Ein Musikleben

Anlässlich des 150. Geburtstages des Chorleiters, Dirigenten und Komponisten Barnet Licht interviewt Sebastian Franke den Leipziger Musikwissenschaftler Thomas Schinköth.

Sebastian Franke: Am 15. Mai 1874 wurde Barnet Licht geboren. Nicht in New York, wie er später meist angab, sondern in Wilna, das damals Teil des russischen Zarenreiches war. Was lässt sich über die frühen Jahre seines Lebens erfahren?

Thomas Schinköth: Barnet Licht selbst hat über diese Zeit kaum etwas überliefert. Wir wissen aber, dass er fünf Geschwister hatte. Nach Amerika ging er mit 17 Jahren, offenbar alleine, wie neue Quellen nahelegen. Ihnen zufolge ist sein Vater damals ebenfalls aus Wilna ausgereist, aber nach Deutschland gegangen. Sein Sohn indes bestieg im Juni 1891 in Antwerpen die »Rotterdam II« Richtung New York.

Vermutlich war es der Drang nach selbstständigen Entscheidungen, dass er sich auf dieses Abenteuer einließ. Er wollte nicht, wie die Familie es für ihn vorhatte, Rabbiner werden. Zunächst nahm er Gelegenheitsjobs an, u.a. als Hilfsarbeiter in einer Textilfabrik. Dabei kam er in Kontakt mit den Ärmsten und Ausgegrenzten der Gesellschaft. Unter ihnen erlebte er ein großes kulturelles Potential und soziales Bedürfnis nach musikalischem Selbstausdruck. Er gründete mehrere Chöre. Zudem trat er als Sänger einem solistischen Studentenensemble bei. Und er wurde Chorleiter und Organist an einer New Yorker Synagoge. Aus diesen Erfahrungen entstand in ihm der Wunsch, Musik zu studieren. Am liebsten in Europa. Wir wissen nicht, ob es Besucher seiner New Yorker Synagoge waren, die ihm zu Leipzig rieten. Viele von ihnen waren deutsche Einwanderer. Oder ob Licht bereits Kontakte in die Stadt besaß, in der einst Bach und Mendelssohn gewirkt hatten.

Jedenfalls schrieb er sich zum Wintersemester 1898 am Leipziger Konservatorium ein. Er erhielt Unterricht in Musiktheorie und Komposition, Klavier, Orgel und Viola. Außerdem besuchte er musikwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität. Seine Leidenschaft aber blieben die Chöre. Zudem wurde ihm in seinem Abschlusszeugnis bescheinigt, er werde »als Pädagog […] recht Tüchtiges leisten«.

Sebastian Franke: In Leipzig erwies sich für ihn die Bekanntschaft zu zwei Personen als besonders bedeutend: Arthur Nikisch und Salomon Jadassohn.

Thomas Schinköth: Nikisch, der Gewandhauskapellmeister, leitete neben dem Gewandhausorchester auch den Gewandhauschor. Licht wurde als Student dessen Mitglied. Kaum einen Termin versäumte er, auch als er bald schon selber Chöre leitete. So begeistert war er von Nikischs Ausstrahlung. Jede Probe sei »zum Erlebnis« geworden, schwärmte er. Viel habe er bei ihm lernen können. Darüber hinaus setzten sich beide gemeinsam für die kulturelle Teilhabe von Arbeiterinnen und Arbeitern ein.

Prägend für Licht wurde ebenfalls sein Lehrer Jadassohn. Jadassohn unterrichtete ihn in Tonsatz und wurde für ihn zu einer wichtigen Bezugsperson. Oft begleitete Licht ihn nach Hause. Dabei führten sie intensive, oft sehr persönliche Gespräche. Auch brachte Jadassohn Licht wohl in Kontakt zur liberalen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße. Er lernte ihre Kantoren kennen, die Atmosphäre der Gottesdienste und deren Musik. Ab 1924 leitete er dann den Chor dieser Synagoge. Der Komponist Herman Berlinski hat ihn erlebt und Licht als respektierten Chorleiter gewürdigt. Licht gelang es, aus jüdischen und nichtjüdischen Chorsängerinnen und -sängern eine stabile Besetzung aufzubauen mit anspruchsvollem Repertoire.

Wenn Sie sich einen Eindruck von der Musikausübung der einstigen Gemeindesynagoge verschaffen wollen, so empfehle ich Ihnen zwei Einspielungen des Leipziger Synagogalchores. Das ist zum einen die CD »Klingende Toleranz«. Sie bietet die Rekonstruktion eines Konzertes in der Synagoge von 1926, das damals seinesgleichen suchte. Der Titel umreißt zugleich das Anliegen, das Licht immer wichtig war, nämlich Brücken zu bauen zwischen Juden und Nichtjuden, überhaupt zwischen Menschen. Die andere CD umfasst Gesänge aus der seinerzeit vielbeachteten Sammlung »Kol Sch‘muel« (Die Stimme Samuels), geschaffen von Lichts Kollegen Samuel Lampel. Lampel war Oberkantor der Synagoge und Licht über viele Jahre ein enger Mitstreiter. Licht hat viele von Lampels Kompositionen, die für die Leipziger Gemeinde entstanden, einstudiert und aufgeführt.

Sebastian Franke: Im Rahmen der Feierstunde, die zu Lichts 150. Geburtstag im Ariowitsch-Haus stattfand, sang der Leipziger Synagogalchor unter der Leitung von Philipp Goldmann das ebenfalls im »Kol Sch’muel« enthaltene Stück »Adaun aulom«. Welchen besonderen Bezug hat der Chor zu dieser Sammlung von 57 liturgischen Gesängen?

Thomas Schinköth: Vor etwa zwei Jahren erhielt der Leipziger Synagogalchor eine besondere Rarität, einen Druck von »Kol Sch‘muel«. Dieses Exemplar enthält eine Widmung – von Samuel Lampel an seinen Kollegen Barnet Licht. Es fand sich im Nachlass eines Privatschülers von Licht, Erwin Herper. Herper lebte von 1922 bis 1933 in Leipzig. 1929 wurde er im Arbeiter-Kammerorchester, das Licht leitete, Bratschist und stellvertretender Dirigent.

Damit sei jenes Lebensanliegen angesprochen, das Licht so sehr am Herzen lag: Er wollte allen Menschen, ob rezipierend oder produzierend, die Möglichkeit schaffen, am Musikleben teilzunehmen. Von der sozialen Bedeutung von Musik war er zutiefst überzeugt. Schon als Student suchte er Kontakte zu verschiedenen Arbeiterchören und übernahm deren Leitung. Ab 1916 schlossen sie sich zum Lichtschen Chorverband zusammen. In den 1920er-Jahren studierte Licht mit den Arbeitersängern große Werke ein, vor allem von Händel. Damals umfasste sein Chorverband rund 250–270 aktive Mitglieder. Auch Studenten wirkten sehr gerne mit. Ereignisse, die Licht mitprägte, fanden in der Fachpresse wiederholt große Resonanz. Wilhelm Weismann etwa schrieb nach dem Arbeiter-Händelfest 1926: »Mit welchem Feuer und welcher Begeisterung sangen […] die Chöre. Gewiß nicht immer schön, aber man bedenke […], welch unermüdliche jahrelange Arbeit […] dazu gehörte«. Und auch dies sei nicht vergessen: Licht verschaffte allen seinen Chorsängerinnen und -sängern kostenfreien Instrumentalunterricht. Wenn sie es wollten.

Doch damit nicht genug: Er setzte sich dafür ein, die traditionsreichen großen Musikinstitutionen Leipzigs für Arbeiter zu öffnen. So gelang es ihm, gemeinsam mit Arthur Nikisch, ab 1915 Konzerte für Arbeiter zu organisieren. Für ein kleines, realisierbares Eintrittsgeld von 60 Pfennig. Auch der Thomaskantor und andere bedeutende Künstler Leipzigs unterstützten Lichts Ideen. Ab Mitte der 1920er-Jahre engagierte sich Licht zudem sehr für die musische Erziehung von Strafgefangenen. Er organisierte Konzerte in Gefängnissen und gründete und leitete Gefängnischöre. Oft denke ich darüber nach, wie hat Licht dieses Pensum schaffen können, zumal er ja auch noch zahllose Artikel und Einführungen schrieb und auch noch gelegentlich komponierte.

Sebastian Franke: Eine der Kompositionen Lichts, die am 15.05.24 im Ariowitsch-Haus erklang, war die Motette »Sieh, wie fein, wie lieblich ist es, wenn in Eintracht beieinander Brüder weilen« – eine für den Komponisten gewissermaßen programmatische Thematik.

Thomas Schinköth: Till Jonas Umbach geht in seinem wunderbaren Aufsatz über Barnet Licht, den er im letzten Jahr veröffentlicht hat, auf dieses Werk ein: Er schildert, wie die Motette einerseits im jüdischen Glauben verankert ist, zugleich aber auch im christlichen Kontext gesungen werden kann. Und zudem sei da auch die »humanistische Botschaft des Verbrüderns und Verschwisterns« enthalten. Das ist jene soziale Thematik, die Lichts Vision bildet. Für diese Idee sich einzusetzen, daraus bezog Licht Kraft, dafür lebte er. Und mit ihm gemeinsam seine Lebensgefährtin Gertrud, geborene Lötzsch, eine ehemalige Klavierschülerin von ihm.

Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Krisen engagierte sich Licht nachdrücklich dafür, dass nicht an der Kultur gespart werde. So setzte er sich in der Inflationszeit dafür ein, dass der Thomanerchor erhalten bleibt. Außerdem engagierte er sich für ein Nikisch-Denkmal. In vielen Gremien arbeitete er mit. Karl Rothe, Oberbürgermeister Leipzigs bis 1930, wird später bescheinigen, wie viel Licht für die Stadt geleistet hat. In den Leipziger Neuesten Nachrichten ist 1932 zu lesen: »Wer einmal die Musikgeschichte Leipzigs im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts schreibt, der wird mehr als einmal der großen Verdienste zu gedenken haben, die sich Barnet Licht um das Musikleben dieser Stadt erworben hat.«

Sebastian Franke: Doch dann kam das Jahr 1933. Wie für viele Zeitgefährten war der Beginn der NS-Herrschaft für Licht ein existenzieller Einschnitt.

Thomas Schinköth: Bald durfte er nicht mehr öffentlich auftreten. Seine Chöre wurden verboten, dann mal wieder zugelassen – aber ohne ihn als Leiter. Was dies sowohl für den Dirigenten als auch für viele Chormitglieder bedeutete, braucht wohl nicht beschrieben zu werden. Ein Chor stellt ja nicht nur eine Ansammlung von Singenden dar. Nein: Man atmet und fühlt miteinander. Man teilt Schmerz und Freude gemeinsam. Mehrere Leipziger Künstler versuchten, etwas für Licht zu erreichen. Unter ihnen fand sich sein Dirigentenkollege Otto Didam, der ebenfalls einen Arbeiterchorverband leitete.

Didam wandte sich an Wilhelm Furtwängler, der Licht aus seiner Leipziger Zeit als Gewandhauskapellmeister kannte und schätzte. Für Januar 1934 wurde ein Treffen zwischen Licht und Furtwängler in Leipzig geplant, aber kurzfristig abgesagt. Im Sommer 1935 erhielt Licht dann die Mitteilung, dass er aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen sei. Gemeinsam mit anderen Leipziger Musikern jüdischer Herkunft. Damit verlor er nun auch offiziell das Recht jeglicher öffentlichen Betätigung. Seine Frau stand in besonderer Weise in dieser schweren Zeit zu ihm: Sie trat zum Judentum über. Rabbiner Felix Goldmann, mit dem Licht seit vielen Jahren eng zusammenwirkte, traute das Ehepaar noch einmal nach jüdischem Ritus, 13 Jahre nach ihrer standesamtlichen Hochzeit.

Sebastian Franke: Wie reagierte Licht auf die antisemitischen Repressionen?

Thomas Schinköth: Er widmete sich der Arbeit in jüdischen Kulturorganisationen, um ausgegrenzten Künstlern irgendwie zu helfen. Als Ende Oktober 1933 der Jüdische Ausschuss für Kunstpflege mit einem Konzert eröffnet wurde, war Licht mit einem neu geschaffenen Chor dabei. Dieser hieß »Psalterion«. Mit diesem Chor sang er sowohl geistliche als auch weltliche Kompositionen, um unterschiedliche Bedürfnisse aufzufangen. Eine Brücke bildete dabei die Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy. 1934 gründete er zudem einen Kinderchor und ein Kinderorchester.

Anfang 1935 übernahm er schließlich noch das Jüdische Orchester. Dieses Ensemble bestand aus rund zwanzig Mitgliedern, darunter sowohl Berufsmusiker als auch Amateure. Mit ihm gastierte Licht auch in Dresden und Chemnitz. Damals war der Jüdische Ausschuss für Kulturpflege vom Jüdischen Kulturbund abgelöst worden. Diese Organisation war deutlich strenger organisiert. Mitgliederlisten wurden geführt. Juden durften nur noch für Juden musizieren. Programme wurden von den NS-Behörden zensiert.

Texte von Barnet Licht in der jüdischen Presse vermitteln, mit welchem Enthusiasmus der Musiker, eingedenk der Repressionen, die verbliebenen Räume mit Leben zu füllen vermochte. Dabei gab es tief bewegende Momente: Etwa wenn wieder ein Ensemblemitglied in einem Konzert verabschiedet wurde, weil es das Land verließ, verlassen musste. Er begann auch wieder zu komponieren, so schrieb er 1937 ein mehrsätziges Variationswerk über das Chanukkahlied Moaus Zur. Die Noten sind erhalten und finden sich heute im Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig, gemeinsam mit einigen weiteren Kompositionen Lichts.

In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 wurde die Synagoge in der Gottschedstraße, mit der Barnet Licht über vier Jahrzehnte eng verbunden war, angezündet. Wie viele andere jüdische Einrichtungen auch. Der 13-jährige Rolf Kralovitz, der dort gerade erst die Bar Mizwa erhalten hatte, hat die brennende Synagoge gesehen. Unvergessen blieb ihm auch ein weiteres Bild: Als er mit dem Fahrrad zu seiner Schule in der Gustav-Adolf-Straße 7 fuhr und dann weiter zur Färberstraße 11, sah er, wie gerade aus dem Fenster der dortigen Synagoge die Torarolle geworfen wurde. »Brutale Gewalt und verängstigte Menschen« behielt er als Gefühl in seinem Gedächtnis. Möglicherweise erwog Licht damals, nach Amerika oder aber mit Hilfe der Quäker nach London auszureisen. Es kam nie zustande. 1939 begann er wieder, einen Synagogenchor zu leiten. Allerdings handelte es sich nicht mehr um einen gemischten Chor, also aus Frauen- und Männerstimmen bestehend, sondern um einen Männer- und Knabenchor. Der Hintergrund war, dass er sowohl für liberale als auch für orthodoxe Juden singen sollte, in der Synagoge Keilstraße. Diese Synagoge war 1939 wiedereröffnet worden. Bis 1942 fanden darin wieder Gottesdienste statt, nun sowohl für Orthodoxe wie für Liberale.

Sebastian Franke: Ab 1939 war Licht verpflichtet, seinem Namen »Israel« hinzuzufügen. Also Barnet »Israel« Licht. Außerdem wurde in seinen Ausweis ein großes J – für »Jude« – eingetragen und Silvester 1939 mussten er und seine Frau Gertrud ihre Wohnung in der Hardenbergstraße im Leipziger Süden verlassen und in ein sogenanntes »Judenhaus« ziehen.

Thomas Schinköth: Das waren Häuser, in denen jüdische Familien zusammengelegt wurden. Sie befanden sich vor allem im Waldstraßenviertel und in der Nordvorstadt. So sollten die Deportationen bürokratisch vereinfacht werden. In der Regel stand in den »Judenhäusern« pro Familie höchstens ein Zimmer zur Verfügung. Große Zimmer mussten sich häufig zwei Familien teilen. Gertrud Licht schrieb später, teilweise hätten sie mit 16 Personen zusammenwohnen müssen. Ab September 1941 hatte Licht den »gelben Stern« zu tragen. Ende der 1990er Jahre schilderte mir mein Musiklehrer Olaf Didam eine Begebenheit, die ihn beim Erzählen immer noch stark bewegte. Er war etwa 16 und ging mit seinem Vater Otto Didam die Pfaffendorfer Straße entlang. Barnet Licht kam ihnen entgegen. An seinem Mantel befand sich der »gelbe Stern«. Der Vater meines Musiklehrers, langjähriger Dirigentenkollege, ging auf ihn zu und umarmte ihn. Licht schreckte zurück. Offenbar hatte er Angst, es könnte sie jemand beobachten und ihnen dann schaden. Schweigend ging er weiter. Später musste Licht noch einmal umziehen: in das letzte noch existierende »Judenhaus« in Leipzig. Dieses befand sich gegenüber der Volkshochschule, in der damaligen Walter-Blümel-Straße 10. Heute ist es die Löhrstraße 10, Sitz der Israelitischen Religionsgemeinde. Am 12. Februar 1945 erhielt Licht die Aufforderung, sich drei Tage später in einer Schule einzufinden, um sich dem »Transport« zu stellen. Getrennt von seiner Frau. Vor einigen Jahren schrieb mir ein Bekannter von seiner Tante. Sie stand in Beziehung zur »Elektro und Radio Großhandlung« Hugo Preller in der Gottschedstraße 20. Spätestens 1944 stellte der Inhaber dieser Firma eine jüdische Stenotypistin an, Gertraud Gattermeyer. Sie war gerade 16 Jahre jung. Auch sie und ihre Eltern sollten mit dem gleichen »Transport« nach Theresienstadt. Wie Licht bekamen sie die Aufforderung, sich »zu stellen«. Sie entschieden, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Und sie waren nicht die einzigen. Drei Tage war Licht unterwegs, ehe der »Transport« in Theresienstadt ankam. Im Licht-Nachlass befinden sich u.a. eine Reihe von Zeichnungen, die der Maler und Grafiker Ernst Kaufmann im Lager angefertigt hatte: Porträts von Licht, tagebuchartige Bilder von den Baracken, eine liebevoll gestaltete Glückwunschkarte zur Silbernen Hochzeit, die das Ehepaar getrennt erleben musste, mit Unterschriften von Häftlingen … Barnet Licht überlebte.

Sebastian Franke: Und kehrte im Juli 1945 nach Leipzig zurück …

Thomas Schinköth: Wieder in Leipzig, suchte Licht bald die Fäden seiner musikalischen Aktivitäten wiederaufzugreifen. So nahm er, gewiss unterstützt von seiner Frau, Kontakte zu Sängerinnen und Sängern seiner ehemaligen Chöre auf. Noch im Sommer begann er mit Proben. Innerhalb kurzer Zeit baute er mit anderen Überlebenden wieder einen Synagogenchor auf. Dieser sang erstmals im September 1945, zu Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest. Und bald darauf zur Wiedereinweihung der Synagoge in der Keilstraße im Oktober 1945 erklang unter Lichts Leitung die Psalmenvertonung »Gott sei uns gnädig« seines Lehrers Salomon Jadassohn. Außerdem lud Licht Mitglieder seines einst großen Chorverbandes ein, wieder mit ihm zu singen. Auch wenn die lange Zwangspause, mehr als 11 Jahre, tiefe Wunden hinterlassen hatte. Nur eine vergleichsweise kleine Besetzung kam zusammen, doch es war ein Neubeginn. Ein Auftritt dürfte dabei den meisten in Erinnerung geblieben sein: Am 1. Mai 1946 waren sie Teil eines Massenchores auf dem Augustusplatz (damals Karl-Marx-Platz). Barnet Licht dirigierte ihn inmitten der Ruinen. Rund 200.000 Menschen waren gekommen.

Sebastian Franke: Neben den Chorproben, die er wieder regelmäßig leitete, wollte er sich auch politisch einmischen.

Thomas Schinköth: In der Hoffnung, dass sich ein besseres Deutschland entwickeln ließe, kandidierte er, der Sozialdemokrat, als Stadtverordneter für die SED. Als Stadtverordneter arbeitete er im Theater- und im Musikausschuss mit. Licht war aufrichtig überzeugt, wichtige Weichen stellen zu können: für eine Zukunft ohne Hass und ohne Verfolgung. Noch zu Lebzeiten erhielt Licht besondere Ehrungen: ehrenhalber den Professorentitel. Außerdem wurde ein Platz nahe des Alten Messegeländes nach ihm benannt, gegenüber seines letzten Wohnhauses in der Kregelstraße. Besonders dürfte Licht berührt haben, noch erleben zu können, wie Johann Sebastian Bach seine allerletzte Ruhestätte in der Thomaskirche fand (auch wenn nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, ob es sich bei den dort beigesetzten Gebeinen tatsächlich um jene Bachs handelt, Anm. SF). Die Geschichte ist fast nicht zu glauben. Im Juli 1949 zog Maurermeister Malecki mit einem Gehilfen einen Karren durch die Innenstadt, von der Johanniskirche zur Thomaskirche. Dort angekommen sagte der Handwerker, wie überliefert ist, nur kurz: »Tach, ich bring‘ den Bach.« Mit diesem Akt sollte dem Plan der SED zuvorgekommen werden, im stehengebliebenen Turm der Johanniskirche ein Bach-Mausoleum einzurichten und Bach dort ideologisch zu vereinnahmen. Die Internationale Bach-Gesellschaft hatte gegen das Mausoleumsvorhaben protestiert und sich dem Vorschlag Günther Ramins angeschlossen, der empfohlen hatte, die Gebeine in die Thomaskirche umzubetten. Aber: Licht hatte schon 1923 den Wunsch geäußert, Bachs Gebeine in die Thomaskirche zu überführen. Dorthin, wo Bach viele Jahre als Kantor gewirkt hatte. In einem 1927 veröffentlichten Aufsatz hatte Licht diese Idee noch vertieft. Ob er an der offiziellen Einweihung der neuen Grabstätte zum Bachfest 1950 noch teilnehmen konnte, lässt sich nur vermuten. Das Leben war für ihn zu diesem Zeitpunkt beschwerlich geworden. Schwere Herzprobleme hatten seine Mobilität stark eingeschränkt. Im Jahr darauf, am 3. Mai 1951, starb Barnet Licht. In der privaten Todesanzeige war zu lesen: »Sein Leben war der Musik geweiht, die er in selbstloser Weise liebevoll der Allgemeinheit näher brachte.« Prägnanter lässt sich Lichts Weg kaum charakterisieren. Unterzeichnet ist die Anzeige von Lichts Frau Gertrud und dem Neffen Kolja Soloweetschek, der 1936 von Leipzig nach Palästina exiliert ist. Dessen Sohn Sev Shilo hat mir 1998 einen Brief überlassen, in dem Gertrud Licht die letzten Tage des Musikers beschreibt. Sie hatten noch schöne Pläne für den Sommer geschmiedet, Licht las gern und legte Patiencen. Dann traten wieder Herzanfälle ein und starke Schmerzen. Tröstlich zu lesen ist, dass Licht nach wenigen Tagen starken Leidens das Zeitliche segnen durfte, zu Hause – in den Armen seiner Frau. Seit 1964 sind beide auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in der Delitzscher Straße wiedervereint.

Anmerkung:  Der erwähnte Druck Kol Sch'muel befindet sich mittlerweile im Besitz des Statdgeschichtlichen Museums Leipzig. Der Synagogalchor schenkte es dem Museum 2023 aufgrund der konservatorischen Möglichkeiten und der bereits vorhandenen Barnet-Licht-Sammlung. Man findet es jetzt dort in der Datenbank unter der Inventarnummer: MT/2023/2.

Barnet Licht mit einem seiner Chöre vor dem Schloss Rochsburg, Lunzenau (Datierung unklar).

Credits: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inventarnummer F/8280/2005