Kleine weiße Tabletten und Milchquoten

Paulette Gensler gibt anhand des Romans „Serotonin“ Nachhilfeunterricht in Sachen Houellebecq.

Gäbe es das Feuilleton nicht, man bräuchte kaum eine Rezension über einen Roman von Houellebecq verfassen (abgesehen davon, dass man es dann kaum könnte); zu sehr stehen diese für sich selbst, erklären sich selbst – könnte man zumindest glauben, bis man sieht, was sich in den Besprechungen vollzieht. Es ist, um es kurz zu sagen, ein Trauerspiel, wenn eine der wenigen lesenswerten Besprechungen ausgerechnet in der taz erscheint.[1] Dabei gäbe es durchaus einiges zu bemängeln. Der Roman erreicht schon nach wenigen Seiten seinen stilistischen Tiefpunkt, welcher grob das erste Drittel oder Viertel des Buches einnimmt. Jener erste schwache Teil erinnert in eindringlicher Weise an seinen Debütroman „Ausweitung der Kampfzone“. Alles – insbesondere der Erzähler[2] - ist etwas zu aufdringlich, zu betont, zu ostentativ. Es wäre viel gewonnen, hätte der Autor auf die Erkenntnis seines eigenen Protagonisten gehört, der am Ende des Werkes zu dem Schluss gelangt, dass eine solche „ostentative Bekundung des Scheiterns ziemlich unnötig [war], das Scheitern hatte sich ohnehin vollzogen“ (S. 294). Der Roman fängt sich aber, und folgt letztlich im Groben dem altbekannten Muster und das heißt, der Erkenntnis, dass man keinen Roman über die Arbeit schreiben kann, sondern nur über die Freizeit und den Konsum. Demnach steht, wie in den meisten Romanen des Autors, die Kündigung am Beginn der Handlung respektive der Erzählzeit, von wo aus sich die Erzählung spiralförmig fortbewegt.

Die Übertragung ins Deutsche ist nicht gerade gelungen. Die Übersetzung ist nicht durchgängig schlecht, keineswegs aber „wirkt die deutsche Übersetzung angenehm flüssig, man stockt nie der Sprache wegen.“[3] Stattdessen kann man den Sätzen oftmals vielmehr ansehen, was genau in der Übersetzung wohl schiefgelaufen ist, wie in jenem Fall: „Ihre Freundin und sie wollten ihren Reifendruck prüfen (das heißt den Reifendruck ihres Autos, ich habe mich falsch ausgedrückt).“ (S. 10) Das ergibt keinen Sinn, sofern man das französische „la pression de gonflage de leurs pneus (enfin des pneus de leur voiture […])“ nicht erahnt. Hätte dort beispielsweise „Schläuche“ gestanden, wäre das immer noch – wie im Original - kein besonders schöner oder treffender Satz, aber immerhin nicht noch wesentlicher schlechter als das Original, in welchem zumindest eine Assoziationsebene existiert. Man hätte also zumindest gesehen, dass ein Gedanke in der Übertragung steckt. Auch die „Schaffung eines familiären Ankerplatzes“ (S. 15) ist zwar eine im Grunde noch legitime Übertragung von „ancrage familial“, jedoch die denkbar unschönste; was sich wiederholt, wenn die „chatte candide“ zu einer „arglosen Muschi“ wird.[4] In anderen Fällen verstößt die Übertragung schlichtweg gegen die restliche Sprachgestalt: „eine der hässlichsten Städte, derer ich je ansichtig werden durfte.“[5] In diesem Sinne ist auch „gonflage“ eher das Aufpumpen als das „Befüllen“ der Reifen. Letztlich bleibt es fraglich, ob es an Stephan Kleiner (der mit „In Schopenhauers Gegenwart“ das erste Mal ein Werk von Houellebecq[6] und mit „Serotonin“ erstmals einen Roman des Autors übersetzte, dessen Schwerpunkt aber eher englischsprachige Literatur ist), oder an der hastigen Frist lag. Die, wenn auch wenigen, Setzfehler und andere Fehler des Lektorats lassen letzteres am wahrscheinlichsten erscheinen, weshalb man dem folgenden dringend widersprechen muss: „Nur ein paar Tage nach der Veröffentlichung des Buches in seiner französischen Heimat liegt "Serotonin" in Deutsch vor - auch das ein Zeichen dafür, dass die Verlagsmanager bei diesem Autor weitsichtig planen.“[7] Es wäre dem zu erwartenden Profit wie auch dem Autor gerechter geworden, nicht nur drei Tage, sondern wie mit der englischen Übersetzung einfach bis September zu warten und noch ein wenig Arbeit zu investieren.[8]

Die Legasthenie der Kritiker

Aber selbst die beste Übersetzung dürfte kaum der Legasthenie der Kritiker vorbeugen können. Es ist bezeichnend, wenn diese aufgrund ihrer mangelnden Fähigkeiten in sinnerfassendem Lesen nicht einmal eine richtige Inhaltsangabe hinbekommen. Ein besonders symptomatisches Geplapper ist jenes über den „Erotomanen“ und dessen Probleme mit seiner japanischen, um zwanzig Jahre jüngeren Partnerin. Diesbezüglich heißt es dann: „Sein explodierendes Desinteresse an ihrem Luxuskörper steigert sich zum Wunsch, sie um jeden Preis loszuwerden, als er entdeckt, dass sie sich in seinem Apartment nicht nur beim Gangbang, sondern auch beim Kopulieren mit einem Dobermann hat filmen lassen.“[9] Der zoophile Akt ist – konträr zu seiner Randständigkeit im Werk - eindeutig eine der Lieblingsszenen des Feuilletons. Anlässlich derselben Szene heißt es in der Jungle World: „Der sexpositive Feminismus lässt den Erotomanen buchstäblich alt aussehen.“[10] Wenn jedoch der fiktive personalisierte „sexpositive Feminismus“ im Geschlechtspartner eben wirklich nur den „Hund“ sehen kann, wie der Protagonist zurecht bemängelt, könnte daraus vielleicht endlich einmal die Einsicht erwachsen, dass sich jeder positive Bezug auf eine solche Form des „Feminismus“ verbietet. Wer meint, dass sich der Autor mit solchen Szenen „einmal mehr als späten Nachfahren des Marquis de Sade“[11] erweise, hat vermutlich nie ein Werk de Sades gelesen, wohl aber gehört, dass darin schmuddelige Dinge vorkommen sollen und alle das gehört haben. Im Versuch, diese Lesart richtig zu stellen, greift ein anderer Rezensent nicht minder daneben, wenn er schreibt: „Wohlbemerkt verachtet er Yuzu nicht, weil sie von einem Dobermann und einem Bullterrier gegangbangt wurde (49-50), sondern weil sie von ihm finanziell abhängig ist, und somit das darstellt, was der liberale Jargon einen “Sozialfall” nennt.“[12] Auch das ist völliger Unfug. Dabei steht im Roman ganz klar, was der Grund war: „Doch nicht in diesem Augenblick“, und zwar in keinem der oben genannten, „erlosch meine Liebe zu ihr endgültig, sondern in einem scheinbar harmloseren und jedenfalls kürzeren Moment […].“ (S. 71) Der Protagonist bemerkt, dass sie in ihrem Leben noch nach Japan zurückkehren würde, dass sie dort heiraten würde etc. Nicht die Aussicht auf ein Verlassenwerden, sondern dass sie damit warten würde, bis er gestorben ist, wird zum Bruchpunkt: „Sie hatte meinen Tod also in ihr zukünftiges Leben eingeplant, sie kalkulierte damit.“ Er weiß angesichts des Altersunterschiedes um das Irrationale seiner Reaktion – „in der bedingungslosen Liebe kann das geliebte Wesen nicht sterben, es ist per se unsterblich, der Realismus von Yuzu war ein anderes Wort für einen Mangel an Liebe, und diese Schwäche, dieser Mangel hatte etwas Endgültiges an sich.“ Dies ist viel zu klar und zu wahr, als dass es Eingang in irgendeine Besprechung finden konnte.

Auch angesichts der Tatsache, dass den Protagonisten sein Name (Florent-Claude) an eine „botticellihafte Schwuchtel“ erinnern würde,[13] wittern zahlreiche Rezensenten die pure Homophobie und einen Männlichkeitsfanatismus des Autors. Ließe man sich jedoch ein auf jene Passage, wäre darin die abgebrochene Dialektik des Namens zu erkennen, über die Adorno schon bemerkte, dass „die Spitznamen, die einzigen [seien], in denen etwas vom ursprünglichen Akt der Namengebung fortlebt.“ Sich auf seine Physiognomie beziehend, bemerkt der Erzähler: „Der Name passt überhaupt nicht zu meinen markanten, je nach Blickwinkel sogar groben Gesichtszügen, die schon häufig (zumindest von gewissen Frauen) als besonders männlich betrachtet wurden.“ (S. 6) Die daraus versuchsweise abgeleitete Physiognomik entpuppt sich hingegen als bloßer Wunsch: „In meinem Fall wäre die Sache umso einfacher gewesen, als mein zweiter Vorname, Pierre, perfekt zu dem Eindruck der Entschiedenheit und Virilität gepasst hätte, den ich der Welt hätte vermitteln wollen.“ Die sprechenden Namen, deren inflatorische Verwendung vor allem durch den oft referierten Dostojewski inspiriert sein dürfte, werden bei Houellebecq zu diskutierenden Namen.[14] Im Konflikt zwischen dem steinernen Pierre und dem floralen Florent erweist sich letztlich im Psychischen die Wahrheit des Namens, insofern Claude-Florent als verkrüppelte oder hinkende Blume/Blüte eine recht treffende Umschreibung des impotenten selbsterklärten „Weichei“ darstellt.

Psyche und Oikos

Das obige ist, wenn auch bezeichnend für Lesarten, die selbst jedes Lob zunichte machen, noch einigermaßen randständig. In nahezu jeder Besprechung geht es um die „Aktualität“ des Werkes angesichts der Gelbwesten. Beispielhaft in der Jungle World: „Auch wenn im Roman niemand eine Warnweste trägt, sind die Parallelen zu den Ereignissen doch deutlich.“[15] Die einfachste Antwort auf solche Auslassungen ist natürlich, dass jeder Roman Houellebecqs die Gelbwesten „vorweggenommen hat“, insofern jeder das dominante Milieu und dessen Ideologie kritisierte, die diese Proteste erst hervorbringen. Gemeint ist ein Milieu über das deren eigene Vertreterin, die Journalistin und damalige Kinderschutzbeauftragte Claire Brisset, in einer Abrechnung mit Houellebecq alles ausplauderte, ohne es zu bemerken: „Es ist skandalös, Prostitution als Arbeit zu bezeichnen. Letzten Endes wird da nichts produziert.“[16] Treffende Sätze kann man kaum erfinden, in denen dieses Milieu sich aus Versehen selbst beschreibt.[17] Man könnte natürlich auch auf die banale Idee kommen, dass Proteste von Milchbauern den Gelbwesten um Jahre vorausgingen – also eher diese jene vorwegnahmen als der Autor. Von der Nuit debout- oder der Rotmützen-Bewegung ganz zu schweigen.[18] Doch scheint es dem Feuilleton unmöglich, den Roman nicht als Pamphlet zu lesen. Zwar realisieren die meisten Rezensenten noch, dass es irgendwie um ein Antidepressivum und das titelgebende Serotonin geht, wie der erste Satz des Werkes noch einmal betont: „Es ist eine kleine weiße, ovale, teilbare Tablette.“[19] Aber was sie daraus machen, ist einfach nur faul: „Es handelt sich dabei um das neue Psychopharmakon Captorix.“[20] bzw. „Labrouste ist nicht mehr in der Lage dazu, das titelgebende Glückshormon Serotonin selbst zu produzieren. Er muss deshalb ein Antidepressivum nehmen.“[21] Fiktiv aber ist nicht nur die Marke, sondern die Wirkungsweise dieses Medikaments. Captorix ist ein Serotoninproduzent im Gegensatz zu den herkömmlichen und reellen „selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern“: „Die ersten bekannten Antidepressiva (Seroplex, Prozac) erhöhten den Serotoninspiegel im Blut, indem sie die Serotoninwiederaufnahme durch die 5-HT1-Rezeptoren hemmten. Die Entdeckung von Capton D-L im Jahr 2017 ebnete einer neuen Generation von Antidepressiva mit einer letztlich einfacheren Verfahrensweise den Weg, bei der es darum geht, mittels Exozytose die Freisetzung des in der Magenschleimhaut gebildeten Serotonins zu befördern.“ (S. 8) Der zweite Satz ist schlichtweg grober Unfug; und es wäre eigentlich nicht zu viel verlangt, dass irgendjemand mal bemerkt, dass die von Houellebecq erfundene Wirkungsweise weder existiert noch funktionieren kann. Nicht ohne Grund nennt der Klappentext „das revolutionäre neue Antidepressivum Captorix“. Jenes „wirkt über eine höhere Serotoninausschüttung“. Diese „neue“ Wirkungsweise hat im Text keine Funktion, wenn man sie nicht in einen Kontext zum Ende der Milchquoten stellt. Woraus der einfache Schluss erwächst, dass man, während man im Psychischen nur reell existierende Hemmer bereitstellt, zu diesen im Wirtschaftlichen nicht bereit ist, sondern auf pure Produktion und Freihandel setzt – der Abbau der Milchquoten ist also ein Abbau der Milchaufnahmehemmer. In der Art verweist die Analogie auf das potenziell fiktive der heutigen Vorstellung vom Freihandel. Jeder Bezug auf Marxens Verteidigung des Freihandels ist billig, denn Marx hätte partout nicht verstanden, dass es angesichts der Entwicklung der Produktivkräfte nicht längst zu einer Revolution gekommen ist. So endete seine „Rede über die Frage des Freihandels“ mit den Sätzen: „Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“[22] Marx und Engels haben Protektionismus und Freihandel immer konkret betrachtet. Dass eine solche Betrachtung nicht mehr möglich ist, wird Houellebecq zum zentralen Gegenstand der Kritik – in den Worten seines Protagonisten: „Die ideologische Hürde ist zu hoch. […] Meine Ansprechpartner kämpften nicht für ihre Interessen. […] Sie kämpften für Konzepte, ich war jahrelang mit Leuten konfrontiert, die bereit waren, für die Handelsfreiheit zu sterben“´.“ (S. 239)

Gewaltfrage

„Die bei Captorix am häufigsten beobachteten unerwünschten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Libidoverlust, Impotenz. Unter Übelkeit habe ich nie gelitten.“ (S. 8) Letzteres ist kaum verwunderlich, da sich die houellebecqschen Protagonisten über das Essen auf ihrem Teller nie Gedanken machen zu brauchen, wodurch das sexuelle Elend sich in den Vordergrund begeben kann. Materialistisch wird der Roman im besten und einzigen Freund des Protagonisten, dem normannischen Adligen Aymeric,[23] in dem festgehalten ist, dass Adlige immer nur die größten Bauern mit Waffen waren. In der personellen Trennung entfaltet Houellebecq die „fremde Nähe“ (Uli Krug) von Gebrauchswert und Libido, wie sie sich in allen Werken Houellebecqs andeutet, und wie sie selbst in Zeiten, in denen das postmoderne Ich nur noch aus Körper und E-Mail-Adresse besteht, erkennbar bleibt.

Tatsächlich jedoch erscheint die Gewaltfrage zentraler als in jedem bisherigen Roman des Autors, keineswegs jedoch in der Art und Weise, wie sie in der Zeit „beschrieben“ (lies: erfunden) und anschließend „kritisiert“ wurde: „In seinem glühenden Kern handelt Serotonin von Landwirten, die sich entweder umbringen oder mit schweren Knarren gegen die EU und ihren Wirtschaftsliberalismus kämpfen. […] Gewalt ist im Roman ganz definitiv eine plausible Option, um gegen diesen Missstand vorzugehen. […] Wenn der Ego-Shooter-Bourgeois im Gewand des linken, proeuropäischen Heuchlers alles gegen die Wand fährt, muss der nationalistisch gestimmte Citoyen im Akt der Selbstbehauptung zur Waffe greifen.“[24] Nun, wer „ganz definitiv“ schreibt, glaubt sich selbst nicht. Von den anderen Stilblüten einmal ganz zu schweigen. Das Schießen mit einem Gewehr[25] wird im Roman tatsächlich zum Substitut der Ejakulation wie auch der Arbeit respektive vor allem ihrer Verweigerung im Streik, das sich jedoch im Roman in beiden Fällen letztlich als (notwendig) ungenügend bzw. gescheitert herausstellt. Dem zum Trotz erkennt der Roman, dass Gewalt in der Zukunft eine größere Bedeutung einnehmen wird, wenn die Produktionsmittel, Traktoren oder noch größere Maschinen, nur noch als Mittel zur Blockade der Autobahnen genutzt werden können, da mit ihnen im internationalen Wettstreit kein Sieg mehr zu erringen ist. Dies wiederum ist ein Gegensatz zur klassischen Maschinenstürmerei, insofern jene Maschinerie vom ökonomischen Prozess selbst überflüssig gemacht wurde. In dieser Ohnmacht zum Streik liegt in der Tat ein strukturelles antisemitisches und faschistisches Potenzial auf das Houellebecq mit der latenten Andeutung auf die „Grünen Hemden“ verwies, ohne es in irgendeiner Weise zu zelebrieren.[26] Interessant ist, dass es niemanden zu stören bzw. sich niemand zu fragen scheint, woher diese Bauern nun plötzlich einen Raketenwerfer haben in einem Land, das die strengsten Waffengesetze aufweist, welches bisher vor allem durch (islamische) Banlieue-Banden unterlaufen wird. Vermutlich, weil dies an den Gehalt des Werkes gemahnen würde. Als Polizeibeamte schließlich den Hof des waffenhortenden Adligen durchsuchen, ist ihnen der „Gedanke“ anzusehen, „dass ihnen im Falle ernster Unruhen Schwierigkeiten drohen könnten, wenn alle Landwirte der Gegend in ähnlicher Weise bewaffnet wären.“ (S. 256) Doch sind sie es offensichtlich nicht, worin aufgehoben ist, dass der Staat vorerst keine ernsthaften Probleme mit revoltierenden Bauern haben wird. Hinzu kommt natürlich, dass der postmoderne Kapitalismus ohne massive psychische Vermittlungen überhaupt nicht existieren könnte. So wäre der Impuls des Autors, sich ausgerechnet die Milchindustrie herauszusuchen,[27] in den Kontext zu jenem Satz zu stellen: „Frankreich und vielleicht das ganze Abendland war zweifellos im Begriff, in die orale Phase zurückzufallen, um es mit den Worten des österreichischen Clowns zu sagen.“ (S. 312)

Ohnmächtige Verteidigung der Zivilisation

Besonders zu bemerken ist, dass Houellebecq Pädophilie nicht nur erwähnt, sondern erstmals auch beschreibt.[28] Wenn es in der taz heißt, „Der Roman aber bedient mit der Hauptfigur Flaurent-Claude gerade nicht die Vorstellung vom alten weißen Mann als Ekel“,[29] wäre dem eindringlich hinzuzufügen, dass er dies auch nicht im deutschen vogelaffinen Kinderficker macht. Die - auch im französischen Original deutsche – Anrede seines Opfers mit „Mein Liebchen“ verweist auf die beschädigte Zartheit des deutschen Ornithologen und seine Rolle als Sündenbock, die in der taz gleich bedient wird. So heißt es dort weiter: „Dass er an dem Setting trotzdem voyeuristisches Interesse entwickelt, dass er den Schwanz einzieht und abhaut, anstatt den Täter zur Rede zu stellen oder ihn anzuzeigen, macht Flaurent [, der Florent heißt – Anmerkung P.G.] zum Mitwisser und damit zum Mittäter.“[30] Schon eine geringe Abstraktionsleistung hätte zu dem Schluss geführt, dass dies in Bezug auf die Milchbauern ziemlich prägnant die Stellung der Mittelklasse als Mitwisser und -täter darstellt, denen der voyeuristische Akt kaum mehr bloße „Interesse“ als vielmehr „Geilheit“ oder Angstlust am Elend ist. Immer wieder denkt der Protagonist an den flüchtigen Deutschen, dessen Straffreiheit eine weitere Funktion aufweist, da die Nichtanzeige in der literarischen Form (!) noch einen zivilisatorischen Akt darstellt, insofern der Protagonist um die unmenschlichen Haftbedingungen von Pädophilen weiß, die er schon zu Beginn des Werkes auf den Slogan „Gedemütigt und in den Arsch gefickt“ (S. 52) brachte. Er, der keinem Vogel etwas zuleide tun kann,[31] ist psychisch nicht in der Lage, an dieser völlig unzulässigen, nur halb informellen und von der Masse der Gesellschaft begrüßten Strafverschärfung zu partizipieren.[32] Dieses – durchaus strafbare – Innehalten ist dabei genauso hilflos wie sein alltäglicher Protest mit Fahren eines Diesels und der Weigerung an der Mülltrennung mitzuwirken: „Ich hatte nicht viel Gutes im Leben getan, aber zumindest würde ich meinen Teil zur Zerstörung des Planeten beigetragen haben.“ (S. 44) Der nichtkleinbürgerliche Kleinbürger erkennt hier, dass eben gerade diese „grünen“ Verpflichtungen jene sind, die den heutigen „citoyen“ größtenteils ausmachen. Gleichzeitig gesteht der Protagonist seinen Wunsch, den Staat sehr wohl in die Pflicht zu nehmen im Kampf gegen beispielsweise maßlose Mietsteigerungen. Darin steckt nicht mehr und nicht weniger als die Hoffnung auf eine ansatzweise rationale, also nicht völlig ideologische Politik,[33] die für den ehrenwerten Außenminister der Ideologiekritik, Gerhard Scheit, natürlich nur und im besten Fall „Linkspopulismus“ sein kann.[34]

Das proustsche Ende

„Auch verfügt der Spezialist für französische Käseproduktion, der den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt, über unwahrscheinliche literarische Kenntnisse – von Jean-Jacques Rousseau bis Marcel Proust“[35], lautet ein erst einmal vernünftig wirkender Einwand, der aber verkennt, dass es im Roman selbst heißt: „Seit ein paar Wochen las ich wieder“ (S. 279) Die (temporäre) Unfähigkeit zur Lektüre spiegelt recht genau das (temporäre) Abstumpfen in der Depression wider, in der sich ein Charakter jedoch nicht völlig erschöpft. Woanders heißt es gar: „Einen so masslos [sic] belesenen Agroingenieur wie diesen Romanhelden hat die Welt noch nicht gesehen.“[36] Bei allem Verzicht der Identifikation von Autor und Erzähler, hätte den Betreffenden doch auffallen können, dass der Autor selbst Agraringenieur ist. Doch ist dieser Bezug umzukehren. Dies heißt, dass der Protagonist, sich (vorerst) nicht umbringt,[37] sondern das Buch schreibt, was auch die ostentativen Bekundungen des Erzählers zu Beginn des Werkes erklären würden: „Verkettung von Umständen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde – ja die sogar den eigentlichen Gegenstand dieses Buches darstellen“ (S. 6).[38] Zu wenden ist es insofern, als dass eben nicht der Autor mit dem Erzähler identisch, sondern der Erzähler zum fiktiven Autor wird. Der Roman endet nach einer Reflexion über Proust (höchstwahrscheinlich) mit seiner eigenen Niederschrift: „Es ist eine kleine weiße, ovale, teilbare Tablette. Sie erschafft nichts, und sie verändert nichts, sie interpretiert.“

 

[1] http://www.taz.de/!5560852/
[2]  „Verkettung von Umständen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde – ja die sogar den eigentlichen Gegenstand dieses Buches darstellen“ (S. 6); „aufgrund von Umständen, die ich vielleicht später noch schildern werde, wenn ich dazu komme“ (S. 18); „ich glaube, ich habe es noch nicht erwähnt“ (S. 25)
[3] https://www.berliner-zeitung.de/kultur/literatur/roman--serotonin--warum-michel-houellebecq-pornografie-mit-landwirtschaft-verknuepft-31829048
Andere Lobpreisungen der Übersetzung; „Selten liest man eine Übersetzung, bei der man – wie hier in der phänomenalen Übertragung von Stephan Kleiner – mit Bestimmtheit weiß, dass der Übersetzer dem Autor absolut gewachsen ist und weiß, was erzählt wird. Kleiner hat in seiner Wortwahl eine herausragende Arbeit geleistet.“
[4] Für die nicht ganz adäquate „Muschi“ kann der Übersetzer wenig, die Nuance ist nicht übersetzbar, da das Deutsche jene Feinheit nicht kennt. Gerade das aber sollten jene bedenken, die angesichts des Wortes in Schnappatmung verfallen.
[5] An anderer Stelle könnte dies noch als treffende Übertragung gelten von „une des villes les plus laides qu‘il m‘ait été donné de voir.“ Hier jedoch holpert es gewaltig.
[6] Was insofern eine nicht ganz ernstzunehmende Tätigkeit war, als dass er angesichts der ausufernden Schopenhauer-Zitate, einfach die deutsche Originalfassung abschreiben konnte.
[7] https://www.dw.com/de/pornografie-und-politik-michel-houellebecqs-neuer-roman-serotonin/a-46974982
[8] Die bestübersetzten Werke Houellebecqs sind jene von Uli Wittmann übersetzten: Elementarteilchen, 1999; Plattform, 2002; Die Möglichkeit einer Insel, 2005; Karte und Gebiet, 2011. Norma Cassaus gelungene Übersetzung von Unterwerfung lief eher außer Konkurrenz, da das Werk selbst vor allem sprachlich eine Außenseiterrolle einnahm.
[9] https://www.tagesspiegel.de/kultur/serotonin-von-michel-houellebecq-die-letzte-karte-spielen/23829752.html
[10] https://jungle.world/artikel/2019/03/der-sexpositive-mann
[11] https://www.dw.com/de/pornografie-und-politik-michel-houellebecqs-neuer-roman-serotonin/a-46974982
[12] https://www.merkur-zeitschrift.de/2019/01/16/poetik-des-macronismus-michel-houellebecqs-serotonin/
[13] Hier mit „Schwuchtel“, später mit „Homo“ übersetzt.
[14] Schon in Elementarteilchen stellt dies einen wesentlichen Aspekt des Verständnisses dar.
[15] https://jungle.world/artikel/2019/03/der-sexpositive-mann
[16] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/brutal-drastisch-und-vulgar
[17] Zu offensichtlich ist die Verbindung zur Kritik Wildes und Kraus´, nur dass die Prostitution des Geistes nicht mehr nur für den Journalismus, sondern eine ganze Klasse gilt.
[18] Dass man nicht überrascht sein konnte angesichts der Gelbwesten, hat Uli Krug schon 2017 herausgearbeitet: http://redaktion-bahamas.org/artikel/2017/76-hoffnungen-eines-trittbrettfahrers/
[19] Ein Satz, der durch die Versalien-Setzung des ersten Teils völlig zerrissen wird:
„ES IST EINE KLEINE WEISSE, ovale, teilbare Tablette.“
[20] https://www.derstandard.de/story/2000095516719/michel-houellebecq-der-partyschreck-der-literatur-zeigt-in-serotonin-seine
[21] https://www.sueddeutsche.de/kultur/michel-houellebecq-serotonin-rezension-1.4274668
[22] MEW 4, S. 457f
Man vergleiche auch Engels Vorwort zur amerikanischen Publikation dieser Rede unter dem Titel „Schutzzoll und Freihandel“ (MEW 21, S. 360-375), das ebenfalls sehr konkret die Rolle der beiden ökonomischen Wege betrachtet, und eindeutig unter der Perspektive der notwendig eintretenden Revolution steht: „Wenn heutzutage ein Land den Freihandel annimmt, so wird es das sicher nicht den Sozialisten zu Gefallen tun, sondern weil der Freihandel eine Notwendigkeit für die industriellen Kapitalisten geworden ist. Verwirft es aber den Freihandel und hält fest am Zollschutz, um die Sozialisten um ihre erwartete soziale Katastrophe zu prellen, so ist niemand mehr geprellt als es selbst.“ Selbst die Befürworter des Freihandels hätten sich vor einiger Zeit noch nicht ausmalen können, dass sich der Freihandel einmal gegen Europa selbst richten könnte. Manch einem mag es als gerechte Strafe des Westens erscheinen. Und doch heißt die ideologische Parteinahme für den Freihandel heute in erster Linie Parteinahme für China und massive Ausbeutung in der Dritten Welt inklusive der dort herrschenden politischen Barbarei, oder in den Worten Macrons: „Die Alternative rechts oder links ist überholt, unsere Bewegung ist vor allem eins – progressiv.“ Angesichts solcher Auslassungen sollte man sich nicht allzu lustig machen, wenn heute jemand sagt: „Mit einem Wort, das System des Protektionismus ermöglicht ein Innehalten. Und nur in diesem konservativen, wie potenziell revolutionären, Sinne, meine Herren, stimme ich für den Protektionismus.“
[23] Auch dieser Name ist wieder kein Zufall, sondern eine Definition des Adels aus amals „tapfer“ und rihhi „reich“. Dass dessen Träger völlig verarmt und suizidal ist, konterkariert den nahezu epigraphischen Satz „Er war mit der Waffe in der Hand gestorben, um den französischen Bauernstand zu verteidigen, was zu jeder Zeit die Aufgabe des Adels gewesen war.“ Der reelle Nachname d'Harcourt hingegen gemahnt hier vor allem an Francois-Charles d'Harcourt, der in der Zwischenkriegszeit die agrarfaschistischen „Comités de défense paysanne“ bzw. „Grünen Hemden“ finanzierte, welche stark antisemitische Tendenzen aufwiesen. Ihr Feindbild schlechthin war die Familie Dreyfus. Der Familienname erschöpft sich darin zwar keineswegs, liefert aber eine in den Besprechungen völlig missachtete Reflexionsebene. Zu den „Grünen Hemden“ vergleiche vor allem: Paxton: Le Temps des Chemises Vertes. révoltes paysannes et fascisme rural 1929-1939. Éditions du Seuil, Paris 1996.
[24] https://www.zeit.de/2019/04/michael-houllebecq-neue-rechte-nationalismus/komplettansicht
„In der gesinnungsethisch so superfein justierten Publizistik unserer Zeit müsste man solche frohen Botschaften geißeln wie Pest, Cholera und Gauland zusammen,“ heißt es dort weiter, worin sich die ganze Menschenverachtung erweist.
[25] Schon in seinem Nachwort zu Valerie Solanas „SCUM Manifesto“ hieß es: „Der Mann ist ein mit einem Maschinengewehr bewaffneter Affe.“ (Interventionen. S. 134)
[26] Thomas Hanke, der Macron-Ideologe, „entlarvt“ die mangelnde Erwähnung des angeblichen Frauenhasses als Verschwörung der Medien, die sich bequemerweise auf eine Person zurückführen ließe: „Brav loben viele französische Kritiker „Serotonin“, wie es von ihnen erwartet wird. Houellebecqs Verlag Flammarion gehört zu einer Gruppe, die im Eigentum des Prestigeverlags Gallimard und von Frankreichs reichstem Mann Bernard Arnault ist. Die machen „la pluie et le beau temps“, wie man in Frankreich sagt, sind also Herren des Regens und des Sonnenscheins im französischen Kulturbetrieb – zumindest in finanzieller Hinsicht.“ (https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/buchrezension-houellebecqs-neuer-roman-serotonin-freibrief-zum-saurauslassen/23873926.html?ticket=ST-1669068-AFWuLS5ZEqdSZgryCOJg-ap1) Im selben Artikel mokiert man sich über „Verschwörungstheorien, mit denen er das Bauernsterben in Frankreich erklärt“. Wer nun selbst den Niedergang der Agrarwirtschaft, welche durchaus in Suiziden von Bauern sich widerspiegelt, mit einem Wort belegt, das assoziativ eindeutig an das ominöse Bienensterben gemahnt, kann auch ganz germanisch schreiben: „„Serotonin“ spiegelt den Gemütszustand vieler Franzosen wider: Ob Frauen oder Klima, man möchte wie Donald Trump die Sau rauslassen, gleichzeitig aber systemkritisch erscheinen.“
[27] Auch für den Zusammenbruch der Milchquoten ist übrigens vor allem die quotenüberschreitende Überproduktion des proeuropäischen Deutschlands verantwortlich.
[28] Bisher waren, wenn dann nur Jugendliche sexuelle Objekte in den Romanen des Autors. „Erstmals“ stimmt insofern nicht ganz, da Houellebecq schon in den späten 90er Jahren einen Essay über die Pädophilie veröffentlicht hatte, in dem er unter einer äußerst empathischen Parteinahme für den Pädophilen, die Pädophilie verurteilte. (Houellebecq: Die Frage der Pädophilie. In. Ders.: Interventionen. S. 127-131)
Besonders fatal an diesem Aufsatz ist hingegen, dass Houellebecq die Verurteilung der Pädophilie nur über die Leugnung der kindlichen Sexualität gelingt, indem er also die Latenzperiode mit der Kindheit identifiziert, und damit direkt Teil hat an der Tabuisierung, die er selbst kritisiert. Völlig zurecht nämlich schloss er seinen Aufsatz mit den Worten: „Das hält mich nicht davon ab, es lächerlich zu finden, wenn bei Affären mit sechzehn- oder siebzehnjährigen Mädchen von Pädophilie die Rede ist.“ Um nicht missverstanden zu werden: In der Trennung von Kindheit und Adoleszenz hat Houellebecq in Bezug auf eine Reflexion des Strafrechts als auch in der Beschreibung der Pathologie der Pädophilie natürlich die Argumente auf seiner Seite.
[29] http://www.taz.de/!5560852/
[30] http://www.taz.de/!5560852/
[31] In der Szene, in der der Protagonist mit seinem Gewehr auf einen Vogel zielt, ihn jedoch nicht erschießen kann, sondern nur weiter mit seinem Zielfernrohr beobachtet, wird er quasi selbst zum Ornithologen, worin die Grundlage der Empathie in der partiellen Identifikation erkannt wird.
[32] Wer sich an den Ausführungen Houellebecqs allzu sehr stört, möge endgültig auf jede Referenz auf Adorno verzichten, der in „Sexualtabus und Recht heute“ den „Minderjährigenkomplex“ massiv und viel schärfer als Houellebecq kritisierte.
[33] https://platypus1917.org/2018/06/22/den-ganzen-ballast-einer-missgluckten-geschichte-abwerfen/
[34] http://versorgerin.stwst.at/artikel/aug-30-2018-2144/hegemon-und-gegenhegemon-als-handelspartner
Potenziell ist ihm jedoch jeder, der nicht nur von Außenpolitik redet, schon ein Faschist.
[35] https://www.falter.at/falter/rezensionen/buch/763/9783832183882/serotonin
[36] https://www.nzz.ch/feuilleton/michel-houellebecq-zeigt-seinen-lesern-den-finger-ld.1449337
[37] Die Besprechungen scheinen sich mit einer Deutung des Endes äußerst schwer zu tun, dabei nennt der Erzähler es selbst eine „Autofiktion“. Und doch liest man; „Wenn sich der Suizid am Ende dieses Romans ankündigt,“ (https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/buecher_aktuell/1012150_Auf-den-Spuren-von-Thomas-Bernhard.html?em_cnt_page=3) ; „dem bevorstehenden Selbstmord aus einem Wolkenkratzer“ (https://oe1.orf.at/artikel/654064); „Das Ende bleibt dabei hinreichend offen.“ (https://jungle.world/artikel/2019/03/der-sexpositive-mann); und so weiter und so fort.
[38] Anleihen bei Proust sind ferner die verstreuten Madeleine-Momente, hier vor allem Orte, die ein ähnliches Licht aufweisen, wie in der glücklichen Vergangenheit.