Das MARS PATENT: Was 1999 als virtueller Ausstellungsraum für Kunst und Theorie auf dem Mars begann, wurde 25 Jahre später vom Künstlerinnenpaar Claudia Reiche und Helene von Oldenburg nochmals und anders aufgerufen: Die Künstlerinnen wurden von der Stadtwerkstatt eingeladen, das MARS PATENT im vergangenen September, im Rahmen des Kunstformats STWST48x10 NOPE, ihr frühes cyberfeministisches und medientheoretisches Projekt zu rekapitulieren. Die Videoinstallationen, die dann unter dem Titel »Re Capitulating THE MARS PATENT« im Haus der STWST zu sehen waren, zeigten die Künstlerinnen im Kampf mit der alten Technik und bei der konzeptuellen (Re)kapitulation und Aktualisierung des Projekts. Die beiden rekapitulieren hier in Textform – und meinen unter anderem: Weder ‚das Netz‘ noch ‚der rote Planet‘ sind noch, was sie im letzten Jahrtausend gewesen sein mögen.
Schwarzes Rechteck
Das Logo des MARS PATENT1 zeigt vor dunkelblauem Hintergrund einen leuchtend pink eingefärbten Planeten mit den plastischen Oberflächenmerkmalen des Mars, eingefasst vom Umriss einstiger Kathodenstrahlbildschirme. In diesem Rahmen findet sich auch ein schwarzes langgestrecktes Rechteck, das vor Planet und Hintergrund zu schweben scheint – oder vielleicht aufgeklebt wirkt? –, wenn zentralper-spektivische Bildlogik einmal beiseite gelassen wird. Ob etwas hinter dem schwarzen Rechteck verborgen wäre? (Wie hinter Zensurstreifen erotischer Fotografien…) Oder darin? (In der Funktion medialer Illusionswirkung…) Sicherlich. Dies wäre ein Verbergen, das damit etwas hervorruft. Denn das schwarze Rechteck ist konzeptuelle Grundlage des MARS PATENT. Als Abgrund und Projektion steht das schwarze Rechteck zugleich für eine große Fläche, die das MARS PATENT auf dem Mars 1999 in Besitz genommen hat und seither als Ausstellungsfläche nutzt. Seine tiefenlose und täuschende Darstellung lässt sich auf verschiedene Arten ansehen und durchdenken, denn weder das ‚Netz‘ noch der ‚rote Planet‘ sind bekanntlich heute, was sie im letzten Jahrtausend gewesen sein mögen. Ebensowenig lässt sich dies vom ‚Feminismus‘ sagen.2
Introducing THE MARS PATENT, 1999
»Haben Sie jemals davon geträumt, Kunst und Theorie auf dem Mars zu sehen? Jetzt können Sie es! Das MARS PATENT, gegründet von Helene von Oldenburg und Claudia Reiche, ist der erste interplanetarische Ausstellungsraum. Sie sind eingeladen, Kultur an einem faszinierenden neuen Ort zu erleben und zu gestalten. Millionen von Kilometern entfernt, liegt der rote Planet nun zum Greifen nah – in ganz neuer Art. Das MARS PATENT Komitee hat von Anfang an alles daran gesetzt, für Ihre Wünsche einen Ort zu finden, der eine neue Sicht auf die Erde ermöglicht: Das MARS PATENT bietet Ihnen hiermit seine Mars Exhibition Site (MES) als freies Experimentierfeld an und lädt Sie ein – jedes Ding, was nicht (ganz) auf die Erde passt, sondern zur MES tendiert, dort zu realisieren. Ein Ding? Ein echtes Ding? Es könnte Ihre Idee, Ihr Objekt, Ihre Arbeit, Ihre Frage, Ihr Protest, Ihr Projekt sein und, wie gesagt, Ihr Wunsch…«3
Durch Teleportation zur Mars Exhibition Site (MES)
»Der Mars ist tatsächlich ein trockener, kalter und giftiger Ort und wird nicht selten als überwältigend schön empfunden. Die neuartige Ausstellungsfläche MES befindet sich in der Nähe des Mars-Äquators im Norden der Tiefebene Elysium Planitia. MES ist dabei als ein schwebendes Gebiet vorzustellen, dessen leicht veränderliche Form sich als ein langgestrecktes Rechteck darstellt. Denken Sie sich ein Gebiet von circa 3148 Quadratkilometern, gelegen in einer felsigen, bizarren Landschaft mit verschiedenen, extremen Höhenlagen. Die Fläche ist orkanartigen Stürmen und Temperaturen ausgesetzt, die schnell zwischen -127°C und +15°C schwanken können.«
»Das MARS PATENT ist ein Ort für Kunst und Theorie und aufgeschlossen für sehr verschiedene Konzepte. Mit der HIGH REALITY MACHINE (HRM_1.0n) bieten wir modernste Technologie zur Installation von Skulpturen, Internet-Relay-Chats, kinetischen Objekten, Kunst- und Medientheorien, Science-Fiction-Literatur, Telepräsenzsystemen, Videos, Klanginstallationen, Manifesten, Web-Art etc. per Teleportation.«
»Das Hauptmerkmal von HRM_1.0n ist die Signalübertragung, wobei sich der Sender auf der Erde und der Empfänger auf dem Mars befindet. Die Teleportation bedeutet eine irreversible Übertragung. Keine Materie, die vom HRM_1.0n verarbeitet wird, bleibt unbeschädigt. Dies reicht von leichten atomaren Störungen bis hin zu hoch zerstörerischen Wirkungen. Gut zu wissen: Die Signalverarbeitungsrate von HRM_1.0 liegt bei 1027 Tetraflop/sec und die Größe des Übertragungsschachts beträgt 32 x 24 x n cm.«
»Sie müssen vor der Teleportation eines Dings durch HRM_1.0n einige Entscheidungen treffen, zur Veranschaulichung hier das Beispiel einer ‚Linie’: Wenn Sie planen, eine ‚Linie‘4 zur MES zu senden, ist zu überlegen: Soll ‚Linie’ als Definition einer unendlich langen, dünnen Geraden
gesandt werden? An eine spezifische geographische Mars-Position? Als ein Konzept? Ausgeführt als Markierung auf der Marsoberfläche? Graviert oder gedruckt von einer robotischen Apparatur? Gesandt als Handzeichnung einer Linie auf Papier? Mit Steinen beschwert? Mit philosophischen, künstlerischen etc. Erläuterungen? Als Bilddatei auf irgendeinem computerlesbaren Speichermedium? Mit oder ohne Computer? Von einer Stimme gesprochen, etwa in Englisch [e lein], in welcher Lautstärke in der dünnen Atmosphäre verbreitet? etc.«
Zwingende Erklärung: Weibliche Vornamen
Der freien Verfügung, die das MARS PATENT über seine avancierte Technologie samt Ausstellungsfläche gewährt, steht eine Begrenzung gegenüber, die Auswahl der eingegangenen Vorschläge. Hier entscheiden auch persönliche Angaben. Es gilt: »Nur weibliche Vornamen werden akzeptiert! Die Frage ‚Kann ich mich unter einem weiblichen Namen anmelden, wenn ich vielleicht nicht weiblich bin?‘ wird in den Frequently Asked Questions klar beantwortet: ‚Die HRM_1.0n ist nicht in der Lage, die biologische oder Gender-Identität zu kontrollieren. Es ist Ihr Commitment, das zählt’, und zur Frage nach außerirdischen Bewerbungen heißt es: ‚Wenn sie sich mit einer E-Mail-Adresse melden, ermutigen wir Aliens zur Teilnahme. Sie können es immer gern versuchen, insbesondere mit weiblichem Vornamen.’«5
Inside MARS PATENT: 2024
»Rekapitulieren, das heißt, etwas wiederholend zu ordnen, […] was zuvor als […] anders geordnet […] aufgefasst worden sein dürfte. […] Kapitulieren, das heißt, sich in verschiedenen Formen von Krieg geschlagen zu geben […]. Eine Unterwerfung auch unter die Deutung des Konflikts […] geht mit Kapitulation einher, […] mit der gegnerischen Rekapitulation des Konflikts.«6 Welchem Gegner hätte sich das cyberfeministische Netzkunstprojekt seit 1999 unterworfen oder widersetzt? Im Raum steht die Entwicklung des Internet hin zum Web 2.0, 3.0, der Artificial Intelligence, dem wachsenden Kriegszustand mit globalen digitalen Sicherheits-, Überwachungs- und Zensureinsätzen, Trends zur Monopolbildung in der Internetökonomie, ebenso das informationelle und militärische Wettrennen in den Weltraum bis hin zum Mars. Und so weiter.
Wenn, dann gäbe es einen Gegner für das MARS PATENT namens ‚mangelnde Aktualität‘ aufzurufen, hinsichtlich nicht oder falsch vorhergesehener historischer Entwicklungen. Allerdings war exakte Vorausschau nie Anspruch des MARS PATENT und seine zugrunde liegende Kritik7 hat nichts an Aktualität verloren. Oder so gefragt: »Was ist aus dem Milleniumshype zum ‚Cyberspace‘ mit unscharfer Grenze zu einem Anderswo namens ‚Outer Space‘ geworden – samt den verwirrten Versprechen eines universell entgrenzten Lebens? Der subtile Spott
des alten, cyberfeministischen und partizipativen Netzprojekts kann heute ebenso deplatziert erscheinen wie die verspotteten Fortschrittsillusionen, die sich seither in rasant alptraumhafter Realisierung überholen.«8
Der Orbit der Erde, voll verlorener oder zerschossener Satelliten, die zu Schrott-Projektilen von Millimetern bis Metern Größe gewandelt sind, sowie laufend neu ausgeschickten Modellen, bietet weniger Platz für Träume von unberührtem Unbekanntem, zeigt sich stattdessen als ein ausgedehntes Geräte- und Müllfeld der Erde, Macht- und Schlachtfeld der Zukunft. (Was eine weit verbreitete Ego-Phantasie allerdings nicht hindert, Rettung darin zu suchen, einer zerstörten Erde in einem Raumschiff zu entkommen.)
Zugleich, widerständig, werden so andere Räume denkbar, denen derart falsche Versprechen subtrahiert werden, Räume, schwarz wie ein seltsam schwebendes Rechteck im Zeichen des MARS PATENT…
Unendliche Weiten der Bedeutung
Zu fragen bleibt noch, ob das MARS PATENT nicht doch in seinem Stil überrollt worden wäre von neuen Sensibilitäten und Geschwindigkeiten und hätte kapitulieren müssen, auch vor Affektstürmen als neuem (wenig humorvollem) Stil politischer Auseinandersetzung? Kurz: Wird das MARS PATENT nicht mehr verstanden? Wie steht es insbesondere um die ‚female first names‘ Regel, der Angabe weiblicher Vornamen? Kann noch verstanden werden, dass, wenn es um ein Bekenntnis zur ‚Weiblichkeit‘ ginge, diese Bedingung radikal offen und feministisch sei? Was meinen Sie?
Soweit zum letzten Inside-Report zum MARS PATENT als feministisches Medium. Unterdessen kann das schwarze Rechteck als zeitlose Ferne einer utopischen Form erscheinen – warum nicht auch eines Weiblichen?
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Claudia Reiche, Helene von Oldenburg
THE MARS PATENT
The first interplanetarian Exhibition Site on Mars
Launch 1999
http://www.mars-patent.org
Re Capitulating THE MARS PATENT
Im Rahmen von STWST48x10 NOPE. 48 Hours of Various Comments
8. - 10. Sept 2024, Stadtwerkstatt
https://stwst48x10.stwst.at/re_capitulating_the_mars_patent