Die beiden Flussgöttinnen Mnemosyne und Lethe treffen in einer Grotte aufeinander und realisieren, dass ihr Gedächtnis ungeplanter Obszoles-zenz verfällt: Welchen Wert, welche Bedeutung haben Erinnerungen unter Bedingungen ihrer digitalen Generierung, Formierung, Reformierung, Deformierung und Repräsentation überhaupt?
Mnemosyne: Oh flussarmige Lethe – richte den Blick auf uns einst ehrfurchtgebietende Unterweltflüsse; die wir hier in diesen stehenden Tümpel einmünden, der nunmehr die Welt ist und zu deren Brack-wasser wir werden. Früher zeitigte dein Wasser als Trank den Verlust der Erinnerung – doch heute ist das Vergessen selbst dem Gedächtnis entrissen. Wenn ich wahrhaftig sein soll, WILL ich mich gar nicht mehr erinnern.
Lethe: Fürwahr, oh quelläugige Mnemosyne: unter beklagenswerten Umständen treffen wir aufeinander. Labsal war dein Wasser für jene, deren Gedächtnis selbiges keinem löchrigen Eimer mehr reichen konnte und Gedächtnisstützen aus Stahlstreben benötigen. Du befreitest die, die geschichtslos in der Stasis ihrer Gegenwart gefangen waren. Wenn auch ich mich ehrlich bekennen soll, KANN ich mich gar nicht mehr erinnern.
Mnemosyne: Verzage nicht oh Lethe. Denn wie oft ...[Pause]...Hörst du das auch? Diese marodierenden Geräusche? Das klingt wie in einer dieser Hörspielproduktionen, wo im Hintergrund ständig irgendwelcher Kilo-Musik dahinwummert, weil das Vertrauen in die Qualität des Textes so groß nicht ist, was durch ständige Soundkulisse kompensiert werden muss – fällt dir sonst noch etwas auf?
Lethe: Nicht auf, aber ein: Ich erinnere mich gerade an diesen Hundekampf und dass ich darin beinahe mein Flugzeug verloren habe.
Mnemosyne: Vielleicht haust diese Erinnerung in dir – sie entspringt aber keinem Erlebnis und entspricht weder direkter, noch vermittelter Erfahrung, weil die Erfahrung, die vermittelt wurde, keine echte, sondern eine rein virtuelle war.
Lethe: Du weißt, wovon ich spreche?
Mnemosyne: Ja. Es war aber kein Hunde-, sondern ein Luftkampf. Da hat wohl dein Übersetzungsmodul halluziniert. Wo waren wir?
Lethe: Nein – Übersetzungsmodule halluzinieren nicht; das macht generative KI, weil sie der bewährten Maxime »garbage in, garbage out« folgt. Oder warte….this just in: Übersetzungsmodule sind jetzt auch kreativ. Genauso wie Suchmaschinen. Die schreiben
mittlerweile kleine Essays.
Mnemosyne: 1985 veröffentlichten William Gibson und Michael Swanwick unter dem Titel »dogfight« gemeinsam eine Kurzgeschichte, die sich – nach meiner Erinnerung – selbst im Cyberpunk-Genre durch Blasswangigkeit auszeichnete.
Lethe: Aber ist dieses öde Gleichmaß nicht genau das, worum es dabei geht? Die technologie-induzierte Entfremdung nicht allein in Worte zu fassen, sondern rauszuexorzieren? Das, was Samuel Beckett Jahrzehnte zuvor gemacht hat? In einer Zeit, als erzählende Texte nur mehr die Wahl hatten, als untote Wiedergänger des untergegangenen bürgerlichen Zeitalters herumzuwesen oder in den Rüstungswettlauf mit dessen Zerfall einzutreten? Wer hätte auch ahnen können, dass Selbstreferentialität einmal eine literarische Tugend werden würde?
Mnemosyne: Gut - fair point; jeder Zeit ihre Kunst und der Kunst ihre Freizeit. Die Postmoderne hat es wahrscheinlich nicht besser verdient. Aber dennoch: Das Schicksal dieser Figuren berührt mich nicht. No emotions were invested und Investitionen müssen lohnen. Freizeit ist Geld, Geld kann man dann in Kunst investieren und von der Rendite kauft man sich Gefühle.
Ich bleibe dabei: Eine virtuelles Erlebnis ist keine Erfahrung – nicht mal eine indirekte.
Lethe: Aber die Figuren sind doch nur virtuell virtuell – ansonsten sind sie ganz sie selber. Sie kriegen Neuroblocker verpasst, an denen sie leiden, sie werfen Drogen ein, um sich konzentrieren zu können. Sie sind also fast wie wir – und ganz am Schluss merkt die Hauptfigur [WARNING: VIEWER DISCRETION STRONGLY ADVISED], dass sie zwar die Kämpfe gewonnen hat, aber vor niemandem damit prahlen kann, weil sie ganz allein ist mit sich.
Mnemosyne: Dann haben wir es mit einem cautionary tale zu tun, das uns lehrt, dass das ganze glitzerbunte Bohei in virtuellen Begebenheiten, die dutzenden Stunden, die mit dem Aussortieren von hunderten Urlaubs-Selfies zugebracht werden, genauso gut aufs Spielen mit der Unterlippe hätten verwendet werden hätten können? Aber diese Warnung biegt sich auch auf die Geschichte selbst zurück – den ganzen Sub-Plot mit den virtuellen Flugzeugkämpfen hätte man sich sparen können. Der hat die Leserin raffiniert dazu gezwungen, ihre Lebenszeit zu verschwenden und hält ihr das dann auch noch vor.
Lethe: Und man verdient kein Geld mit dem Lesen von Geschichten – heutzutage nicht mal mehr in den Lektoratsabteilungen, weil es DIE EINFACH NICHT MEHR GIBT.
Mnemosyne: Anders als die ganzen Influencer mit monetarisierten Youtube- und Instagramkanälen, die CONTENT producen.
Lethe: Making CONTENT makes people content. Solange sich die ganze Passion irgendwann auch am Konto niederschlägt.
Mnemosyne: Genau – sei erst einmal zufrieden, mit dem, was der Chanel abwirft und wenn’s nicht mehr passt, gehst du halt nach Dubai und machst schöne Bilder davon, wie geil dort alles ist.
Lethe: Oder du lässt dich fürs Computerspielen bezahlen.
Mnemosyne: Wie der Typ in der Geschichte von Gibson und Swanwick. Da geht es eigentlich um diesen Dieb namens Deke, der in Florida auf dieses Computerspiel Spads & Fokkers stößt, das über Neuroimplantate im virtuellen Raum gespielt wird und wo Flugzeuge aus dem Ersten Weltkrieg gegeneinander antreten.
Lethe: Hast du nicht auch mal im Luftkampf einen Hund verloren?
Mnemosyne: Nein, das findet sich nicht in meiner Erinnerung, sondern klingt eher nach deinen Fabeleien. Kann es sein, dass wir unsere Gedächtnisse vertauscht haben?
Lethe: Keine Ahnung, ich kann mich nicht erinnern. Auf jeden Fall wird da in der Geschichte auf diese virtuellen Spiele gewettet, die un-virtuell in Florida stattfinden und zum Glück trifft unser Dieb auf die Hackerin Nance, mit der er sich gut stellt. Das mit Nance wird aber keine Romance, sondern er klaut ihr ein Gehirn-Computer-Interface, das sie verbessert hat und mit dem sie eigentlich Karriere in der Computerindustrie machen wollte. Mit dem aufgepimpten Teil besiegt Deke der Dieb dann den amtierenden Champion Tiny, der auch noch ein Kriegsveteran im Rollstuhl ist.
Mnemosyne: Heute heißt Computerspielen ja E-Sports & neben Preisgeldern und Endorsement-Verträgen gibt es dafür sogar
staatliche Förderungen.
Lethe: Genau – Anfang 2024 hat der österreichische Staatssekretär für Digitalisierung Florian Dingsbums-schiessmichtot-habichvergessen satte 450.000 Euro Förderung dafür zur Verfügung gestellt. Hat ihm aber nicht geholfen – er wurde nichtmal Bürgermeister von Innsbruck IM SCHÖNEN LAND TIROL.
Mnemosyne: Der Staat hält den Keyboard-Jocks die feuchten Händchen, damit sie aus Mamas Keller rauskommen und es in die
Top Tournaments schaffen. Den Vorteil hatte der Typ in der Geschichte nicht.
Lethe: Stimmt - das war ein richtiger underdog-fight. Vielleicht sollte er sich mit den E-Sport-Champions zusammentun – dann können sie am Cyber-Lagerfeuer sitzen und sich Geschichten von ihren Kämpfen erzählen.
Mnemosyne: Auch Tiny, der Verlierer, der wahrscheinlich gar nicht klein ist, es zumindest nicht war, bis er für den Rollstuhl zurechtgeschossen wurde, aber so heißt, darf – eine tränen- und trinkreiche Versöhnung am Thresen später – vielleicht im Brodeo mitreiten.
Der hat als Veteran außer den flüchtigen Erinnerungen an irgendwelche Luftnummer mit virtuellen Flugzeugen auch solche, die sich tiefer eingegraben haben.
Lethe: Genau, Gewalt und Krieg bauen ziemlich robuste Erinnerungen; und hübsche Sonnenaufgänge enthusmiasmieren heutzutage nur noch wenige Menschen so heftig, dass sie sich jahrelang daran erinnern – egal, wie viele Digipics sie davon schießen.
Mnemosyne: ….wenn Eindrücke so stark sind, dass sie sich in den Körper fressen, werden sie Teil von ihm und bleiben darin wohnen.
Ich erinnere mich an ein Interview mit Alexander Kluge, in dem ER sich an die letzten Bombardements auf seine Heimadtstadt Halberstadt im Frühjahr 1945 erinnert. Das passiert bestimmt heute auch noch – nicht in Heimathalberstadt oder Halbheimatstadt. Es ist ja ständig irgendwo Krieg und wenn die Menschen darin nicht sterben, sind sie traumatisiert.
Lethe: Vielleicht fallen Intensität und Qualität von Erinnerungen heute einfach zusammen – früher hat es alle möglichen Erfahrungen gegeben, gute.... schlechte, die alle unterschiedlich stark waren. Je mehr Alltag in der Virtualität passiert, je mehr wir uns durchs Leben wischen, desto flacher und ärmer ist unsere Innenwelt.
Mnemosyne: Aber könnte es nicht umgekehrt auch so sein, dass die echten Erlebnisse sich dann umso stärker im Gedächtnis ablagern, weil sie sich vom digitalen Sameold-sameold abheben? Vielleicht ist die ganze Welt zu durchrationalisiert und zerwaltet.
Lethe: Wir brauchen eine neue Kunstströmung – einfach einen neuen Surrealismus oder Dadaismus, der dem Schock wieder zu seinem Recht verhilft. Der muss halt schneller, härter und praller sein – ein Schock 2.0 mit Adrenalin auf 11 gedreht und auf mehr Randale gebürstet.
Mnemosyne: Aber ist das nicht genau das Problem, dass wir in einer Reizspirale mit der Realität sind – die virtuelle Welt ist bunter, schöner, geiler und die reale muss da mitmachen. Früher waren Klippenspringen in Acapulco, Eisfischen in Island und Museums-besuche in Paris eine Sache von ONCE IN A LIFETIME. Heute ist das ein bettlägriger Dienstag mit Depressionen. Wenn die Menschen schöne Orte im Internet sehen, wollen sie da auch hin.
Lethe: So funktioniert Kapitalismus eben – mehr muss mehr, ob Schwerindustrie oder Spektakel. Von der Wiege bis zur Bahre, alles reimt auf Ware.
Mnemosyne: Darum verlieren auch Städte ihre Erinnerungen, weil da nichts mehr aufeinandertrifft, was sich unterscheidet: Früher wurde
in die Höhe geschichtet mit dem Hauspersonal unterm Dach – dann ging‘s in die Breite und BOOM: Suburbs. Städte zum Schlafen in denen das Leben unter der Bettdecke gar nicht mehr hervorkommt.
Lethe: Aber will man sich an das alles überhaupt erinnern? Die jungen Herren des gutbürgerlichen Stadthauses hatten ihr Zimmer neben dem der Dienstmädchen, damit sie sich in ihrer Hochzeitsnacht nicht ganz so dumm anstellen. Das war astreiner CLASS RAPE!
Mnemosyne: Na gut, vielleicht war früher auch nicht mehr Fruchtgeschmack; aber weniger externes Gedächtnis. Symbole sind nichts anderes, als Erfahrungen in Objektform, ausgelagertes Wissen, das nicht mehr an die Person gebunden ist, die die Erfahrungen gemacht, sich das Wissen angeeignet hat. Ohne diese Sinncontainer bleibt nur das Gedächtnis. Platon hat der Schrift misstraut und Rhetorik deshalb als höherwertig erachtet, weil sie ungleich flexibler ist, als zum Text erstarrte Rede.
Lethe: Aber die Tatsache bleibt: Wenn Platon das nicht aufgeschrieben hätte, wäre von seiner Schriftkritik wenig übrig geblieben, ebenso wie von seiner gesamten Ideenlehre. Auf Familienfeiern wird die jedenfalls ganz selten runtergesungen.
Mnemosyne: Darum hat er diese Worte ja Sokrates in den Mund gelegt und sich nicht als Platon den Papyrus schmutzig gemacht .
Lethe: Platon war außerdem der Ansicht, dass Pluton, der Gott der Totenwelt und Plutos, der Gott des unterirdischen Reichtums zusammengehören und durchaus venerabel sind – im Unterschied zum unsichtbaren Todbringer Hades. Latinisiert heißen übrigens Platon Plato und Plutos Pluto. Die einzigen Worte, die der Zeichentrick-Hund Pluto jemals gesprochen hat, waren »Kiss Me«. Wahrscheinlich wurde er zum Schweigen gebracht, weil er wusste, dass Walt Disney zumindest Nazi-Curious war. Latinisiert heißen Nazis Faschisten, sind aber was anderes und haben mit Mussolini zu tun, aber nichts mit Mousse au Lini, was nach Kamelopedia eine Nachspeise aus Weißwein, Litschi und Zuckerberg ist.
Mnemosyne: Wo kam das denn jetzt her?
Lethe: Keine Ahnung – fehlerhafte Schaltung, Bad Blocks auf der Festplatte. Scheinbar hat mein Prozessor einige Artikel aus open source intelligence zusammengeschnurrt und zu einer neuen Geschichte halluziniert. Das kommt heutzutage öfter vor – ich nenne das Kreativität TWO POINT O. Muss wohl meinen Speicher neu fragmentieren.
Mnemosyne: Was-wird-wohl….die nächste Gehirn- und Gedächtnismetaphorik sein? Jetzt sind wir bei Computer und Festplatte – davor hatten wir Kamera, Bibliothek, Wachstafel und ganz früher sogar Katapulte.
Lethe: Meiner Ansicht nach funktioniert das Gehirn wie eine Gardinenleiste, bei der die einzelnen Erinnerungen wie Gardinengleiter eingehängt und herumgeschoben werden.
Mnemosyne: Das Bild ist selbst ein wenig neben der Spur, aber hilfreich, um Mnemotechniken zu veranschaulichen. Da geht es schließlich darum, Gedächtnisinhalte mit irgendwelchen Markern zu verknüpfen, es an eine bestehende Struktur anzubinden, um dann eine Landkarte zu haben, an der man sich orientieren kann.
Lethe: Wie bei der Loci-Methode, wo man sich z. B: eine Rede dadurch einprägt, dass man deren Verlauf an geographische Gegebenheiten anschmiegt, um sie dann abrufen zu können, indem man die Umgebung visuell und zugleich gedanklich durchmisst und die einzelnen Redebestandteile aufklaubt.
Mnemosyne: Genau – es wird eine Assoziation erzeugt, die sich dann im Gedächtnis ablagert und durch äußere Stimuli reaktiviert werden kann.
Lethe: Wobei mir die Variante mit realen visuellen Orientierungs-punkten immer etwas praktikabler schien, als die Idee eines Gedächtnispalasts, wo man sich gedanklich etwas baut, in dem man sich dann die Erinnerungen organisiert.
Mnemosyne: Das kommt darauf an, was für dich besser funktioniert – ich bin aber auch gar nicht sosehr an diesen ganzen Techniken interessiert, mit denen Managementfuzzis sich noch optimaler optimieren. Mir wäre eine Analogie wichtiger, mittels der wir uns begreiflich machen können, wie das Gedächtnis eigentlich funktioniert. Mit Freuds Notizen zum Wunderblock etwa – Erfahrungen sedimentieren; lagern sich im Gedächtnis ab, werden überschrieben, bleiben aber als Dauerspuren erhalten. Nicht virtuell, sondern immer in einem materiellen Substrat, das durch sie geprägt und dadurch verändert wird. Verblasste Erinnerungen hervorzurufen ist fehleranfällig, eine konstruktive, interpretative Leistung, die auch immer ein körperlicher Akt ist.
Lethe: Du erinnerst dich und du bist Körper, also ist das, was sich erinnert auch dein Körper. Gedächtnis brauch Materie – um Dinge zu speichern und wieder abzurufen, auch Sinnesreize können das auslösen und da treffen sich Partikel und Zellen, die eine gemeinsame Geschichte haben.
Mnemosyne: Komm mir jetzt bitte nicht mit irgendwelchem staubtrockenem Teegebäck, bei dessen Geruch sich dann die ganze Kindheit abspult.
Lethe: Nein – Ich dachte eher, dass sich die Gedächtnisinhalte gar nicht von dem trennen lassen, worin sie aufgehoben sind.
Mnemosyne: Das glauben ja wirklich nur irgendwelche vertrottelten Tech-Bros mit Ewigkeitsfimmel. Das wird real life glitch art, wenn die ihr Gedächtnis auf Mikrochips speichern. Sobald sie das Zeug abrufen, kommt was ähnliches raus, als wenn man eine Videodatei in einen Texteditor lädt.
Mnemosyne: Abgesehen davon, dass sich Brain Stuff nicht einfach zu Chip Stuff machen lässt, ist halt auch der Code irgendwann veraltet und die neuen Maschinen können den alten nicht mehr lesen. Ist ja bei Sprachen auch nix anderes. Und trotzdem soll das, was wir für wichtig halten, am besten ewig bestehen. Da ist dann von Vermächtnissen, vom Erbe der Menschheit die Rede und davon, was der Nachwelt überliefert werden soll. Dann starten dann Leute Projekte wie »Memory of Mankind«, wo sie 1.000 Bücher auf Keramikplatten pressen und in einem Salzbergwerk lagern. Soll doch die Nachwelt ihre eigenen Scheiss-Bücher schreiben. Erwartet euch kein Schulterklopfen aus
der Zukunft für euren eingepökelten Kanon.
Lethe: Plato hatte also doch Recht – Aufschreiben bringt’s nicht. Überhaupt die ganze Idee von wegen kollektives Gedächtnis, wo sich ganze Gruppen gegenseitig in ihren Wahn rein- und rauserinnern.
Mnemosyne: Mnemotische Selbstbegattung für die Identitätsstiftung, selbst wenn es dafür bis zum ersten Kartoffelkrieg zurückgeht, sobald es aber unangenehm wird, ist das heutige Frühstück noch zu lang her. Schlacht am Amselfeld 1389? Sicher doch, kein Problem, wer zieht nicht gern an Bärten, die selbst schon Bärte haben, wenn man sich so den Volksgeist ins Hirn scheißen kann. Anders schaut’s aus, wenn es nicht nur Folklore ist, sondern wirklich noch jemand für das eine oder andere Massaker vor Gericht landen könnte: Da wird jede Kalkschicht über den Leichen zur undurchdringlichen geologischen Barriere.
Lethe: Europa denkt am liebsten in Jahrhunderten und erbebt in wohligem Schauder, wenn es das eigene Miasma riecht, das es Kultur nennt. Ich denke bei Europa an Bram Stokers Dracula – er kann sich einen Glanzzylinder aufsetzen und eine ganze Bibliothek Benimmschulen vortanzen; bleibt dabei aber trotzdem dasselbe alte blutsaufende Monster, das er immer war und dem man zum Schutze der Menschheit besser heute als morgen einen Pflock ins vergiftete Herz rammen sollte.
Mnemosyne: Zumindest trennt man in Europa Esstisch von Latrine – ein bisschen zivilisatorische Patina muss schließlich sein. Hier Hochamt der Menschenrechte...dort Anleitung zur Barbarei, gerade, weil die Vergangenheit des Kontinents voll davon ist. Aus dieser Geschichte lässt sich ordentlich kulturelles Kapital schlagen – man hat daraus gelernt und kann deshalb andere schulmeistern. Die neue Welt beispielsweise, die sich nie revolutionär von Adeligen zu befreien hatte, muss sich nun dafür als oberflächlich belächeln lassen, dass sie diese TIEFE ERINNERUNG nicht hat. Dass die vermeintlich kultivierte alte Welt aber nicht allein an ihrer Vergangenheit gewachsen und gereift ist, sondern erst von der neuen Welt zur Demokratie angeregt wurde, wird dann lieber verschwiegen. Frankreich hat in die USA geschaut, Haiti nach Frankreich und alle anderen dumm aus
der Wäsche.
Lethe: Man müsste Geschichte überhaupt ausradieren – die ganze Erinnerung kann weg und muss weg.
Mnemosyne: Und trotzdem gibt es Verbrechen an der Menschheit, die so schwer wiegen, dass sie diese auf keinen Fall vergessen darf, damit sie sich nicht wiederholen.
Lethe: Mag sein – aber ist das Beschwören der Erinnerung nicht nur ein Feigenblatt, um alles andere so weiterlaufen zu lassen, wie bisher? Wäre die viel bessere Idee nicht die, dafür zu sorgen, dass diese Verbrechen gar nicht wiederholt werden können? Die Bedingungen
so zu gestalten, dass sie unmöglich werden?
Außerdem virtualisieren sich nach ein paar Generationen auch die schlimmsten Erinnerungen. Wenn es schon für die, die das Grauen er- und überlebt haben schwierig genug war, es zu vermitteln, weil allein die Tatsache ihrer physischen Existenz ihren Zeugnissen Gewicht nimmt. Wie soll das dann erst funktionieren, wenn es nur noch Menschen gibt, für die das Erinnern eine Option ist, weil sich der Gegenstand des Erinnerns außerhalb befindet und sich nicht in ihnen festgekrallt hat?
Mnemosyne: Aber können nicht auch die Generationen danach genügend Erschütterung verspüren, dass sie stellvertretend an der Erinnerung festhalten und mit dieser als Richtschnur dafür sorgen, dass die Welt keine Schrecken mehr produziert, derer gedacht werden muss? Der Stachel kann noch eine Weile stecken bleiben, aber es fließt kein Gift mehr durch ihn.
Lethe: Mögen täten diese Menschenkinder schon wollen, aber dürfen haben sie sich nicht getraut. Hast du unlängst Zeitung gelesen? Dieses Kollektivsubjekt, das sich erinnert und entsprechend handelt, gibt es nicht. Und weil alle ihre eigenen Gedenksüppchen kochen, kapituliert die moderne liberale Gesellschaft davor und schwafelt von Pluralität der Erinnerungen. Als gäbe es kein richtig oder falsch mehr, sondern nur noch einen bunten Reigen der Kulturen, von denen jede einzelne unter Schutz gestellt werden muss, weil alle schließlich immaterielles Kulturgut sind. Jeder idiotische Volkstanz, der daraus entstanden ist, dass irgendein Dödel von der Hummel gebissen wurde, als er grade seinen Nachbarn meucheln wollte.
Mnemosyne: Brauchtum erfüllt für die Menschen die Funktion, immer gegenwärtig zu haben, was für ein erbärmlicher Haufen sie doch sind.
Lethe: Oh bachstelzige Mnemosyne: Wenn ich ehrlich bin, WILL ich mich gar nicht mehr erinnern.
Mnemosyne: Oh triefnasige Lethe: Wenn ich ehrlich bin, KANN ich mich gar nicht mehr erinnern.
Lethe: Sollen doch die Suchmaschinen unser Gedächtnis sein.
Mnemosyne: Soll unser Gedächtnis doch ein Haufen bedeutungsloser Daten sein.
Lethe: Flute die Erinnerung mit Scheiße.
Mnemosyne: Flute die Scheiße mit Erinnerung.
Mnemosyne & Lethe im Chor: Fluten wir die Flüsse mit Vergessen. Wir sind geflossen, jetzt können wir uns vergessen.
So kommen wir am Ende wieder zum Anfang – Mnemosyne und Lethe sind immer noch in der Grotte; ihre Erinnerungen verquirlt und auf dem Weg durch den Abfluss. Wo wird es sie hinverschlagen? Auf die Datenmüllhalde, in die sich das Gedächtnis der Welt verwandelt hat, das es so gar nie gegeben hat? Wollen wir das überhaupt wissen? Eher nicht – denn es wird kein Ritt in den Sonnenuntergang und sobald wir rausfinden, wohin die Reise geht, es dann aber mangels Interesse vergessen, landen wir selbst im Erinnerungsloch. Dort, wo Mnemosyne und Lethe weiter amok-dialogisieren. Seltsam? Aber so steht es geschrieben. Oder auch nicht. Keine Ahnung. Habe ich vergessen.
Hörfassung unter:
https://stwst48x10.stwst.at/zwei_fluesse
https://www.fro.at/drained-memory-flows/