Vor wenigen Monaten hatte ich eine hitzige Diskussion mit einer Kollegin aus dem Unibetrieb. Thema: queer_feministische Studierende und ihre gegenwärtig sehr lauten Forderungen danach, dass die Universität ein safe space werde, in dem die Diskriminierungen, (Mikro-)Aggression und strukturelle Gewalt, die die Welt draußen maßgeblich kennzeichnen und die sie dort ständig verletzen, keinen Platz haben. Meine Gesprächspartnerin war mit diesen Forderungen unzufrieden; mehr noch: sie ärgerte sich über sie. Die Provokation lokalisierte sie nicht im Wunsch der Studierenden nach Antidiskriminierung an sich, sondern im ihrer Ansicht nach zahnlosen Politikverständnis, das der Forderung nach einem safe space innewohne: anstatt die Gewalt der Welt zu facen und sich in einer harschen, aber immer noch demokratischen politischen Öffentlichkeit kämpferisch die Zähne auszubeißen, so ihre These, wären safe spaces reiner Eskapismus, der eher Opfer-/Ohnmachtsdiskurse hervorbringen würde als tatsächliches Empowerment. Sie berichtete auch von einem lustigen (weißen, männlichen) Kollegen, der sich in einem privaten Austausch neulich augenverdrehend einen ‚Schutzraum vom safe space’ herbeigewünscht hätte, in dem er endlich wieder alles so bringen könne, wie er es wolle. lol?
Ich erzähle so ausführlich aus einem unter vier Augen geführten Gespräch, weil es eine politische Stimmung illustriert, die ich vor allem im universitären Kontext breit geteilt sehe, und gegen die ich mich entschieden aussprechen möchte. Weil ich sie für nicht angebracht, automatistisch und beengend halte. Und weil sie mich meinerseits provoziert und traurig macht. Was ich nämlich hier kleingeredet sehe, ist nichts weniger als sämtliche Bemühungen, Utopiearbeit zu leisten, oder, in den Worten Bini Adamczaks: die Fähigkeit und den Platz dafür zu entwickeln, sich »eine Welt ohne das vergangene und heutige Unglück überhaupt nur vorzustellen« (Adamczak 2018, 24). Ich erlebe solche Bemühungen grade als bisweilen sehr unmittelbar wirkende politische Praxis, besonders wenn es um safe spaces geht: zum Beispiel auf Shows, die ich spiele oder zu denen ich als Publikum komme. Oder auch: bei Veranstaltungen, die ich an Universitäten halten oder besuchen darf. Und bei denen klar ist, dass es Konsequenzen hat, wenn Menschen ungefragt und uneingeladen die (körperlichen und sonstigen) Grenzen anderer Personen überschreiten. Bei denen ich mich drauf verlassen kann, dass sich alle inklusive mir bemühen, möglichst wenig verletzende, mit Hass aufgeladene Begriffe zu verwenden, wenn wir mit- und übereinander sprechen. Bei denen Menschen sich nicht nur eingeladen, sondern auch in die lustvolle Pflicht genommen fühlen, anderen Menschen Differenzmarker wie etwa Geschlecht (und damit Annahmen über Fähigkeiten, Vorlieben, Denkweisen etc) nicht automatisch zuzuschreiben. Bei denen unterschiedliche Situiertheiten, und die damit einhergehenden unterschiedlich leicht oder schwer zu erlangenden Zugänge einer Person zum Handeln, Erscheinen, Entscheiden nicht ignoriert, aber auch nicht ewig wiederholt performt und damit festgeschrieben werden. In denen ich eher damit rechnen kann, dass mir mit Unterstützung, Empathie und Solidarität begegnet wird, als dass ich als Konkurrent_in im Kampf um vermeintlich knappe Ressourcen (Geld, Platz, Zeit, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Liebe) wahrgenommen und behandelt werde. Und so weiter. All das macht meiner Ansicht nach utopische Räume auf: Es eröffnet Orte, die es noch nicht gibt; für die, die ein besseres Leben ausprobieren wollen und schönere Umstände, als die, die gerade herrschen. Und zwar jetzt und gleich. Was könnte ich davon – wenn ich mich als links begreife – eigentlich nicht wollen? Wie kann mich das überhaupt provozieren?
Mit der US-amerikanischen Soziologin Avery Gordon gedacht, speist sich eine solche Provokation auch daraus, dass utopischem Begehren in vielen universitären linken Diskursen – sie bezieht sich konkret auf Geistes- und Sozialwissenschaften im englischsprachigen Raum ab den 1990er Jahren, die Diagnose ist meines Erachtens aber auch auf den deutschsprachigen übertragbar – ein skandalöser Charakter anhaftet. Utopien, so Gordon, gelten hier oft als bloße Spinnereien, die im besten Fall schlicht nicht verwirklichbar und somit politisch irrelevant sind; und im schlechtesten Fall in der Praxis zu sozialen Experimenten gerinnen, die ihrerseits neue tyrannische Verhältnisse hervorbringen und/oder bereits bestehende Ungleichheiten und Hierarchien reproduzieren. Besonders problematisch erscheint in akademischen Diskussionen (leider, aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Beitrag) nicht unbedingt die Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung von utopischen Begehrlichkeiten, sondern ihre provokante Zeitlichkeit: immer ausserhalb der Reichweite, weil immer in der Zukunft (oder – aber auch das beschäftigt mich hier nicht – im Fall von konservativen Utopien, in der vermeintlich goldenen Vergangenheit), und nie fassbar im oder als Jetzt, weil dieses Jetzt eben so ganz anders ist als das, was begehrt wird. »Utopien. Wege aus der Gegenwart« hieß zum Beispiel auch 2015 die Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft, in deren Definition Utopien in durchaus positiver Bezugnahme »konjunktivistische Entwürfe [bilden], die von den gegenwärtigen herrschenden Verhältnissen durch einen radikalen Bruch getrennt sind« (Programm gfm2015.de). Wenn dieser Bruch allerdings nur als Trennung, als »aus der Gegenwart« führend (und darüber hinaus, überhaupt: als »Weg«?) imaginiert werden kann, ergibt dies eine automatische Hoffnungs- bzw Hilflosigkeit. Dies erklärt vielleicht auch, warum viele der Titel der auf der Konferenz vorgetragenen Papers ‚Utopie’ als Synonym für einen Schas, für Schnapsideen, für komplett Unvorstellbares verwenden. Und diese damit als vielleicht interessant, aber letztlich lächerlich verhandeln.
Mit Gordon plädiere ich dafür, utopisches Begehren in einer spiraligen Verdrehung dieser Logik lieber als »Wegen in die Gegenwart« zu verstehen. »Wegen« statt »Wege«, weil ein Weg oft ein Rezept und eine Vorschreibung ist, das/die innerhalb einer Begrenzung von einem Punkt zum anderen führt, und damit jedes andere Versuchen als Abweichung vom Pfad impliziert. Statt einer solchen Linearität anzuhängen, beschreibt das »Wegen« eher die Motivation als Wichtigstes im utopischen Begehren, anstatt festzuschreiben, wie sein Ziel zu erreichen sei. Motivation könnte sein: da sich eine schlechte Gegenwart für mich oft gar nicht wie eine tatsächliche, erfüllte Gegenwart anfühlt, sondern eher wie ein ewiges Hinwarten darauf, dass es sich endlich ändert oder zumindest endet (das Leben), bringt mir Utopiearbeit, sei sie theoretisch oder in praktischen Versuchen wie in safe spaces, ein Aufblitzen eines möglichen, besseren Lebens im Jetzt, und macht meine Existenz zu einer gegenwärtigen; zu einer, in der ich mich aufhalten möchte, die ich auskosten und schätzen kann. Und etwas »in die Gegenwart« manifestieren zu wollen – im Gegensatz zu einem Voranschreiten in eine Zukunft – steht darüber hinaus für das Bewusstsein, dass Reinheitsbestrebungen – das heißt, eine klare, scharfe Trennung zwischen Altem und Neuen, zwischen Davor und Danach – in für mich begehrenswerten Utopien wenig verloren haben. Wenn Gordon uns anträgt, das Utopische als »a way of conceiving and living in the here and now, which is inevitably entangled with all kinds of deformations and ugly social habits« (2016, 14) ernst zu nehmen, ist dies auf gleich zwei Ebenen hilfreich. Zum einen räumt es mit der Vorstellung auf, eine gute Gegenwart sei mit im Bisherigen verhafteten Menschen gar nicht verwirklichbar, sondern nur durch – wie auch immer geartete – ‚Neue Menschen’ (hier illuminierend auch Adamczak: 2018, 26). In Utopien, die sich im Gegensatz dazu als verschränkt mit den ‚Deformationen und Hässlichkeiten’ der Welt entwerfen, finden auch die ‚alten’, die, wenn man so will, ‚beschädigten’ Menschen einen Platz. Zum anderen macht ein solcher Frame deutlich – und hier kehre ich konkret zum Unbehagen meiner Kollegin über safe spaces zurück – dass utopisches Begehren nicht eskapistisch ist, gar nicht eskapistisch sein kann, weil das Schreckliche, das Hässliche, das Verletzende, das, auf das sich im Allgemeinen als das Kritikwürdige an den ‚realen’ Verhältnissen geeinigt werden kann, auch auf das Begehren wirkt, in ihm eine gestaltende Rolle spielt, und durch es verhandelt werden muss. Gefaced eben. (Zum Beispiel: Jede Person, die schon mal mit grabschenden Menschen auf einer queer_feministischen Party konfrontiert war, wird sich ungefähr vorstellen können, was hier gemeint ist.) Was nicht das utopische Begehren an sich entwertet. Was aber zeigt, dass die Welt und das Leben in ihr kein Container ist, den Menschen eben mal so umdrehen, ausleeren und neu befüllen können, sondern ein großer, unübersichtlicher, komplizierter Ort, an dem viele verschiedene Dinge und Kräfte zur selben Zeit existieren und wirken können. Aber sie können wirken. Anders als total, anders als mit der Aussicht auf umfassenden ‚Erfolg’ oder gar ‚Sieg’, anders als in einer Verwirklichung von faden ozeanischen Glückszuständen, in denen letztendlich alles Politische unnötig, weil aufgehoben, ist. Und genau das klingt, für mich zumindest, nach einer aufregenden Vorstellung von politischem Herumwurschteln. Schönen 8. März.
Weiterlesen/hören/reden:
- Avery Gordon, Some Thoughts on the Utopian. In: Anthropology & Materialism [online], 3/2016, http://am/revues.org/678
- »Ich halte das anti-utopische Bilderverbot für erledigt«, Bini Adamczak im Gespräch mit Alexander Neupert-Doppel, in: Neupert-Doppel (Hg.), Konkrete Utopien. Unsere Alternativen zum Nationalstaat. Schmetterling 2018, 23-37
- Bini Adamczak spricht am 30.4. um 19h in 1010 Wien, W23 Wipplingerstraße 23 (Veranstaltet von dasque[e]r), und am 2.5. um 19h im Forum Stadtpark, 8010 Graz (Veranstaltet von Forum Stadtpark, Debating Society, D.S#10).