Zu den unsinnigsten Zeitdiagnosen gehört die Vorstellung vom drohenden Untergang der Menschheit durch Künstliche Intelligenz. Dass es sich dabei oft weniger um eine Befürchtung als um eine mit Angstlust besetzte, kaum verhohlene Wunschvorstellung zu handeln scheint, zeigt sich in der alltäglichen Angleichung und somit Herabsetzung menschlichen Denkens an algorithmische Standards. Gegenwärtig kann man das im Bereich der Psychologie beobachten: Obwohl er bereits in den 1940er-Jahren unter dem Einfluss der Archetypenlehre des Psychoanalytikers C.G. Jung entwickelt wurde, scheint der sogenannte Myers-Briggs-Typenindikator heute populärer denn je zu sein. Er ist nicht nur die Grundlage für dutzende Onlinetests, die dabei helfen sollen, herauszufinden, zu welchem von 16 verschiedenen Persönlichkeitstypen der Befragte gehört; das jeweilige Ergebnis – eine oft auf einen Titel runtergebrochene Buchstabenkom-bination, die verspricht, Wesensart und Temperament einer Person
zusammenzufassen – ist gerade bei jungen, für »Mental Health« und »Persönlichkeitsentwicklung« besonders sensiblen Menschen inzwischen oft direkt neben den Pronomen im Social-Media-Profil zu finden. Ist man schüchtern oder gesellig? Intuitiv aufbrausend oder in sich ruhend? Rational oder sensibel? Anhand der Faktoren Motivation, Aufmerksamkeit, Entscheidungsfreudigkeit und Lebensstil bekommt jeder die Freiheit, sich in die Persönlichkeits-Dichotomien einzuordnen.
Die oft nur wenige Minuten dauernden Tests versprechen das zweifelhafte Vergnügen, in eine von 16 minimalistischen Charakter-Schemata einsortiert zu werden. So findet die Einteilung auf der Internetseite 16Personalities in 4 gröbere Gruppen statt (Analysten, Diplomaten, Wächter, Forscher), die dann noch einmal in jeweils 4 Subtypen kategorisiert werden. Zu den Forscher-Typen gehören der »kühne und praktisch veranlagte« Virtuose (ISTP), der »flexible und charmante« Abenteurer (ISFP), der »kluge, energiegeladene und äußerst scharfsinnige« Unternehmer (ESTP) und der »spontane, energiegeladene und enthusiastische« Entertainer (ESFP). Will man sich genauer informieren, nennt einem die Seite noch einzelne Berühmtheiten (darunter Promis, seit Jahrhunderten verstorbene Philosophen oder fiktive Charaktere aus Filmen und Serien), die diesem und jenen Persönlichkeitstypus zuzuordnen sind. So können sich etwa immerhin 3% der Menschheit glücklich schätzen, ein charismatischer, zum Anführer geborener Kommandeur (ENTJ) wie Steve Jobs, Margaret Thatcher oder Malcolm X zu sein. Das PDF mit weiteren Ausführungen zu individuellen Stärken und Schwächen, romantischen Beziehungen und beruflicher Laufbahn kostet dann aber knapp 5 Euro.
Wem Astrologie zu hanebüchen anmutet, kann sich mithilfe schematisierender Selbsterfahrungs-Tests vom Vorwurf des Aberglaubens befreien (schließlich handelt es sich bei dem Myers-Briggs-Typenindikator um ein Diagnoseverfahren, das inzwischen in Unternehmen Anwendung findet), um – im Jargon der postmodernen Bürowelt – Potentiale und Fähigkeiten jedes Einzelnen besser zu fördern. Die Myers-Briggs-Akronyme sind auch auf Datingplattformen keine Seltenheit mehr: Passenderweise finden sich unzählige Selbsthilfe-Ratgeber im Internet, die mit Bestimmtheit vorhersagen, welche Typen zusammenpassen und welche nicht. Genau wie die Astrologie suggerieren die Myers-Briggs-Persönlichkeitstests ein Menschenbild, in dem der Einzelne von nicht zugänglichen Kräften gesteuert wird: Jeder ist eben so, wie er ist und die zentrale Aufgabe eines jeden besteht darin, sein Schicksal anzuerkennen und auf Grundlage dessen zu handeln. Diese trostlose Algorithmisierung des Einzelnen lässt nicht viele Wege offen, bietet aber immerhin festen Grund und die Scheinklarheit, sich endlich leichter orientieren zu können. Nur sind es jetzt eben nicht mehr Sternbilder, die die Einzelnen lenken, sondern eine als verhärtete Struktur vorgestellte Persönlichkeit, die sich in einem Akronym auf den Punkt bringen lässt und keinen Raum für Widersprüche lässt. Die durchschematisierte Borniertheit und die Anpassung an vorgegebene Rollen, die jedem im – nicht nur beruflichen – Alltag abverlangt wird, wird nicht mehr als zweckorientierter Imperativ wahrgenommen, sondern als eine natürliche Tatsache, die es anzuerkennen gilt. Die klassische Astrologie hatte in Form von Horoskopen immerhin noch spielerisch-orakelnden Charakter, während postaufklärerische Selbsterfahrungs-Experten sich wohl tatsächlich den eindimensionalen Prototypen annähern, die sie von Geburt an zu sein glauben.
Abseits ihrer ideologischen Funktion steht die Validität der schematisierenden Test-Psychologie in Frage. Denn die Probleme beginnen bereits bei den unhinterfragten Prämissen: Ist die Selbstauskunft eines Menschen gegenüber einem von vornherein festgelegten Fragenkatalog wirklich aussagekräftig? Was, wenn der Befragte so antwortet, wie er sich selbst gern sehen möchte? Was, wenn er ein bestimmtes Ergebnis erzielen möchte, um dem Blick eines Anderen (dem Arbeitgeber, der Familie oder der Geliebten zum Beispiel) zu entsprechen? Der Myers-Briggs-Typenindikator blendet Fragen wie diese, bei denen sich tatsächlich etwas über den komplexen Charakter eines jeden Menschen erfahren ließe, einfach zugunsten einer möglichst linearen Klassifizierung aus. Das scheint jedoch im Interesse der Befragten zu liegen: Psychologie wird zu einem hilfreichen Tool, mit dem sich eine weitere Facette zur virtuellen Visitenkarte namens Social-Media-Profil hinzufügen lässt. Schließlich muss man mithalten, nicht nur zuschauen, sondern auch aktiv »Content-Creator« sein, also Produzent gleichförmiger Variationen dessen, was eh schon ist. Weil das jedem, der dieses Spiel mitmacht, zumindest unbewusst klar ist, sucht man nach Wegen, sich hervorzuheben. Die Pointe dieser Dynamik ist, dass der Selbsterfahrungs-Markt für diejenigen, die sich nicht gleich eine Internet-Schnelldiagnose für eine psychische Erkrankung verpassen wollen, nur Individualität in Form von 16 vorgestanzten Mustern zur Auswahl hat. Die postmoderne Ödnis, die sich in der Netzwelt so schamlos preisgibt wie sonst nirgendwo, wird nicht aufgehoben, sondern einfach nur pluralisiert.