»Der zum Objekt der Verwaltung gemachte Mensch lernt so wenig aus Katastrophen wie das Versuchskarnickel über Biologie.« (Bertolt Brecht)
Die Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald fühlen sich laut eigenem Selbstverständnis dem Beutelsbacher Konsens von 1976 verpflichtet. Dieser enthält drei für die politische Bildung übergreifende didaktische Leitgedanken:
(1.) Überwältigungsverbot: Es meint, den Lernenden nicht im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln. Eine Erziehung zur Mündigkeit ist das Gegenteil von Indoktrination.
(2.) Kontroversitätsgebot: Was in Forschung oder Politik umstritten ist, muss auch bei der Wissensvermittlung als kontrovers kenntlich gemacht werden. Gegensätzliche Positionen sollen von der Lehrkraft – unabhängig von ihrem persönlichen Standpunkt – aufgezeigt werden.
(3.) Befähigung zum politischen Urteilen: Der Schüler soll in die Lage versetzt werden, politisch denken zu lernen, um die eigene Position in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation reflektieren und selbstbestimmt ein begründetes Urteil ziehen zu können.
Torhaus des Konzentrationslagers Buchenwald mit der Uhr, die auf dem Zeitpunkt der Befreiung durch US-amerikanische Truppen um 15:15 steht. (Foto: Chiode (CC BY-SA 4.0))
Ein zeitgemäßes Medium politischer Bildungsarbeit ist der Audiowalk. Ein Hörspaziergang ist ein interaktives Erlebnis, bei dem man durch das Hören von Audio-Inhalten und Geräuschen das Wissen über eine bestimmte Umgebung oder ein thematisches Konzept vertieft. Dabei werden Hörspiel-, Dokumentations- und Besichtigungselemente kombiniert, um Geschichten zu erzählen, Informationen zu vermitteln und emotionale Erfahrungen zu schaffen. »Buchenwald. Ein Audiowalk | Weimar«1 heißt ein im Jahr 2021 veröffentlichter Hörspaziergang der Gedenkstätte Buchenwald. Er beginnt mit einer knappen Vorstellung der 14-köpfigen Gruppe, die diesen 66-minütigen Audiowalk unter Federführung des Gedenkstättenpädagogen Ronald Hirte produziert hat. Auffällig ist die Heterogenität des Produktionsteams: So wird darauf hingewiesen, dass für manche von ihnen »die Erfahrung von Rassismus und Diskriminierung in diesem Deutschland zum Alltag« gehört. Einige haben »selbst Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Flucht« machen müssen. Getroffen hätten sie sich, »um ihre verschiedenen Perspektiven auf Buchenwald zu beleuchten«.
Unmittelbar nach einem Standortabgleich des Hörers auf dem Gedenkstättengelände wird eine Audio-Aufnahme des Holocaust-Überlebenden Abraham Kimmelmann (1926–2020) eingespielt, der vom Psychologen David P. Boder (1886–1961) am 27.8.1946 interviewt wurde. Kimmelmann, ein aus Polen stammender Jude, weist gleich zu Beginn dieses Gesprächs auf die Repräsentationsproblematik hin, die in der Unmöglichkeit besteht, »alles zu erzählen, wie es war.« Für dieses Dilemma der Zeugenschaft hat der Schriftsteller W.G. Sebald die poetische Formulierung gefunden, dass »das Erinnerungsvermögen von Überlebenden meist bestimmt ist von Lagunen der Amnesie einerseits und unauslöschlichen Bildern andererseits«.
Obwohl Kimmelmanns Erlebnisse dringend nach Erzählung verlangten, geriet dieses Erzählen auch deshalb an Grenzen, weil sich Traumata meist negativ auf die Funktionsweise von Gedächtnisprozessen auswirken. Besonderes Augenmerk wird im Audiowalk darauf gelegt, dass Kimmelmann sein Gegenüber, den Interviewer Boder, auf die konträren Erzählweisen zweier anderer ehemaliger Häftlinge hinweist »und trotzdem«, wie er betont, »haben sie beide die Wahrheit gesagt.« Dies nimmt ein im Audiowalk vermitteltes Verständnis von historischer Wahrheit vorweg, das mit den hier thematisierten gegenläufigen Sichtweisen auf die erinnerten Erlebnisse in Buchenwald den fortschreitenden Zerfall des Wahrheitsbegriffs unterstreicht.
Allgegenwärtigkeit von Genozid
Interessanterweise sieht sich das Produktionsteam vom ersten Treffen an damit konfrontiert, dass »Vergleiche zwischen den Verbrechen in Buchenwald und denen an anderen Orten da« waren. Die Sprecherin des Audiowalks macht kenntlich, dass sich diejenigen im Team, die
in Deutschland aufgewachsen sind, bei dieser Thematik unwohl fühlen würden. Denn sie würden befürchten, dass Vergleiche als Gleichsetzungen missverstanden werden würden: Hier wird das angeblich bestehende Vergleichsverbot thematisiert, das besagt, der Holocaust dürfe nicht mit anderen Massenmorden verglichen werden. Demgegenüber sieht sich die Deutsch-Libanesin Nancy Alhachem nicht an das Vergleichsverbot gebunden. Die Doktorandin forscht über Erinnerungskulturen und fragt nach den Gründen derartiger Vergleiche: Ihr zufolge geht es beim Vergleichen entweder um das Verstehen eigener Gefühle und Erinnerungen oder aber darum, etwas als unwichtig darzustellen. Was sie genau damit meint, bleibt zunächst nebulös. Schließlich bekennt sie sich zu einer überzeitlichen Allgegenwärtigkeit von Genoziden:
Es gäbe überall Krieg und Genozid. Natürlich sei es nicht dasselbe. Buchenwald wäre ein geeigneter Ort für Leute, die einen Krieg überlebt haben und ihn hier verarbeiten könnten. Man komme nicht nur mit der Erinnerung an den Holocaust, sondern auch mit eigenen Erinnerungen, so Alhachem. Unklar bleibt hier, welchen Genozid sie überhaupt meint. Fest steht, dass sie, weil sie nicht in der BRD aufgewachsen ist, befähigt zu sein scheint, Genozide vergleichen zu können, ohne sich deshalb unwohl fühlen zu müssen: Da Krieg und Genozid laut Alhachem allgegenwärtig sind, ist der Schritt dahin vorbereitet, von der unterstellten Priorisierung des Holocaust zu abstrahieren.
Ewige Wiederkehr des Gleichen
Zu hören ist das Geräusch elektrischen Summens der 1938 erbauten, linksseitig liegenden Transformatorenstation, die das Gelände mit Strom versorgt. Vogelgezwitscher. Darauf folgt eine Darstellung des damaligen Torgebäudes – und der Turmuhr mit der fixierten Uhrzeit: 15.15 Uhr. Aufforderung zum Eintritt in den ehemaligen Gefangenenbereich. Die symbolisch still gestellte Uhr markiert den Augenblick der Befreiung des Lagers am 11.4.1945. Zum damaligen Zeitpunkt fanden die eintreffenden Soldaten der 3. US-Armee zirka 21.000 noch dort verbliebene Häftlinge vor.
Wieder wird der Audiowalk-Hörer dem damaligen Tatort durch einen Gegenwartsbezug entrückt: Rani Alshamat, ein aus Syrien geflohener Journalist, rückt die Turmuhr in den Fokus: »Die Uhr blieb um 15.15 Uhr stehen und markierte eine Pause einer traurigen Geschichte, die in verschiedenen Teilen der Welt wiederholt und wiederholt wurde. Aber die Uhr ist immer noch da. Und alles ist immer noch so wie vor 75 Jahren [gemeint ist wahrscheinlich der Zeitpunkt der Befreiung des Lagers]. Mein Gefühl ist jetzt Angst. Angst, dass die Uhr sich wieder einschalten und die Pause beenden wird. Leider wiederholt sich die Geschichte immer und immer wieder an verschiedenen Orten. Was auch immer wir tun, um die Welt zu reformieren, es wird uns nicht gelingen. Das ist Schicksal.«
Das heißt, Alshamats Besuch in Buchenwald führt ihm nach der Flucht aus Syrien vor Augen, dass die Geschichte ein Zyklus ist. Angesichts der ewigen Wiederkehr des Gleichen erübrigt sich für ihn die für eine Spezifizierung notwendige Differenzierung. Besonderheiten lösen sich im Ozean der Geschichte ohnehin auf. Einzelne Details verschwimmen in der Chronologie der Wiederholung oder werden vom Strom historiographischer Unbestimmbarkeit mitgerissen. Dieses überzeitliche Geschichtsverständnis macht deutlich, dass eine auf Wissen ausgerichtete Wahrheitssuche2 vergeblich ist, weil multidirektionale Relativitäts- und Relationalitätsparadigmata die Bedingung der Möglichkeit von Wissen und Erkenntnis massiv beeinträchtigen. Im Kreislauf des Immergleichen ist es nahezu unmöglich, überhaupt noch Unterscheidungen3 zu treffen.
Alshamats zirkulär-fatalistisches Geschichtsverständnis knüpft an Nancy Alhachems anthropologischen Befund an, Krieg und Genozid gäbe es ohnehin überall. Ob aber alles immer noch wie zur damaligen Zeit ist, wie Alshamat behauptet, steht teilweise im Widerspruch dazu, dass aus dem damaligen Konzentrationslager (KZ) eine Gedenkstätte geworden ist. Seine Angst, die Turmuhr könne ihre ursprüngliche Funktion wieder aufnehmen, ist wohl allegorisch als Warnung vor der Wieder-inbetriebnahme des einstigen KZ zu verstehen und deutet auf eine mögliche Horizontverschmelzung von damals und heute hin.
Vor dem Lagertor stehend, ist die bekannte Inschrift »Jedem das Seine« zu lesen. Das Produktionsteam macht nun transparent, dass sich bei der Konzeption des Audiowalks oft Diskussionen daran entzündeten, ob sich die Geschichte wiederhole und ob aus der Geschichte gelernt werden könne. Zur Beantwortung dieser Fragen wird ein Redeauszug des Holocaust-Überlebenden und renommierten Literaten Elie Wiesel (1928–2016) eingefügt, der genau an dieser Stelle im Juni 2009 sprach. Die entnommene Passage enthält folgende Quintessenz: Wenn die Lektion im Jahr 1945 nach der Befreiung gelernt worden wäre, hätte sich die Geschichte in Kambodscha, in Ruanda, in Darfur und in Bosnien nicht wiederholt, so Wiesel. Mit anderen Worten: Um das Verhängnis einer ewigen Wiederkehr des Gleichen zu durchbrechen, ist es notwendig, die Geschichte als große Lehrmeisterin zu begreifen, deren Belehrungen sich Menschen nicht länger widersetzen sollten.
Erst Urteilsbildung, dann Begriffsklärung
Die Sprecherin weist darauf hin, dass die Macher des Audiowalks im weiteren Verlauf der Diskussionen zu differenzieren versuchten: »Was bedeutet Krieg? Was bedeutet Lager? Was ist ein Genozid? Und was ist die Shoah? Was sind die Unterschiede zwischen Buchenwald und Birkenau?« Eine Beantwortung der Fragen bleibt aus. Was mit Blick auf die Ausbildung historischer Urteilskraft erstaunt, ist die hier dargestellte Reihenfolge geschichtspädagogisch angeleiteten Lernens: Beim Versuch, die historische Unterscheidungsfähigkeit zu verlernen, geht die Urteilsbildung der Begriffsklärung voraus.
Anschließend erhält der Zuhörer Informationen über den Schriftzug »Jedem das Seine«, z.B. über dessen missbräuchlich-subversive Umdeutung durch die Nazis. Der Zuhörer erfährt auch von der wechselvollen Zusammensetzung der in Buchenwald und in seinen Außenlagern internierten Häftlinge: So wurden insgesamt 277.800 Menschen aus über 50 Ländern inhaftiert, von denen mindestens 56.000 Gefangenschaft und Zwangsarbeit nicht überlebten.
Es folgen Bezüge zur Umgebung: 3.500 Meter elektrisch geladener Stacheldrahtzaun, der durch das eingespielte Geräusch des Windes zum Schwingen gebracht wird und die sinnliche Wahrnehmung des Rezipienten intensivieren soll, ja in der Vorstellung das Damals im Jetzt nachhallen lässt. Blick durch den Zaun hindurch über den Nordhang des Ettersbergs in das Thüringer Land, Blick direkt über den Appellplatz, über die längst abgerissenen Baracken, die Häftlingskantine, Ausführungen über das für nur 100 Tage eingerichtete Sonderlager innerhalb des Lagers, das anlässlich der Reichspogromnacht für 9.845 Juden zur Zwangsunterkunft wurde und 250 von ihnen nicht überlebten. Erneut das Rauschen des Windes.
Gaskammer-Mittelmeer-Analogie
Während zu Beginn des Hörspaziergangs überwiegend von Flücht-lingen geprägte Einordnungen leitend sind, kommt nun nochmal ein Holocaust-Überlebender zu Wort. Der Aufruf von Ivan Ivanji (1929–2024), Literat und Journalist, stammt aus einer 2016 auf der Gedenkstätte gehaltenen Rede. Zu diskutieren wäre, was dafür und was dagegen spricht, das Katastrophengeschehen in dem Sinne umzudeuten, wie Ivanji es macht:
»Man soll Unvergleichliches nicht vergleichen wollen, aber ein Gedanke geht mir nicht aus dem Sinn und ich werde es trotzdem tun, denn es geht wieder um Millionen. Wir sehen Bilder von einem Stacheldraht, der moderner und gefährlicher wirkt, als derjenige, der die Konzentrationslager umgeben hat, die Stacheln sind schärfer geworden. Mit elektrischem Strom sind sie nicht geladen. Ich verscheuche die schreckliche Frage: Noch nicht? Von Schießbefehlen hat man schon gesprochen. Ich denke dabei an unvergleichliche Tragödien. Ein Kind aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak klammert sich vertrauensvoll an seine Eltern und besteigt mit ihnen ein Boot. Genau so, vertrauensvoll Hand in Hand mit seinen Eltern, ist ein jüdisches Kind in Auschwitz in die Gaskammer gegangen. Das erste hat im Meer nicht mehr atmen können, das andere im Gas. Das eine ist ertrunken, das andere verbrannt worden. Wasser und Feuer. Und Kindestod. Nicht auf die Zahlen kommt es an, wie viele, wo genau, weshalb, wann, bitte keine Statistik, sondern Trauer für ein jedes totes Kind.«
Ausgerechnet in der in der Debatte um die höchst umstrittene Frage, ob Auschwitz entweder ein präzedenzloses Verbrechen, das alle Dimensionen historischer Erfahrung gesprengt habe, oder aber ein Völkermord wie jeder andere4 war, bezieht Ivanji hier Stellung, ohne dass die Kontroversität der Thematik auch nur irgendwie im Audiowalk kenntlich gemacht werden würde. Das widerspricht nicht nur dem Beutelsbacher Konsens, sondern wirkt in diesem Zusammenhang vor allem revisionistisch.5 Dass Ivanji als Jude und Auschwitz-Überlebender zur Sprache bringt, welches geschichtspolitische Narrativ sein Fühlen und Handeln bestimmt, ist nachvollziehbar. Auch an politische Werthaltungen zu appellieren, ist legitim. Jedoch zeigt sich an dem obigen Redeauszug, dass die Macher des Audiowalks weniger ein geschichtsdidaktisches als vielmehr ein politaktivistisches Anliegen verfolgen. Ivanjis Mahnruf richtet sich gegen diejenigen, die die Außengrenzen Europas stärker gegen Einwanderung geschützt sehen wollen. Sehr bedenklich ist aber die Gaskammer-Mittelmeer-Analogie, weil sie doktrinär ist und jede Form von Gegengewalt legitimiert. Dem schiefen Skript folgend, wird das sog. europäische Grenzkontroll-Regime als zeitgemäße Form des NS-Regimes inszeniert: Während die NS-Ideologie jedoch territoriale Staatsgrenzen kaum anerkannte, verfolgt man mit der porösen ‚Festung Europa‘ das Ziel, die Fluchtbewegungen nach Europa zu regulieren.
Das Katastrophengeschehen in der Gaskammer mit der riskanten Flucht über das Mittelmeer zu parallelisieren, verlangt zumindest nach einem reflektierenden Innehalten, auch um die Voraussetzung für eine Erziehung zur Mündigkeit zu gewährleisten. Das Besteigen eines Boots, um damit aus Nordafrika über das Mittelmeer zu gelangen, unterscheidet sich grundsätzlich vom Betreten der Gaskammer, weil die Flucht nach Europa mit der teilweise berechtigten Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden ist. Wenn Schleuser die primitiven und überfüllten Boote in See stechen lassen, nehmen sie das Ertrinken der Bootsflüchtlinge fahrlässig in Kauf. Jedoch ist die Überquerung des Mittelmeers mit Booten de facto nicht auf Mord ausgerichtet. Die Gaskammern waren hingegen ausschließlich zur Ermordung bestimmter Menschengruppen vorgesehen. Im Normalfall wurde sie von Häftlingen in dem Glauben betreten, eine Dusche zu nehmen. Die Nazis erfanden perfide Täuschungsstrategien, um die wie Ungeziefer hinzumordenden Menschen bis zuletzt in Sicherheit zu wiegen.
Wer Unvergleichliches vergleichbar machen will, ist auf multidirektionale Postfaktizität angewiesen, um somit Nichtidentisches in der postmodernen Logik6 des identitären Denkens einander anzugleichen und Unterschiede einzuebnen. Daraus ergibt sich, dass das von Michael Rothberg inspirierte Konzept multidirektionaler Erinnerung7 das Gegenteil von dem bewirkt, was es zu erreichen vorgibt. Statt einer angeblich angestrebten Überwindung der Opferkonkurrenzen eskaliert der Konflikt um Aufmerksamkeit weiter. Nach Ansicht von Gottfried Kößler, dem ehemaligen stv. Leiter des Fritz-Bauer-Instituts, geht es in der Gedenkstättenpädagogik hingegen »nicht um die Vermittlung von politischer oder moralischer Orientierung, sondern um die Vermittlung von Orientierungskompetenz«.
Decolonize Buchenwald?
Diese Analyse hat nicht den Anspruch vollständig zu sein, auch weil eine Kritik des gesamten Audiowalks den Rahmen sprengen würde. Abschließend sei auf das Denkmal für alle Toten des KZ Buchenwald auf dem ehemaligen Appellplatz hingewiesen, eine permanent auf menschliche Körpertemperatur gehaltene Metallplatte. Die Sprecherin des Audiowalks betont in dem Kontext die verschiedenen Herkünfte der Menschen, die das Lager nicht mehr lebendig verließen:
»Die Auflistung der Nationalitäten lässt die Vielheit der im Verlauf des Zweiten Weltkriegs Verfolgten erahnen. Sie zeigt außerdem, dass die Welt des frühen 20. Jahrhunderts eine kolonial geprägte Welt war. So trugen etwa 7 Millionen Soldaten aus den Kolonien zur Befreiung Europas von den Nazis bei. Auch in den Konzentrationslagern befanden sich Menschen aus den damaligen französischen und englischen Kolonien. Ihre Geschichten gehören noch erzählt.«
Begrüßenswert ist das Vorhaben, die Geschichten der zirka 2.500 damals dort inhaftierten Häftlinge aus den Kolonien zu erzählen. Jedoch stimmt die Angabe von insgesamt 7 Millionen Soldaten, die aufseiten der Alliierten an der Befreiung Europas beteiligt gewesen sein sollen, nicht mit den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft überein. Es gibt, abhängig von der jeweiligen Quelle, variierende Zahlen. Nach aktuellem Kenntnisstand schätzt man, dass die Gesamtzahl alliierter Kolonialsoldaten bei 2, maximal 4 Millionen liegt. Um einer einseitig verzerrten Deutung vorzubeugen, ist es zugleich unabdingbar, etwa die Geschichten über Mohammed Amin al-Husseini, Raschid Ali al-Gailani und Subhash Chandra Bose sowie über die SS-Divisionen Handschar, Skanderbeg und Legion Freies Indien zu erzählen.
Folgende Fragen stellen sich vor diesem Hintergrund: Was waren die Ursachen für die starke mentale Identifikation großer Teile der kolonisierten Welt mit Nazi-Deutschland? Inwieweit setzt sich der antikoloniale Kampf gegen die französischen und britischen Kolonialmächte gegenwärtig in den antiwestlichen, gegenaufklärerischen Semantiken fort, die Merkmale des Postkolonialismus8 sind? Inwiefern erkannte auch der NS im Arier-Mythos die Vielheit der Nationalitäten an? Zuletzt geht es bei der Klärung dieser Fragen darum, das Verschwinden des Holocaust im Gedenken ebenso zu verhindern wie den Zerfall des Wahrheitsbegriffs bei der Interpretation von Geschichte.