Fauler Klassenkompromiss

In »Ausbeutung auf Bestellung« verknüpft Johannes Greß die Beschreibung der Zustände in der Plattformökonomie mit theoretischer Analyse. Ob diese Zusammenführung geglückt ist, berichtet Paul Schuberth.

»Wie bei Staubsaugern oder Filmen üblich, werden die Reinigungskräfte von ihren Kund:innen mit Sternchen und Kommentaren bewertet. Für eine schlechte Bewertung kann ausreichen, dass eine Person nicht schnell genug auf eine Anfrage eines Interessenten antwortet oder einen Termin krankheitsbedingt absagt. Kund:innen können Reinigungskräfte bewerten, unabhängig davon, ob ein Termin vereinbart wurde oder nicht. Das ist ein eklatantes Machtungleichgewicht, denn umgekehrt können Reinigungskräfte ihre Kund:innen nicht bewerten. Auch können sie andere Reinigungskräfte nicht warnen, wenn sie von einem Kunden zum Beispiel sexuell belästigt wurden. (…) Will eine Reinigungskraft den Job für zwölf Euro nicht machen, finden sich 100 andere, die das Angebot annehmen oder gar für zehn Euro arbeiten.«

Es ist ein Bereich der österreichischen Arbeitswelt, der die Politik kaum interessiert, da die dort Beschäftigten ohnehin meist nicht wahlberechtigt sind; ein Bereich, in dem sich Gewerkschaften wenig engagieren, einerseits aufgrund widriger äußerer Umstände wie der partiellen »Unsichtbarkeit« dieser Arbeit, andererseits wegen ihres traditionellen Fokus auf die »Normalarbeit«; und ein Bereich, der vom Journalismus und kritischen Beobachter:innen, wenn überhaupt, oft nur in Form beherzter Sozialreportage beschrieben wird – die die Betuchteren zwar für die Betroffenen einzunehmen vermag, aber nicht dazu führt, dass diese genug für ein angenehmes Leben einnehmen können.

Die Rede ist von Gig-Economy, Plattformwirtschaft, Scheinselbständigkeit, Subsub-Unternehmer:innentum, wie sie mittlerweile etliche Branchen in Österreich prägen. Im obigen Zitat – es geht darin konkret um die Arbeitsbedingungen plattformvermittelter Reinigungskräfte – ist schon einiges angesprochen, was diese Welt insgesamt im schlechten Sinne auszeichnet: Ein Grad des Ausgeliefertseins an die Auftraggeber:innen, das einen an Verdinglichung nicht nur im streng marxistischen, sondern auch im umgangssprachlichen Sinne denken lässt; fehlende soziale Absicherung; hohe Vulnerabilität in Bezug auf Missbrauch; Umstände, die Solidarität unter den Beschäftigten sehr erschweren bis verunmöglichen; Löhne weit unter der Armutsgrenze. Das Zitat stammt aus dem neuen Buch »Ausbeutung auf Bestellung« des Wiener Journalisten Johannes Greß. Der junge Autor verbindet gekonnt eine präzise Beschreibung der oft furchtbaren, branchenspezifischen Arbeitsbedingungen mit Kritik der politischen und ökonomischen Umstände, die diese stützen. Greß beleuchtet die Branchen Essenslieferung, Paketdienst und beauftragte Reinigung von Privathäusern, die besser verdienenden Menschen das Leben etwas leichter machen, sowie Forstarbeit, die kaum kontrolliert und im Verborgenen stattfindet, konsequent aus der Perspektive der in diesen Bereichen Beschäftigten. Es ist eine Perspektive, die riesigen Druck, unmenschliche Konkurrenz, soziale Unsicherheit, überlange Arbeitstage und Entrechtung offenbart. Greß stützt sich dabei auf langjährige Recherchen und hunderte Gespräche. Die Empathie und Empörung, die aus Greß’ Beschreibungen sprechen, sind aber nicht wohlfeil, weil er sich dafür einsetzt, dass sie nicht konsequenzlos verhallen. Minutiös legt er die mal legalen, mal halblegalen, mal illegalen Tricks der Unternehmer:innen und Plattformbetreiber:innen dar, um die Beschäftigten in Abhängigkeit – oder eben: in unsicherer Schein-Unabhängigkeit – und schlechtem Lohn zu halten. Keineswegs spart er aus, was solche Zustände begünstigt und sogar scheinbar unantastbar macht. Der Staat, mag er auch gegen einzelne Auswüchse vorgehen, ist eher Komplize als Bekämpfer dieses Systems. Selbst wenn einige der untersuchten Geschäftskonstrukte dubios, wenn nicht kriminell zu nennen sind, gründen ihre lange anhaltenden Erfolge dennoch in politischen und gesellschaftlichen Vorbedingungen. Dazu gehört die jahrzehntelange Abwertung migrantisch geprägter Arbeit – auch durch Gewerkschaften. Und wenn man etwa die Subunternehmer:innen der Paketdienstbranche in den Blick nimmt, die sich oft selbst aus dem Prekariat ein wenig »hochgearbeitet« haben und nur wenig Personal beschäftigen, wird klar: Nicht Profitgier ist ihr vordringlichstes Motiv, sondern der Wunsch, sich selbst unter unerbittlichen Konkurrenzverhältnissen durchzuretten. Das wirft zwar kein besseres Licht auf ihre Geschäfts- und Beschäftigungspraktiken, aber ein schlechtes auf ein ökonomisches System allgemein, dessen Prinzipien auch Kleinunternehmer:innen unterworfen sind. Natürlich ist Greß’ Ansatz ein kapitalismuskritisch grundierter. Dazu gehört anzumerken, dass der Klassenkompromiss des globalen Nordens, der große Teile des Proletariats in eine politisch gefügige Mittelschicht verwandelte, mit der Forcierung der Ausbeutung des Globalen Südens und Umweltzerstörung erkauft wurde. Nicht im Widerspruch dazu steht, wenn Greß den Fokus auf diejenigen zehntausenden Arbeiter:innen in Österreich legt, die zum Beispiel bei 5-Euro-Stundenlohn oder 17-Stunden-Arbeitstag den Kompromiss aufrechtzuerhalten helfen, selbst aber aus ihm radikal ausgeschlossen sind. Deswegen sind es – bislang – auch nicht die traditionellen Gewerkschaften, die ihnen im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen zur Seite stehen, sondern meist unabhängige Kollektive und Initiativen. Ihnen räumt Greß in seinem Buch prominent Platz ein, und zwar in Form von Interviews mit Vertreter:innen von z. B. »Faire Mobilität« (Paketbranche), »Riders Collective« (Fahrradbot:innen) und »Sezioneri« (Erntearbeit).

In den ersten beiden Teilen, die sich der Paketdienst- und der Essenslieferungsbranche widmen, ist viel Erschütterndes, Interessantes und vor allem Neues zu erfahren: Einiges wäre ohne Recherchen von Greß und seinen Kolleg:innen wohl nicht so schnell ans Tageslicht gekommen. Da mittlerweile, besonders im Verlauf der COVID-19-Pandemie, ein gewisses öffentliches Interesse für diese beiden Arbeitswelten erreicht wurde, sollen hier Plattformreinigung und Forstarbeit im Mittelpunkt stehen.

Private Reinigung

Zehntausende Personen, meistens Frauen mit Migrationsgeschichte, verdienen in Österreich ihren Lebensunterhalt mit privater Reinigungstätigkeit. Die Kontaktaufnahme zwischen Auftraggeber:innen und Reinigungskräften funktioniert mittlerweile in vielen Fällen über Online-Plattformen wie haushaltshilfe24.at. Das einfache Geschäftsmodell der Plattformbetreiber:innen besteht darin, zwar keine Provision zu verlangen, aber von kostenpflichtigen Premiummitgliedschaften zu profitieren, die beiden Parteien kleine Vorteile versprechen. Im Grunde handelt es sich bei den Plattformen um Vermittlungseinrichtungen für Schwarzarbeit. Die Plattformen weisen jegliche Verantwortung von sich, die durch sie zustande gekommenen Arbeitsverhältnisse zu überprüfen. Für soziale Absicherung sind sie nicht zuständig. Die Preistransparenz auf den Websites (jede:r Anbieter:in legt ein eigenes Profil an) verstärkt dabei wohl den Unterbietungswettbewerb. Greß beschreibt, dass auch die Ansehnlichkeit der Profilfotos und Selbstbeschreibungen wie »flexibel« und »zuverlässig« eine Rolle spielen. Die Gefahr, sexuell belästigt zu werden, ist theoretisch immer gegeben. Die sozialen und physischen Risiken für die Anbieter:innen sind für die Plattformen kaum von Interesse. Die Reinigungskräfte arbeiten isoliert voneinander – ironischerweise durch Plattformen, die ihre Gemeinsamkeit auf den Websites eigentlich klar zur Schau stellen, isolierter denn je –, und »unsichtbar«, unter dem Radar jeglicher Arbeitsrechtskontrolle.
Der Unterschied zwischen der Reinigungsbranche und der Essenszustellung, wo auch mit Plattformen und Apps gearbeitet wird, ist für Greß klar: »Subunternehmertum und Freie Dienstverträge mögen problematische Arbeitsverhältnisse hervorbringen und sich an der Legalitätsgrenze bewegen – aber zumindest ist einigermaßen nachvollziehbar, wer wann wo arbeitet.«

Forstarbeit

Österreichs Wälder sind die gefährlichsten Arbeitsplätze des Landes: Von 2018 - 2023 starben im Schnitt 33 Forstarbeiter pro Jahr. Oft handelt es sich bei den Arbeitern um Rumänen, die per Bus anreisen und in Gemeinschaftsunterkünften, die die Auftraggeber organisieren, übernachten. Der aktuelle Kollektivvertrag vom 1. März 2024 verspricht mit einem Stundenlohn von 11,25 brutto nur einen Verdienst knapp über der österreichischen Armutsgrenze. Doch Greß, der für seine Recherchen auch in die rumänischen Herkunftsdörfer der Arbeiter reiste, deckt auf, dass selbst diese kargen Aussichten in der Realität mitunter oft weit unterboten werden. Für einen Fall, den er begleitete, errechnet Greß einen Stundenlohn von 4,50 Euro bei einer Sechs-Tage-Woche und Zehn-Stunden-Tagen, und das für eine Arbeit unter permanenter Lebensgefahr. Viele Faktoren, abgesehen von der generellen Gefährlichkeit dieser Arbeit, begünstigen zusätzlich Unfälle, wie etwa die Missachtung von Sicherheitsvorschriften, fehlende oder unzureichende Schulung des Personals, oder die Verkleinerung von Teams von vier auf drei Arbeiter, um Kosten zu sparen. Zum Sparzwang trägt bei, dass die Österreichischen Bundesforste (ÖBF) 1997 aus der öffentlichen Verwaltung ausgegliedert wurden, und seither gewinnbringend wirtschaften müssen. Waren damals noch 6.000 Personen bei den ÖBF angestellt, so sind es heute nur mehr 1.000. Auch die Klimakatastrophe, etwa in Form von vermehrtem Borkenkäferbefall und Extremwetterereignissen, setzt die Branche unter Druck. Kaum unter Druck kommt die Branche hingegen von Seiten der Arbeitsinspektorate. Kontrollen werden angekündigt, da man im unwegigen Gelände sonst keine Arbeiter antreffen würde – und trotzdem werden bei der Hälfte der Kontrollen Verstöße festgestellt. Forstarbeiter haben in Österreich, anders als (dank der Arbeit der Sezioneri-Kampagne) mittlerweile die Erntearbeiter:innen, im Grunde keine Bündnispartner:innen.

Auf den ersten Teil des Buches, in dem die vier genannten Branchen eingehend untersucht werden, folgt ein theoretischer Teil. Er bietet, wie oben angedeutet, einen Überblick über die Rahmenbedingungen, unter denen (Über-)Ausbeutung von Migrant:innen und Lohndumping gedeihen können. Der Siegeszug des Neoliberalismus, der atypische Beschäftigungsverhältnisse vermehrt aufkommen ließ, die Umdeutung der Arbeitslosigkeit von einem Defizit einer Volkswirtschaft zu individuellem Versagen, damit einhergehende Sozialkürzungen und die Schwächung der Macht der Beschäftigten und der Gewerkschaften einerseits spielen eine Rolle; andererseits aber auch das traditionell reservierte Verhältnis der Gewerkschaften gegenüber migrantischen Arbeiter:innen – sowie umgekehrt die Scheu oder Kraftlosigkeit von prekarisierten Arbeiter:innen, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Das strenge österreichische Asylregime mit den Zugangsbeschränkungen zum Arbeitsmarkt gerät ebenso in Greß’ prüfenden Blick wie der Rassismus allgemein, der als die Gesellschaft durchziehende Ideologie die Funktion der Spaltung der Arbeitenden erfüllt.1

Besonders beeindruckt der dritte Teil des Buches. Greß gibt darin Vorschläge zur Verbesserung; dabei so detailliert, mehrdimensional und nachvollziehbar, dass keineswegs der Eindruck entsteht, der Verlag habe dem Autor noch ein Kapitel abgepresst, in dem auch mal was Optimistisches steht. Dennoch, um die Produktions-, die institutionelle und die Organisationsmacht der prekär Arbeitenden auszubauen, wird es wohl unter den herrschenden Bedingungen Energien brauchen, die früher für eine Revolution gereicht hätten. Es gehört zu den vielen Ärgerlichkeiten für Linke, dass oft in dem Maße, in dem man sich für die Behebung einzelner, konkreter Missstände bemüht, die Kritik am großen Ganzen ins Hintertreffen gerät. Das ist bei Greß nicht einmal der Fall. Und trotzdem. Was könnte man einem Nörgler entgegnen, der sagen würde: Würden wir nicht alle in einer Welt leben wollen, in der gut bezahlte Paketbot:innen das neue Smartphone liefern, für dessen Produktion die halbe Welt umgegraben und für ordentliche Kinderbeschäftigung Sorge getragen wurde, sodass der Empfänger auf Facebook wieder auf die wirtschaftlichen Ursachen der Klimakata-strophe aufmerksam machen kann? In einer Welt, in der eine ordentlich entlohnte, sowie arbeitslosen- und krankenversicherte Reinigungskraft die 250-Quadratmeter-Wohnung der wohlhabenden Eheleute putzt, damit diese sich als Berater eines mittelgroßen Konzerns sechzig Stunden die Woche um die neuesten Rationalisierungsmaßnahmen kümmern können? In einer Welt, in der in Sicherheit arbeitende, mit Gefahrenzulagen belohnte Forstarbeiter:innen den angesichts der Biodiversitäts- und CO2-Krise viel zu hohen weltweiten Holzverbrauch weiter garantieren?
Diesem Nörgler würde man bedeuten, sich nicht in die notwendigen Arbeitskämpfe einzumischen, und ihm eine der vielen, herausragend gut bezahlten Universitätsdozentenstellen vermitteln.

[1] Hierbei beruft sich Greß übrigens auf Kathrin Birner und Stefan Dietl, die vor zwei Jahren mit »Die modernen Wanderarbeiter*innen« ein ähnlich empfehlenswertes Buch vorgelegt haben.

Johannes Greß: Ausbeutung auf Bestellung. Österreicher findest’ für die Arbeit keine, ÖGB Verlag 2024