In seiner Fundamentalkritik1 konzedierte der französische Kommunist Jean-Claude Michéa dem Liberalismus, dass er als Reaktion auf das Trauma neuzeitlicher Religionskriege eine Verbesserung darstellte. War die öffentliche Ordnung zuvor in religiösen Dogmen fundiert, die unweigerlich zu Gewalt gegen diejenigen führte, die diese nicht teilten, sollte das Staatswesen fortan so weniger moralischer Normen als nötig bedürfen, um ein möglichst friedliches Zusammenleben zu garantieren. Zum sozialen Organisationsprinzip wurde der Markt – öffentliche und unsichtbare Hand sollten eins werden. Dieser potentielle Universalismus und Frieden sind aber dadurch erkauft, dass qualitative Verbindlichkeiten wie eine Verpflichtung des Gemeinwesens auf bestimmte Prinzipien als Rückfall in ideologische Zeiten gewertet werden. Sowohl für den politischen wie für den wirtschaftlichen Liberalismus (dessen Trennung selbst ideologisch ist), gilt in Reinform der Markt als alleiniger Allokationsmechanismus, weshalb er aus sich heraus nicht begründen kann, warum es z. B. falsch wäre, ein faschistisches System zu etablieren, wenn sich nur genügend Menschen finden, die das für eine gute Idee halten, also genügend Nachfrage erzeugen. D.h. der Liberalismus kann nicht einmal seine eigene Abschaffung verhindern, ohne auf externe Werturteile zurückzugreifen. Selbstredend ist auch dem liberalen Lager klar, dass es den Liberalismus in Reinform nicht gibt – irgendjemand muss schließlich die Spielregeln für den Markt festlegen, sowie deren Einhaltung überwachen und Verstöße dagegen sanktionieren. Deshalb geht es auch im »Neoliberalismus« bekanntermaßen auch nicht um De-, sondern um Reregulierung. Offen aussprechen möchte man es aber auch nicht, da das die Idee befeuern könnte, dass der scheinbar allwissende und allmächtige Markt gar nicht so zentral ist und nicht nur reguliert, sondern als Produktionsmaßgabe und Vermittlungsinstanz abgeschafft werden könnte. Adäquater sprachlicher Ausdruck, der diese Zustände zugleich verschleiert, ist die Rede von Netzwerken und Plattformen2.
Und damit sind wir jetzt beim »Marktplatz der Ideen«, als der Soziale Medien in der allgemeinen Wahrnehmung figurieren. Wie schon beim zentralen Versammlungsort in der antiken griechischen Polis (der Agora), auf der sich Bürger (freie und reiche Männer) politisch betätigten, basieren auch diese Kommunikationskanäle auf Ausschlüssen als Vorbedingungen, die spätestens bei offensichtlichen Vermachtungen die Illusion des Austauschs unter Freien und Gleichen auf dem level playing field des Web x.0 zerstören können (auf dem Supermarktkassiererin und Private Equity Manager gleichberechtigt Fotos ihrer Jachten posten können).3
Mit »X« gibt es nun den Fall, dass diese Vermachtung in einem Ausmaß geschehen ist, das einen qualitativen Umschlag bedeutet: das Umkippen in ein Propagandainstrument. Hier ist nicht der Ort, um detailliert auf Elon Musk einzugehen, dessen Talent als bullshit artist und inventor cosplayer primär darin besteht, Regierungsaufträge an Land und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen4. Während also vergleichbare Tech-Firmen wie Tiktok, Bluesky oder Threads (bzw. Meta insgesamt) sehr darauf bedacht sind, möglichst unmoderierte Plattformen für kommunikativen Austausch zu betreiben (also den liberalen Schein zu wahren) und keinesfalls als Medienunternehmen wahrgenommen werden wollen (die für Inhalte in die Pflicht genommen werden können), verschwendet ein narzisstischer Soziopath wie Musk keinen Gedanken an Diplomatie5. Dadurch, dass er ungeniert Twitter an sich gerissen und zu seinem persönlichen Agitationskanal X umgebaut hat, zeigt sich deutlich, wie dünn der Schleier zwischen Meinungsaustausch und Meinungskontrolle bei derartigen top-down-Datenfabriken ist.6
Wie die derzeitigen Kommunikationstechnologien in einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft genutzt würden, die frei von Verwertungs-zwängen ist, lässt sich nicht sagen – ohne Notwendigkeit, durch möglichst starke Emotionen Aufmerksamkeit zu erzeugen, würden sich vermutlich aber diverse negative Dynamiken (wie Überbietungswettbewerbe) nicht einstellen. Wenn wir uns von dieser Vorstellung verabschieden (was wir nicht sollten), stellt sich die Frage, was sich sinnvollerweise fordern lässt, um die schlimmsten Auswüchse digitaler Alltagsbeherrschung abzufedern. Was die Social-Media-Plattformen angeht – auch jene, die nicht von Bond-Bösewichten geleitet werden (ein Niveau, das Mark Zuckerberg noch nicht ganz erreicht hat) –, gibt es zumindest einige diskutable Vorschläge:
- Offenlegung der Algorithmen, um sicherzustellen, dass sie keine selbstverstärkenden Mechanismen in Gang setzen (z. B. die Verengung von Inhalten aufgrund identifizierter Präferenzen), die für gezielte Manipulation eingesetzt werden können.
- Moderationsvorgaben, die die Betreiber verpflichten, gemeldete Verstöße zu prüfen und dagegen vorzugehen, bzw. sie medienrechtlich dafür verantwortlich (und dementsprechend haftbar) zu machen, sobald dies nicht geschieht. Die Formulierung dieser Vorgaben dürfte allerdings nicht den Plattformen selbst überlassen werden.
Natürlich stellt sich die Frage, wer derartige Forderungen durchsetzen soll, die – nach allem, was man über die inneren Funktionsweisen sagen kann – die Geschäftsmodelle aller Social-Media-Unternehmen im Kern bedrohen? Diese Firmen geben nicht umsonst immense Beträge für Lobbying aus (v.a. in den USA und der EU).
In der EU bestehen Regulierungsbestrebungen vor allem im Digital Services Act (DSA), sowie dem Digital Markets Act (DMA):
- Der DSA soll die Nutzerinnen und Nutzer besser schützen sowie die Verbreitung illegaler Inhalte verhindern und ist seit Ende 2022 für sehr große Plattformen bzw. Suchmaschinen in Kraft und für alle anderen Unternehmen seit Anfang 2024. Verstöße werden mit Strafzahlungen von 1–6% des weltweiten Jahresumsatzes geahndet.
- Der DMA gilt ebenfalls seit Ende 2022 und soll verhindern, dass Online-Dienste ihre eigenen Produkte gegenüber Drittanbietern bevorzugen. Hier sind Strafen von bis zu 10% des weltweiten Jahresumsatzes vorgesehen.
Inwieweit diese Instrumente zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit zur Anwendung kommen können bzw. um europäische Wettbewerbsinteressen durchzusetzen, bedarf weiterhin der politischen Auseinandersetzung als Korrektiv.7 Beide sind jedenfalls Verordnungen mit unmittelbarer Wirkung in allen Mitgliedsstaaten, die nicht erst (wie Richtlinien) in nationales Recht übersetzt werden müssen. In den USA existieren mehrere Executive Orders zum Umgang mit Social Media. Diese gelten allerdings für die Bundesbehörden, daneben gibt es Regulierungsbestrebungen auf Ebene der Einzelstaaten.8
Bezüglich X hat die EU-Kommission Mitte Oktober entschieden, dass es nicht als zentraler Plattformdienst im Sinne des DMA einzustufen ist, da keine relevante Verbindung zwischen Unternehmen und Kundschaft besteht.9 Sehr wohl betroffen ist X aufgrund der monatlichen Nutzungszahl allerdings vom DSA und die EU-Kommission ermittelt auch bereits wegen einiger Verstöße10, die zu empfindlichen Geldstrafen führen könnten: Der Jahresumsatz von X ist zwar aufgrund von Werbeeinbußen rückläufig (welcher globale Konzern will schon neben Neonazis inserieren?), allerdings besteht die Möglichkeit, dass nicht das Unternehmen X, sondern Elon Musk selbst als Anbieter gewertet wird.11 Eine Sperre (wie sie das Oberste Gericht Brasiliens unlängst temporär verhängt hat), scheint allerdings eher unwahrscheinlich.
Wie aber zivilgesellschaftlich umgehen mit dem neuen Spielzeug von manchild Musk, der Wildsau X, die den schönen New-Economy-Garten umgräbt und sich so wohlig im Dreck wühlt? Zwar existiert die unvermeidliche Online-Petition (»Ban X in Europe«), die sich jedoch überschaubaren Zuspruchs erfreut (453 Unterschriften zur Zeit der Drucklegung)12, eventuell wäre die Online-Jauchegrube auch ein gutes Einsatzgebiet für »digitale Streetworker« wie es sie als Modellprojekt in Bayern gibt.13
Nachdem mittlerweile diverse (v.a. europäische) Einrichtungen ihre X-Konten stillgelegt haben und immer mehr ehemalige Twitter-Fans (ob Celebrities oder meinungsbildende Journalistinnen und Journalisten) zur Konkurrenz abwandern (nicht ohne öffentlichkeitswirksam darauf hinzuweisen), könnte sich die ganze Sache wohl irgendwann totlaufen, weil der Reiz, abseits des aus Gewohnheit verbliebenen engeren Kreises fast ausschließlich mit Verschwörungsspinnern und Werbeaccounts für Potenzpillen zu interagieren, doch eher überschaubar ist.
Andererseits kehren bereits die ersten größeren Werbekunden (wie Disney) auf X zurück (wenngleich mit niedrigeren Summen), was wohl wiederum auf die enge Verbindung Musks zu Trump zurückzuführen sein dürfte. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass X schließlich mit Trumps Truth Social fusioniert und zum offiziellen Verlautbarungsorgan der kommenden US-Administration wird, was all diejenigen, die der Plattform entrüstet den Rücken gekehrt haben, auf dem Bauch zurückkriechen lassen wird (unter Protest, aber »muss ja«). Hier sind wir wieder beim power play außerhalb des Meinungsmarktes, das diesen bedingt.
Wer nicht weiterhin als Datenbehälter für kommerzielle Dienste herhalten will, und trotzdem an den zeitgenössischen Kommunikationsmöglichkeiten partizipieren (also etwas selbstbestimmter am Markt auftreten) möchte, kann sich natürlich auch freier Software (wie Mastodon) bedienen.