Herr Groll und der Dozent hielten ihren wöchentlichen Jour Fixe zur Erörterung der Weltlage unter besonderer Berücksichtigung Österreichs und der Donau im Strandgasthaus Birner an der Alten Donau ab. Anhand von Agenturmeldungen und Zeitungsartikeln wurden bei diesen Treffen nicht etwa Vorschläge zur Besserung der Lage diskutiert, sondern Wege, die krisenartigen Erscheinungen in Ökonomie und Überbau zu vertiefen, um sie auf diese Weise besser zu verstehen. Herr Groll hatte sich eine nahezu in Vergessenheit geratene Einsicht von Karl Kraus zu eigen gemacht, die wie folgt lautete: Die ehrenwerte Arbeit der Kritik verträgt sich nicht mit Ratschlägen zur Besserung der Lage. Wenn Kritik etwas taugen soll, schließt sie das gesellschaftliche Vorschlagswesen kategorisch aus, wissend, daß Vorschläge zur Besserung der Lage immer die grundsätzliche Versöhnung mit dem Urgrund jener Verhältnisse widerspiegeln, die die kritisierten Zustände hervorbringen.
»Wer Aufrufe zur Besserung der Welt in dieselbe hinausposaunt, lindert die Probleme nicht, sondern trägt zu ihrer Verschärfung bei. Eine Kritik, die diesen Namen verdient, ist Angelegenheit der gesellschaftlichen Praxis von Menschen und Menschengruppen, die sich auf die praktische Kritik der Machtverhältnisse verstehen. Daß in der Folge der Weltfinanzkrise und der Flüchtlingsbewegungen nationalautoritäre und rechtsextreme Parteien in Europas Parlamenten und Regierungen auftauchen, während linke und zentristische Parteien in Bedeutungslosigkeit versinken, ändert an diesem Befund nichts.«
Der Dozent hatte sein Notizbuch aufgeschlagen, nahm Eintragungen vor und bat um eine Präzisierung des Gedankens.
Herr Groll nahm einen Schluck vom Budweiser Bier, wischte den Schaum vom Mund ab und setzte fort.
»Eine straff organisierte, kämpferische Demonstration ist höher zu schätzen als ein Dutzend hochtrabender Artikel und ein Schock eitler Essays. Die Ausübung zivilen Ungehorsams ist wirksamer als eine Latschdemo. Eine zugemauerte Tür, eine weithin sichtbare Fahne auf einem Handymast, einem Funkturm, ein Spruchband auf einer Donaubrücke oder ein abgefackeltes Auto erzeugen mehr Aufmerksamkeit als eine larmoyante Rede vor zwanzig Anhängern.«
»Wollen Sie damit sagen, daß nur gewalttätige Demos Wirkung zeigen?« fragte der Dozent.
»Die Erfahrung der Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen mit öffentlichkeitwirksamen Aktionen rekapitulierend, kann ich folgendes berichten.«
»Wenn wir in Akten der Notwehr vor gesetzlichen Verschlechterungen die Ringstraße blockierten – was wir einige Male mit großem Erfolg praktizierten; wenn wir Ministerbüros besetzten, das Bundeskanzleramt mit zehntausend Kolleginnen und Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet umstellten oder siebentägige Hungerstreiks im Parlament abhielten, dann waren das Formen zivilgesellschaftlicher Auflehnung, denen durchaus gewalttätige Momente innewohnten. Wir hätten ohne diese Regelverletzungen keine Aufmerksamkeit gefunden, ohne unsere phantasievollen und mutigen Widerstandshandlungen hätten wir weder das Pflegegeld, die ersten Schritte zu inklusiven Schulformen nach dem Vorbild Südtirols und Skandinaviens (die jetzt wieder abgeschafft werden) noch die Anfänge der Beseitigung von baulichen Barrieren erreicht. Derzeit schwingt die Regierung die Abrißbirne des Sozialstaats, behinderte Menschen zählen zu den ersten und am schwersten betroffenen Gesellschaftsgruppen. Etliche sogenannte Reformen erweisen sich für uns als schwerwiegende bis katastrophale Rückschläge, die uns in wichtigen Politik- und Gesellschaftsfeldern auf den Stand der fünfziger und sechziger Jahre zurückwerfen, in denen das nationalsozialistische Erbe noch sehr präsent war. So schreibt die UN-Behindertenrechtskon-vention, die von Österreich im Jahr 2008 ratifiziert und in nationales Recht übernommen wurde, die Schaffung von inklusiven Bildungseinrichtungen und die Schleifung sämtlicher Großheime vor, die Regierung aber setzt – mit Zustimmung der Lehrergewerkschaft, die sich einmal mehr als wahrer Sargnagel der Emanzipationsbewegung behinderter Menschen hervortut – auf den Ausbau von Sonderschulen und Sondereinrichtungen. Als würde eine sinistre Macht befehlen, daß das Rad der Zeit zurückgedreht werden muß. In den mittel- und osteuropäischen Staaten werden verstärkt entlegene Krüppel- und Pflegeheime adaptiert und gebaut. Ungarn verbannt neben Obdachlosen auch behinderte Menschen aus den Städten und errichtet 200 mittelgroße Behindertenanstalten in gottverlassenen Gegenden. Nicht nur garantiert das den privaten Heimbetreibern regelmäßige Profite ohne Risiko und einen diskreten, unkontrollierten Betrieb, sie liefern auch eine verläßliche Mißbrauchsgarantie.
Mit der Exklusion behinderter Menschen aus dem Schulalltag befindet Österreich sich mit Ungarn, Rumänien, Kroatien, Tschechien, Serbien und der Slowakei in einschlägiger Gesellschaft. Daß der Mißbrauch in Heimstrukturen eben nicht die Ausnahme, sondern die eherne Regel eines reaktionären Behindertenwesens ist, zählt seit Jahrzehnten zum Basiswissen von Politologen, Soziologen und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Der Abbau der mühsam erkämpften Errungenschaften der Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen und die flagrante Verweigerung des Menschenrechts auf inklusive Schulen und selbstbestimmte freie Wahl der Wohnsituation erfolgt auf allen Ebenen und betrifft besonders auch das finanzielle Auskommen. Hier werden mit der Reform der Mindestsicherung die Lebenschancen beeinträchtigter Bürger zertrümmert. Die Zahl von Selbstmorden von verzweifelten jungen behinderten Menschen, die sich plötzlich keine Existenz auf freier Wildbahn mehr leisten können, steigt. Die Alternativen sind trist. Wer sich dem physischen Suizid verweigert, kann nur den sozialen Tod in Heimen wählen.«
Der Dozent schrieb eifrig in das Notizbuch, Herr Groll setzte fort.
»Daß die Arbeitslosenrate vermittelbarer behinderter Menschen nahezu fünfzig Prozent beträgt und in den letzten Jahren stark angestiegen ist, heißt, daß vielen behinderte Menschen der Ausweg Beruf verbaut ist. Auch hier muß erwähnt werden, daß die Gewerkschaften dieser Entwicklung nicht gelassen zusahen, sondern sie aktiv betrieben haben, indem sie die Abschaffung des besonderen Kündigungsschutzes für behinderte Menschen (der in der Praxis so besonders wirksam nicht war) zustimmte – mit dem blödesten aller Unternehmerargumente auf den Lippen, das da lautet: Der Kündigungsschutz behinderter Arbeitnehmer verhindert deren Anstellung, entfernt man dieses Beschäftigungshin-dernis, stünde der Arbeitsmarkt für behinderte Menschen offen wie ein Scheunentor. Nun ist der verstärkte Kündigungsschutz seit 1.1.2011 ausgesetzt und de facto abgebaut, und was ist geschehen? Die Arbeitslosenrate behinderter Menschen hat sich verdoppelt! Und niemand denkt daran, die alte Regelung wegen des eklatanten Mißerfolgs der neuen wieder in Kraft zu setzen. Nicht verschwiegen soll bleiben, daß auch die großen Behindertenverbände diesem Anschlag auf die Lebens- und Arbeitschancen behinderter Kolleginnen und Kollegen zustimmten, wo doch jeder Kenntliche wie zum Beispiel die Bundesbehindertenanwälte Erwin Buchinger und Hans Jörg Hofer das beschämenden Ergebnis mehrfach voraussagten. Auch der langjährige ÖVP-Behindertensprecher im Nationalrat, Franz Joseph Huainigg, machte sich für die Aufhebung des besonderen Kündigungsschutzes stark, natürlich mit den üblichen Unternehmerargumenten. Auch von ihm wurde kein Wort des Bedauerns vernommen. Den eigenen Leuten in den Rücken gefallen zu sein und die beruflichen Möglichkeiten tausender junger behinderter Menschen auf dem Doppelaltar von Borniertheit & Profitgier geopfert zu haben, scheint ihm keiner Erwähnung wert. Das mindeste was man tun kann, ist die Erinnerung an diesen Verrat wach zu halten.
Seit Jahrzehnten schuften 25.000 behinderte Menschen in Heimen, putzen, kochen, erledigen Botendienste. Sie bekommen keinen Lohn, nur 20–60 Euro (nach Ländern und Heimträgern verschieden) und das nicht täglich, auch nicht wöchentlich, sondern monatlich! Sie sind nicht pensionsversichert, können nichts ansparen und haben keine Perspektive, je ihr Gefängnisheim verlassen zu können. Seit Jahrzehnten weisen Arbeitsrechtler darauf hin, daß es sich hierbei buchstäblich um Sklavenarbeit handelt: keine Entscheidungsfreiheit, kein Lohn, nur ´Taschengeld`, völliges Ausgeliefertsein gegenüber dem Arbeitgeber, der gleichzeitig Zimmerherr ist. Auch hier treffen wir auf das übliche Beiwerk: untätige Behindertenverbände und ignorante Gewerkschaften.
Daß die Barrierefreiheit von Verkehrsmitteln und öffentlichen Lokalen nicht und nicht vom Fleck kommt, sei ebenfalls nicht vergessen. Die Bundeswirtschaftskammer, die in ihrem Bereich bei der Erfüllung der Einstellungspflicht behinderter Menschen seit Jahrzehnten notorisch versagt, bietet für ihre Mitgliedsbetriebe Schulungen an, in denen Maßnahmen zur Schaffung von Barrierefreiheit vorgestellt werden. Wie die Praxis aber zeigt, lautet der gar nicht so leise Subtext der Schulungen: Wenn ihr, liebe Gastronomen und Hoteliers, die Erfordernisse des Behindertengleichstellungsgesetzes 2016, das Barrierefreiheit vorschreibt, nicht erfüllt, geschieht euch kein Harm, denn erstens wird die Einhaltung des Gesetzes nicht kontrolliert und zweitens gibt es bei Nichterfüllung der Barrierefreiheit keine Strafen! Das zahnlose Gleichstellungsgesetz, das als böse Karikatur auf ausländische Vorbilder gesehen muß, erlaubt es nicht, diskriminierende Tatbestände durch Klagen zu beseitigen. Das höchste der Gefühle ist eine Schlichtung vor dem Sozialministeriumsservice, dem ehemaligen Bundessozialamt, die damit endet, daß man eine amtliche Bestätigung erhält, in der festgestellt wird, man sei eben diskriminiert worden. Konseqenz: keine! Man könnte schon am nächsten Tag in derselben Causa eine neuerliche Schlichtung beantragen und so ad infinitum. Und die Damen und Herren Gastronomen und Gastronominnen spitzen bei den Schulungen die Ohren – und tun nichts. Wer diesen Befund nicht glauben will, der sei auf die skandalöse unveränderte Situation bei Wiener Kaffeehäusern verwiesen, die nicht einmal zu einem Viertel barrierefrei sind. In dieselbe Kerbe schlägt eine Einkaufsstraßenerhebung des Bundesverbands für Menschen mit Behinderungen (ÖZIV) vom Februar 2019, die alle paar Jahre mit großem Aufwand durchgeführt wird und zum Ergebnis kommt, daß sich seit der Geltendwerdung des einschlägigen Gesetzes im Jänner 2016 und einer vorhergehenden zehnjährigen Übergangsfrist nichts, gar nichts, verändert hat. Welche Konsequenzen fordert nun aber der Bundesverband ÖZIV? Nicht etwa eine Totalreparatur des jämmerlichen Gesetzes oder die Schaffung eines neuen, funktionierenden – nein, so radikal ist er nicht, er fordert – eine verstärkte Bewußtseinsbildung! Als hätte diese je etwas genützt. Das Bewußtsein nämlich ist ein heimtückischer Geselle, es verändert sich nur durch klare und transparente Gesetze, die rechtsschöpfend wirken und mit Sanktionen versehen sind! Nicht umgekehrt! Bewußtsein follows Gesetz, heißt die Losung! Das ist die Lehre des Independent Living Movement, der internationalen Bürgerrechtsbewegung behinderter Menschen, und es ist nicht einzusehen, warum das in Österreich anders sein sollte.«
Groll nahm einen großen Schluck vom Budweiser. Der Dozent sah vom Notizblock auf und sagte nachdenklich:
»Ich nehme an, Sie werden jetzt keinen Vorschlag zur Lösung der Misere präsentieren.«
»Für heute beende ich die Arbeit der Kritik mit einer abschließenden Bemerkung: Behindertenverbände sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Über die Gründe dieser Schande braucht man nicht lange zu rätseln, es genügt ein Blick auf die Finanzierungsstruktur der Verbände. Sie hängen am Tropf der Politik.«
Der Dozent klappte das Notizbuch zu. Herr Groll zwang sich zu einem dünnen Lächeln.