Marx und der Weltmarkt

Gerhard Scheit über die links- und rechtspopulistische Sehnsucht nach dem »geschlossnen Handelsstaat«.

Nach Marx bildet jedes Land einen ihm eigenen Durchschnitt in der zur Produktion einer Ware nötigen Arbeitszeit aus; ja dieser kann überhaupt nur auf einem nationalen Markt entstehen, also in einem bestimmten Staat und Währungsraum, nicht unmittelbar auf dem Weltmarkt. Das Wertgesetz als solches gilt »in einer gegebnen nationalen Gesellschaft«. Erst unter dieser Bedingung kann die notwendige Modifizierung in seiner »internationalen Anwendung« auf dem Weltmarkt begriffen, kann überhaupt von seiner Anwendung auf dem Weltmarkt gesprochen werden.

Wenn Marx im dritten Band des Kapital sagt, es sei »bei der ganzen kapitalistischen Produktion immer nur in einer sehr verwickelten und annähernden Weise, als nie festzustellender Durchschnitt ewiger Schwankungen, daß sich das allgemeine Gesetz als die beherrschende Tendenz durchsetzt«, dann hat er im ersten Band bereits gezeigt, dass es das allgemeine Gesetz nur geben kann, weil die »Privatarbeiten« bzw. konkreten Arbeiten, indem die »verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte« gleichgesetzt werden, allesamt in der »abstrakt menschlichen Arbeit« verschwinden; nichts von ihnen übrig bleibt »als dieselbe gespenstige Gegenständlichkeit«, in die »kein Atom Naturstoff« eingehen kann; oder anders gesagt: weil die Synthese der Gesellschaft darin besteht, dieses Verschwinden und diese gespenstische Gegenständlichkeit in irgendeiner Weise, letztlich aber in Gestalt des Geldes, anzuerkennen, auch ohne sie zu begreifen – also real zu abstrahieren, ohne mit Bewusstsein zu abstrahieren: »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.«

So wenig demgemäß der Durchschnitt der zur Produktion der Ware nötigen Arbeitszeit sich empirisch fixieren lässt, vielmehr als »werdendes Resultat« angenommen werden muss, um das Gesetzmäßige zu erkennen, so sehr verdankt er sich jedoch vom Souverän festgesetzter, empirisch möglichst genau fixierter Grenzlinien, auf die jedes Individuum mit aller Gewalt hingestoßen wird: als immer schon gewordenes Resultat. Wenn die Staatsgewalt eines bestimmten Staats die Existenz anderer Staaten voraussetzt, dann das Wertgesetz die von dieser Staatsgewalt geschaffenen Hoheitsgrenzen beziehungsweise die durch eine bestimmte Währung begrenzten Märkte. Auf dem Weltmarkt bilden nun diese »nationalen Durchschnitte«, so Marx, eine »Stufenleiter« – da es keinen Weltsouverän geben kann, erfolgt hier letztlich auch keine Durchschnittsbildung: »Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. … Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt.« Der Ort dieses Vergleichs ist der Weltmarkt.

Wesentlich an dieser Bestimmung der Intensität der Arbeit im Unterschied zu der ihrer Produktivität ist, dass sie ausschließlich auf abstrakte Arbeit, also die Substanz der Werte zu beziehen wäre (die der Produktivität indessen auf alle Faktoren im Produktionsprozess). Sie betrifft das konstante Kapital (Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand), das angewandt wird, insofern in ihm »vergangene Arbeit« enthalten ist (was der Unternehmer in Form der Kosten für Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand berappen muss): Erhöhung der Intensität bedeutet, dass die Arbeitskraft (die selbst dem Arbeitsmittel und dem Arbeitsgegenstand entsprechend ausgebildet sein muss) mit größerem konstanten Kapital produziert: es wird deshalb in derselben Zeit des aktuellen Produktionsprozesses mehr von dem aus vergangener Arbeit herstammenden Wert »zugesetzt«. Was Wert ist und was nicht, findet sich allerdings durch den Austausch der Waren bestimmt, die Anerkennung der Messung der durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit und damit der Intensität der Arbeit erfolgt »nur vermittels des Geldes«. Hier entscheidet sich, ob Wert überhaupt zugesetzt worden ist, ob der jeweilige Anteil der Arbeitszeit »als Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt wird« (Michael Heinrich). Aber das kann kein Argument dafür sein, den Wertbegriff selbst gleichsam außerhalb der Produktion anzusiedeln. Private Produktion und Gesellschaftlichkeit des Warentausches sind vielmehr aufeinander zu beziehen, ist doch auch die Produktion hinsichtlich dessen, wie viele Arbeitskräfte welcher Qualifikation mit welchen und wie vielen Arbeitsmitteln und Arbeitsgegenständen wie lange arbeiten müssen, an sich nach Maßgabe dieses Tausches geregelt – auch wenn sie ihr im einzelnen Fall, wenn es zum Austausch kommt, dann doch nicht entsprochen haben wird. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie den Produktionsprozess, wenn sie von Wertbildung in ihm spricht, mit Bewusstheit durch die Zirkulation hindurch, die ihm notwendig vorangeht wie folgt, zu betrachten weiß, und so kann auch die Frage der Intensität der Arbeit nur in der Einheit von Zirkulation und Produktion überhaupt gestellt werden.

Die Antwort darauf gibt jedoch keine Auskunft darüber, was man als die jeweilige Intensität von Ausbeutung bezeichnen möchte. Zum Gespenstischen der Wertgegenständlichkeit gehört nicht zuletzt, dass zwar »Hand, Muskel, Nerv, Hirn usw.« zum Einsatz gekommen sein müssen, aber so fraglos jene Messung der durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit anerkannt wird, so fragwürdig bleibt es, einen Grad der Ausbeutung durch die Intensität der Arbeit ermessen zu wollen. Marx identifiziert zwar die Intensität der Arbeit mit der Intensität von Ausbeutung, wo über die konkreten Bedingungen des Produktionsprozesses, den Einsatz von Maschinen, also auch physische und psychische Belastung gesprochen wird: Intensivere Arbeit bedeutet größere Anspannung und verlangt daher von sich aus einen kürzeren Arbeitstag als weniger intensive, sonst kann sie gar nicht geleistet werden. Oder umgekehrt, wie Marx ebenfalls die Kausalität zu bestimmen sucht: sobald der Staat den Arbeitstag verkürzt oder aufgrund des Drucks der Arbeiterklasse verkürzen muss, fördert er indirekt die »Intensifikation der Arbeit«. Das bedeutet aber, selbst hier kann Kriterium nur sein, ob und wieviel Wert zugesetzt wird und nicht, welchen Grad jeweils nach Maßgabe gerechten Tausches die Ausbeutung erreichen würde. Ausbeutung lässt sich nicht quantifizieren. Es geht nicht um ihr Maß, sondern darum, dass sie aufhören soll.

Der springende Punkt beim Begriff Arbeitsintensität ist derselbe wie bei dem abstrakter Arbeit: Als Substanz des Werts ist sie vollständig zu trennen von dem am Fabrikalltag orientierten Nachweis einer mechanischen oder arbeitsteilig zerstückelten oder inhaltlich leeren, in dieser Weise vor dem Hintergrund handwerklicher Arbeit ‚abstrakter‘ gewordenen, aber als physiologischer Vorgang aufgefassten Tätigkeit. Jeweils intensivere Arbeit heißt im Sinne dieser Trennung nichts anderes, als dass durch Entwicklung der Produktivkräfte jeweils mehr Wert produziert wird – durch dieselbe Entwicklung der Produktivkräfte, die in derselben Konkurrenz der Unternehmen zugleich erzwingt, Arbeitskraft durch Technologie zu ersetzen, und damit wiederum Mehrwert insgesamt verringert.

Soweit nun im Kapital im Zusammenhang mit der Zirkulation auf dem Weltmarkt von den »internationalen Werten« der Waren die Rede ist, wird vorausgesetzt, dass es sich um den Vergleich verschiedener Stufen nationaler Arbeitsintensität handelt, die sich hier »in einer unbegrenzten«, das heißt: von einer einzelnen Nation nicht begrenzten »Reihe verschiedner Gebrauchswerte« darstellen. Umgekehrt ist es die durchaus begrenzte Reihe der Gebrauchswerte, in der sich die nationale Arbeitsintensität innerhalb der Nation selbst darstellt, die gerade den Schein erzeugt, dass die konkreten Arbeiten nicht vollständig in jener gespenstischen Gegenständlichkeit verschwinden, sondern dieses Abstrakte der Wertsubstanz in der mechanischen, zerstückelten, inhaltlich leeren aber doch physiologisch wahrzunehmenden Tätigkeit liegen müsste. Nur im Horizont nationaler Arbeitsintensität kann die Illusion aufrechterhalten werden, es handle sich um keine völlige Verselbständigung des Werts als Kapital, und nur so können die der »Intensifikation« unmittelbar Ausgesetzten im Angesicht des Souveräns noch immer sagen: »Wir sind das Kapital«, denn wir machen all diese mechanische, zerstückelte, inhaltlich leere und so gesehen abstrakte Arbeit, die trotz der stets vielbeschworenen Automatisierung und Digitalisierung nicht zu verschwinden sich anschickt. Mit anderen Worten: Erst die Reflexion auf den Weltmarkt ermöglicht der Kritik der politischen Ökonomie einen radikalen Begriff abstrakter Arbeit, der sich von der Illusion befreit hat, die konkreten Arbeiten könnten als konkrete in der Substanz des Werts aufbewahrt und damit auf gerechte Weise gegeneinander getauscht werden.

Nullzeit des Kapitals

Die Anerkennung der Messung durch die jeweils durchschnittlich notwendig gewesene Arbeitszeit und damit des jeweiligen nationalen Durchschnitts der Intensität der Arbeit erfolgt auf dem Weltmarkt ebenfalls vermittels des Geldes, sie erfolgt aber hier notwendig im Verhältnis der Währungen beziehungsweise der Handelsbilanzen verschiedener Staaten zueinander.

Die Unternehmen konkurrieren demzufolge auf dem Weltmarkt nicht unmittelbar wie auf dem nationalen Markt, sondern immer als Teile des Gesamtkapitals einer bestimmten ‚Volkswirtschaft‘ mit einem jeweils bestimmten Durchschnittsniveau gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Innerhalb eines Staats lässt sich also nicht nur eruieren, in welcher Region etwa die Ware profitabler hätte produziert werden können, sondern es resultiert hier aus zwei verschieden großen Quanta verschiedenenorts jeweils nötiger Arbeitszeit automatisch ein Quantum mittlerer Größe überall nötiger Arbeitszeit, das sich unmittelbar im Wert der Ware ausdrückt, wie er sich auf nationalen Märkten realisiert – also in deren vom jeweiligen Staat selbst durch Zölle, Quoten etc. begrenztem, »engen Kreis von Gebrauchswerten«, worin sich eben in diesem Fall der Wert der Arbeit darstellt.

Auf dem Weltmarkt indessen existiert die Stufenleiter der nationalen Durchschnitte fort, so wandelbar sie auch ist, so groß der Druck auch ist, der von den Weltmarktpreisen ausgeht, die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit zu senken. Sie existiert, weil das Kapitalverhältnis die Existenz einander entgegengesetzter Staaten zur Bedingung hat. Jeder von ihnen kann mit Zöllen und Einfuhrquoten, Subventionen und Steuern, schließlich auch geld- und währungspolitischen Maßnahmen (Leitzins, Auf- und Abwertungen) jenen Druck abfedern und so eine bestimmte Stufe auf der Stufenleiter der nationalen Durchschnitte einnehmen (die Probleme, die sich daraus für Staaten innerhalb einer Währungsunion ergeben, sind evident und werden von der Europäischen Union laufend exponiert).

Daraus ergibt sich von vornherein weder die Unumkehrbarkeit einmal entstandener nationaler Gefälle in der Arbeitsintensität, noch die Aussicht, ihre unterschiedlichen Niveaus durch internationalen Handel in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen. Vielmehr folgt aus der Marxschen Auffassung des Weltmarkts, dass keine »nationale Gesellschaft«, so viele Zollbarrieren und Handelshemmnisse sie auch errichten, soviel sie die Produktion auch subventionieren und ihre Währung abwerten mag, auf ihrer Stufe der Intensität verharren könnte, während die der anderen sich angehoben finden, um der in den Weltmarktpreisen sich niederschlagenden stets wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals gerecht zu werden. Denn in diesem Fall würden ihre Unternehmen auf dem Weltmarkt bald überhaupt keinen Wert mehr realisieren können und hätten darum auch kein Geld mehr, auf ihm einzukaufen. So ist die Stufenleiter selbst nur als eine sich immerzu neu bildende, in diesem Sinn als ein Prozess zu begreifen. Um welche Himmelsleiter es sich hier aber handelt, hat Marx schon in den Grundrissen klargemacht, wo es heißt, die Zirkulationszeit ist das die Produktionszeit bestimmende Moment – aber »Zirkulation ohne Zirkulationszeit« ist zugleich »die notwendige Tendenz des Kapitals«. Joachim Bruhn schreibt mit Hinweisen auf diese Stelle wie auf den zweiten Band des Kapital: »Jede Zeit, die vergeht, ist jedenfalls zuviel Zeit gewesen … Alle Akkumulation kann sich nur in der Zeit vollziehen, aber jede Stunde, die sie braucht, wird eine Stunde zuviel gewesen sein. Das ist das grundlegende Dilemma, weswegen Marx im zweiten Band des ‚Kapital‘ sagt, daß die Zeit des Kapitals ihrem Begriffe nach die Nullzeit ist, d.h. die Aufhebung und die Vernichtung jedweder Zeit: ‚Je mehr die Zirkulationsmetamor-phosen des Kapitals nur ideell sind, d.h. je mehr die Umlaufszeit = 0 wird oder sich Null nähert, um so mehr fungiert Kapital, um so größer wird seine Produktivität und Selbstverwertung.‘«

Von dieser Ausrichtung auf die Nullzeit weiß im Grunde jeder, nur spricht man heute mit feuilletonistischem Gehabe lieber davon, dass die Algorithmen die Herrschaft übernehmen. Welche »gegebne nationale Gesellschaft« aber das Vernichtungspotential in die Tat umsetzt, dass durch diesen vom Kapital selbst festgelegten Fluchtpunkt der Nullzeit prinzipiell vorhanden ist, lässt sich indessen keineswegs davon ableiten, wie nahe sie ihm jeweils auf der Stufenleiter der Arbeitsintensität kommt, die auf die Umlaufzeit = 0 ausgerichtet ist.

Kapitalexport und ‚multinationale‘ Konzerne

Daran, dass die Unternehmen auf dem Weltmarkt nicht unmittelbar wie auf dem nationalen Markt konkurrieren, ändert auch nichts der Kapitalexport entweder in Form von Beteiligungen an Firmen oder Gründung von Tochtergesellschaften zu dem Zweck, eben dort die günstigeren Durchschnittsprofitraten zu nutzen wie einfach nur besserer Bedingungen für den Export in jenes Land habhaft zu werden. Bei der Frage, für welches Land das jeweilige Kapital weltweit konkurriert, kommt es auf den Rückfluss der Profite zum Mutterunternehmen an bzw. das Faktum, wo die Entscheidungen über die weiteren Investitionen getroffen werden. Befindet sich hingegen umgekehrt die Mehrheit der Aktien eines Unternehmens nicht mehr in der Hand inländischer Aktionäre oder wird das Unternehmen von einer ausländischen Holding übernommen, so heißt das noch nicht, dass es nun auch als ein ausländisches auf dem Weltmarkt konkurriert. Allerdings kann in diesem Fall der Vorstand der Aktiengesellschaft oder der Holding darüber entscheiden, ob es weiterhin ein Unternehmen desselben Landes bleibt oder ob sein Hauptsitz ins Ausland wechselt.

Der Staat versucht immer wieder mit wechselndem Erfolg den Kapitalexport auch zu beschränken, um Arbeitsplätze und Steuereinnahmen zu sichern – hier bemüht er sich umgekehrt ebenso um den Kapitalimport –, und um zu verhindern, dass der Warenexport selbst nicht ins Hintertreffen gelangt und dadurch zusammen mit dem Kapital- und Warenimport das Handelsdefizit zu groß wird. Auf einem andern Blatt steht freilich, dass die Außenhandelsmaßnahmen, die der Deindustrialisierung entgegenwirken sollen, nicht anders als die keynesianischen Maßnahmen insgesamt immer wirkungsloser werden – selbst wenn es sich um den Welthegemon handelt, also einen Staat mit einer hegemonialen Währung, die es ihm erlaubt, sich eben darin zu verschulden. Abhilfe schafft hier nur ein Weltkrieg, würde das Kapital sagen, wenn es sprechen könnte – aber auch nur dann, wenn es mit einer Stimme sprechen könnte und in die Zukunft schauen.
In anderer Hinsicht ist freilich das grundsätzliche Verhältnis zwischen Souverän und Kapital gerade im Fall des Hegemons am deutlichsten ausgeprägt, denn Hegemonie im Sinne der USA beruht (bisher wenigstens) wesentlich darauf, die Kapitalakkumulation durch die Öffnung von Absatzmärkten zu fördern. Die Linke empört sich seit jeher über die außerterritoriale Anwendung des Trading-with-the-Enemy-Gesetzes und der Anti-Trust-Gesetze. Die US-Regierung setzt aber damit ihre Interessen nicht zuletzt gegen Regierungen durch, die – wie heute vor allem die chinesische und mit ihr zusammen bald auch die deutsche – die Expansion auf dem Weltmarkt anders als die USA nur in zweiter Linie zum Zweck der Kapitalakkumulation vorantreiben, in erster Linie aber als Möglichkeit, über sie wieder unmittelbar politische Abhängigkeiten zu schaffen, die an seine Stelle treten können.

Transzendierter Tausch

Marx begreift den auswärtigen Handel als »innere Notwendigkeit« kapitalistischer Produktionsweise. Aber was nützt es, auf ihn gestützt den »geschlossnen Handelsstaat« – wie Fichte ihn am Beginn der Industrialisierung den Deutschen ans Herz legte – als Contradictio in adjecto abzutun, wenn Nationalsozialismus und ‚Sozialismus in einem Lande‘ mit Primat der Großraumpolitik beziehungsweise Außenhandelsmonopol eben darauf die Probe gemacht haben? Der Versuch, Autarkie – sei’s im Namen des industriellen Kapitals oder sei’s in dem irgendeiner Praxis von Subsistenzwirtschaft – gegen den Weltmarkt zu forcieren (eben dazu dient heute der Kampfbegriff ‚Neoliberalismus‘), bedeutet nicht nur Regression, wie Marx sie bereits in den Grundrissen – als wollte er auf Fichtes Schrift replizieren – in einem drohenden »auf Bluturenge, Natur und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse gegründeten nur lokalen Zusammenhang« andeutet. Er förderte zugleich Barbarei in einem Ausmaß und in einer Intensität, die auch die barbarischste Vergangenheit noch gar nicht gekannt hatte. Das hat die deutsche Politik sich vollständig zum Inhalt gemacht, die den äußeren Zerfall des Weltmarkts als inneren Auftrag zum Vernichtungskrieg gegen das »internationale Finanzjudentum« verstand.

Für die heutige Situation wäre darum als Indikator aufzufassen, ob die von den Linkspopulisten so genannten Rechtspopulisten den Imperativen des Weltmarkts folgen müssen – entgegen ihrer von deutscher Ideologie geerbten, mehr oder weniger ausgeprägten Sehnsucht nach Autarkie. Solange sie just einer Wirtschaftspolitik nachgehen, die linke Agitation als neoliberalen Teufel an die Wand malt, und ihnen alles andere – von propagandistisch wirksamen Restriktionen in Migrationsbelangen abgesehen – vom Weltmarkt verbaut wird (was unmittelbar in der vielbeschworenen Macht der internationalen Finanzmärkte zum Ausdruck kommt), ist die Gefahr einer Wiederkehr jener Katastrophenpolitik noch gebannt. Ganz anders stellt sich die Situation von den erdölexportierenden Ländern aus dar: Deren Sonderstellung auf dem fortbestehenden Weltmarkt ermöglicht eine Art Surrogat für Autarkiepolitik, und dieses Surrogat zeigt seine verheerende Wirkung in dem davon finanzierten Djihad, den der Islam weltweit im ‚Haus des Krieges‘ führt.

So gilt für den Weltmarkt in ganz besonderer Weise, was Adorno für die Gesellschaft im Allgemeinen festhielt: »Annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch.« Das schlechthin Unvernünftige, das darin besteht, den inneren Sinn der Zeit zum äußeren der gesellschaftlicher Synthesis zu machen und darauf die Messbarkeit des substantiell Verschiedenen zu begründen, erscheint unter einem einzigen Gesichtspunkt als Vernünftiges: dass es abgeschafft wird, aber in einem der unmittelbaren Aneignung und Gewalt genau entgegengesetzten Sinn, in dem Sinn nämlich – und darin liegt doch die Pointe des Marxschen Kapital –, in dem es selbst durch den Zwang, die »Privatarbeiten«, die jeweils konkrete Arbeit, überflüssig zu machen, seine eigenen Voraussetzungen untergräbt. Seine Abschaffung folgte keinem Zwang, sondern im Gegenteil der Einsicht, dass es ihn nicht geben darf.

Kurzer Auszug aus einem Artikel, der im Frühjahr in der sans phrase Nr. 14 erscheint.

Gerhard Scheit lebt als freier Autor in Wien. Er ist Mitbegründer der ideologiekritischen Zeitschrift sans phrase und veröffentlicht zu zahlreichen Themen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie, darunter besonders zur Kritik der politischen Gewalt, der Kritik der politischen Ökonomie und der Kritik des Antisemitismus. Im August 2022 erschien sein neues Buch »Mit Marx. 12 zum Teil scholastische Versuche zur Kritik der politischen Ökonomie« im ça ira-Verlag.

Bildquelle: Deutsches Museum
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