach eine gleichsam polizeiliche Kategorie; nicht nur Index ökonomisch und juristisch sichergestellter individueller Verfügbarkeit. Vielmehr ist es ein historischer Begriff: Gesicherte Eigentumsverhältnisse sind solche, die sich in ihre Gegenstände eingezeichnet haben, die genealogisch wie juristisch rekonstruierbar sind. Unsicheres Eigentum ist solches, dessen Geschichte an ihm selbst nur fragmentarisch und flüchtig greifbar ist, so dass es für deren Rekonstruktion historischer Einbildungs- und Urteilskraft bedarf. Wegen solcher Verschränkung des empirisch, aber fragmentarisch Gegebenen und des darin sedimentierten Möglichen, die nur die kritische Phantasie zu deuten vermag, hat sich Walter Benjamin obsessiv für bürgerliche Interieurs interessiert, die zwar eine gewisse Beständigkeit besitzen, teilweise sogar (wie Sammlungsstücke oder bestimmte Möbel) als Embleme der Beständigkeit fungieren, aber gleichzeitig der Mode unterworfen sind, von der das Inventar bürgerlicher Innenwelten auch dann Zeugnis ablegt, wenn es dem eigenen Verständnis nach für die Ewigkeit gemacht sein soll. Was am Interieur nur historisch und deshalb vergänglich und flüchtig ist, und was bestehen bleibt oder als einmal Bestandenes in die Überlieferung eingeht, entscheidet immer erst die Zukunft, die in den Objekten als eine in der Gegenwart vorweggenommene aufleuchten kann. Im »Passagenwerk« hat Benjamin hierüber notiert: »Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.«
Karl Schlögel, der Benjamins Reflexionen in seinem 2003 erschienenen Buch »Im Raume lesen wir die Zeit« als Beispiel dafür anführt, wie sich das Geschichtliche, Vergängliche in den gleichermaßen historisch und materiell wandelbaren Raum einschreibt, kommentiert sie mit den Worten: »Interieurs sind, seit es sie gibt – und es ist wichtig zu verstehen, dass es sie nicht seit jeher gegeben hat –, so etwas wie die nach außen gewendete Mode des Futterals, das Menschen für sich geschaffen haben. An ihm lässt sich fast alles ablesen, was man über den Menschen in seinem Epochenraum in Erfahrung bringen kann: der technische und handwerkliche Standard, Komfort, Stil, gesellschaftliche Stellung, Geschmack, Verhältnis von Innen- und Außenwelt, Selbstverhältnis. Wer Interieurs hinreichend zu interpretieren wüsste, könnte uns Auskunft geben über gesellschaftliche Inkubationszustände, Bürgerkriege und die Abwickelung von Gesellschaftszuständen.« Dem lässt sich ein gegen den Positivismus ebenso wie gegen den Idealismus gerichteter Begriff von Empirie als Gedächtnis- und Erfahrungsgeschichte ablesen, dem Schlögel ähnlich wie Benjamin verpflichtet ist: historische Forschung nicht als Akkumulation disparater Realien, aus deren bloßer Addition ein vorgebliches Bild der jeweiligen Epoche abgezogen wird, sondern als hermeneutischer Prozess; Lektüre der in die Gegenstände eingewanderten Erfahrungen, Hoffnungen und vergangenen Möglichkeiten, die durch die in ihnen sedimentierte Geschichte eröffnet oder gekappt wurden.
In diesem Sinne hat Schlögel mit seinem Buch eine Erfahrungs- und Gedächtnisgeschichte der in Räume und Gegenstände (Adressbücher, Landkarten, Telefonbücher) eingewanderten Geschichte geschrieben. Und in diesem Sinne gibt er Anknüpfungspunkte für eine nicht auf Rekonstruktion und Restitution von Vermögenswerten beschränkte Provenienzforschung an die Hand. Wissenschafts- und politikgeschichtlich ist die sogenannte Provenienzforschung eng verbunden mit den am 3. Dezember 1998 von 44 Staaten, darunter Deutschland, und 13 nichtstaatlichen Organisationen unterzeichneten Washington Conference Principles on Nazi-Conficated Art. Diese waren das Ergebnis der zuvor stattgefundenen Washington Conference on Holocaust-Era Assets, deren anfängliches Ziel die völkerrechtlich verbindliche Regelung der Restitution von durch die Nationalsozialisten entzogenen, angeeigneten und zerstörten Vermögenswerten jüdischer Einzelpersonen, Familien und Organisationen sowie anderweitig nationalsozialistisch Verfolgter gewesen ist. Das vor allem von der amerikanischen Delegation befürwortete Ziel juristischer Verbindlichkeit wurde wegen der zu starken Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme der beteiligten Staaten bald aufgegeben; die Präambel der Abschlusserklärung setzte an dessen Stelle die Proklamation einer von den Unterzeichnerstaaten anerkannten »ethischen« Verpflichtung, sich für die Rekonstruktion und Restitution solcher Vermögenswerte und Kulturgüter einzusetzen.
Erst durch die Washingtoner Erklärung hat die politisch schon zuvor übliche Rede von der nationalsozialistischen »Raubkunst« und der Notwendigkeit von »Wiedergutmachung« eine vertragliche und institutionelle Grundlage erhalten. Der Anlass, durch den sie zustande kam, war eine Art Gegen-Raub gewesen. Im Januar 1998 hatte die New Yorker Bezirksstaatsanwaltschaft im Museum of Modern Art zwei aus der Wiener Sammlung Leopold, die bis heute die größte Egon-Schiele-Sammlung beherbergt, stammende Gemälde Schieles – das »Bildnis von Walburga Neuzil« und »Tote Stadt III« (1911/12) – als Diebesgut beschlagnahmt. Der Sammler Rudolf Leopold, in dessen Besitz sich die Bilder befanden, und seine Erben führten in der Folge zahlreiche Rechtsstreite mit Erben der von den Nationalsozialisten enteigneten früheren jüdischen Besitzer sowie mit der Israelitischen Kultusgemeinde, für deren Lösung nach der Verabschiedung der Washingtoner Erklärung unterschiedliche Formen des Kompromisses gefunden wurden: Verbleib des Kunstwerks in der Sammlung und finanzielle Abfindung für den ursprünglichen Eigentümer oder dessen Erben; Rückgabe eines Teils der Werke an den früheren Eigentümer gegen Verbleib eines anderen Teils in den Sammlungen; Übergabe der in Frage stehenden Werke an ein anderes Museum.
Dass derlei Kompromisse sowohl von Gegnern der Restitution, die Rückerstattungen jeglicher Art als »Enteignungen« beargwöhnen, wie von Anhängern, die am liebsten jegliches »Raubgut« aus Museen, Galerien und Sammlungen, die es sich widerrechtlich angeeignet hätten, entfernen würden, als unmoralisches »Geschacher« angeprangert werden, ist bezeichnend. Der einen Fraktion gelten Gemälde und andere Kulturgegenstände als nichts anderes denn als das Eigentum desjenigen, der es im Hier und Jetzt besitzt und dessen Eigentumsrecht durch transnationale Abkommen sozusagen sozialistisch beschnitten würde. Die andere Fraktion hat den Satz, dass Eigentum Diebstahl sei, auswendig gelernt, und freut sich über Rückerstattungen vor allem deshalb, weil durch sie gegenwärtigen Eigentümern etwas genommen werden kann; ob es in ein früheres Eigentumsverhältnis überführt oder der Öffentlichkeit übergeben wird, ist im Grunde zweitrangig. Beide Gruppen übergehen dabei nicht nur, dass Restitutionsstreitigkeiten fast immer mehr als nur zwei Parteien – die des gegenwärtigen und die des früheren Eigentümers und ihrer jeweiligen Erben – betreffen: Im Egon-Schiele-Fall beispielsweise das Museum of Modern Art, das Teile der Sammlung Leopold beherbergte, sowie die künstlerisch interessierten Öffentlichkeiten in New York und Wien.
Vor allem aber lehrt die Provenienzforschung, auch wenn sie als Hilfswissenschaft bei der Rekonstruktion und Restitution durch die Nationalsozialisten widerrechtlich angeeigneter oder zerstörter Vermögenswerte entstanden ist, dass materielle wie ideelle Kulturgüter, obschon sie alle dem Prinzip des Eigentums subsumiert sind, nicht im Status des Eigentums aufgehen: Die Geschichte ihrer Entstehung, ihres Eigentums und Eigentumswechsels, des Raubs, der Konfiszierung, der Versuchs der Zerstörung, der Rettung und Rekonstruktionsversuche des jeweiligen Kulturguts zeichnen sich unweigerlich, ganz im Sinne von Benjamins Darstellung der Verschränkung von Materialität und Geschichte, in die als Kulturgüter geltenden Objekte ein und machen allererst das aus, worin sie über ihren Status als Eigentum hinausweisen. Die Urgeschichte solcher Verschränkungen ist es, die die Provenienzforschung rekonstruieren muss, gerade auch, um die ihr zukommenden juristischen und politischen Aufgaben angemessen zu erfüllen. Der »Material Turn« der Kulturwissenschaften, der ein Versuch ist, solcher historischen Konkretion durch Beschwörung einer metaphysisch hypostasierten »Materialität« auszuweichen, interessiert sich anders als die Provenienzforschung nur wenig für die in die Objekte, in ihre Materie, eingewanderte Geschichte. Seine Vertreter neigen dazu, in sämtlichen Kunstsammlungen oder Museen ahistorisch nichts als verkappte Raubgutkollektionen zu sehen und die Geschichte nationalsozialistischer Enteignungen als bloßes Beispiel für den räuberischen Charakter der westlichen Kultur insgesamt wahrzunehmen. Die Differenzierungen, auf die die Provenienzforschung durch ihre wissenschaftsgeschichtliche Genese verpflichtet ist, drohen dabei kassiert zu werden.