Sit-in und Barrikade

Robert Zwarg zur geschichtsphilosophischen Dimension zweier Protestformen.

Es ist ein bekanntes Foto. Mit ausgebreiteten, locker auf dem mit fünf Mikrofonen bestückten Rednerpult ruhenden Armen, steht der damals 69-jährige Herbert Marcuse im Jahr 1967 im Audimax der Freien Universität Berlin. Um ihn herum sitzen und hocken Studenten; einer hat den Kopf an das Pult gelehnt als würde er an einer Mauer die Sonne genießen. Thema des Vortrages sind die »Ziele, Formen und Aussichten der Studentenopposition« – und das meinte in allererster Linie die amerikanische Studentenopposition. Gegen Ende des Vortrages wechselt Marcuse von der Rolle des Theoretikers in die des Augenzeugen, wenngleich das, was er gleich beschreiben wird, wie er betont »keineswegs vereinzelt«[1] ist. Marcuse beginnt, von einer Demonstration am 15. Oktober 1965 zu erzählen, die er gemeinsam mit dem Historiker Carl Schorske und dessen Frau Liz besuchte und die von Berkeley zu Militärbahnhof im nahegelegenen Oakland führen sollte. Die Route versperrte allerdings »eine aus ungefähr zehn Reihen bestehende Barrikade schwer bewaffneter, mit schwarzen Uniformen und Stahlhelmen ausgestattete Polizei. Der Zug näherte sich dieser Polizeibarrikade, und wie immer waren an der Spitze des Demonstrationszuges einige, die schrien, man solle nicht halt machen, sondern versuchen, den Polizeikordon zu durchbrechen – was natürlich blutige Köpfe gegeben hätte, ohne zu irgendeinem Ziel zu führen.« Zu einer Konfrontation kommt es jedoch nicht. »Nach zwei, drei ängstlichen Minuten setzten sich Tausende auf die Straße. Die Gitarren, die Mundharmonikas kamen heraus, das petting, die Liebkosungen begannen und so ging diese Demonstration zu Ende. Sie können das lächerlich finden; immerhin glaube ich, daß hier noch ganz spontan eine Einheit sich hergestellt hat, die vielleicht letzten Endes ihren Eindruck selbst auf die Feindlichen nicht verfehlen wird.«[2]

Durchquerung und Verdopplung des Alltags

Dass Marcuse von dem Ereignis begeistert war, mag nicht nur mit der von ihm vermeinten leibhaftigen Vereinigung von Realitäts- und Lustprinzip, also einer Ratifizierung seiner Theorie, zu tun gehabt haben.[3] Vielleicht hielt sich der Tag in Berkeley auch deswegen in Erinnerung, weil Marcuse zumindest eine Ahnung von der Eigentümlichkeit der Protestform spürte, deren Zeuge er da wurde. Die Praxis, um die es geht, ist genau genommen eine Unterbrechung von Praxis, nämlich das fast wörtliche Aussetzen derjenigen Handlungen, die man gerade tut: das Sit-in. Das Sit-in, wie es Marcuse in einer bereits hippiesk verwandelten Spätform auf der Demonstration beobachtete, war in den 1960er Jahren ein genuin amerikanisches Phänomen, das in der medialen Erinnerung noch heute dominiert. Wenn hingegen vom »Mai 68« die Rede ist – also von Frankreich, worauf die Chiffre eigentlich zielt – dann wird gemeinhin eine ganz andere, ja vielleicht in mancherlei Hinsicht gegenstrebige Praxisform evoziert, die ebenfalls in Marcuses Bericht auftaucht, wenn auch in ihrer durch den Staat und die Polizei übernommenen, sozusagen verkehrten Variante: die Barrikade.

Zwar gehören beide zur Geschichte des modernen Protests, ihre geschichtsphilosophische Grundstimmung, also ihr telos, sind allerdings grundverschieden. Die Barrikade gehört zur Revolution, sie ist Ausdruck eines auf die offene Zukunft gerichteten Zeitbewusstseins. Zwar erscheint sie zunächst als Mittel der Verteidigung, doch sie ist deswegen nicht bloß defensiv. Denn wogegen sie sich verteidigt, ist nicht weniger als die Vergangenheit, um die Zukunft offen zu halten und zu ermöglichen. Zahlenmäßige Unterlegenheit verwandelt sie auf ihrem ureigenen Terrain, in der Stadt und ihren zuweilen engen Straßen, in Überlegenheit. Die für das offene Feld ausgelegten Taktiken werden durchbrochen, die Statik der unbeweglichen Barrikade schafft Dynamik, also Beweglichkeit, für diejenigen, die sie halten. Bekanntermaßen beginnt die Geschichte der Barrikade 1830 in der Junirevolution in Frankreich; ikonisch wird das auf und über die Barrikaden gehen durch Eugene Delacroix‘ Die Freiheit führt das Volk aus demselben Jahr. Ihren Namen erhält sie von mit Erde gefüllten Fässern (barriques).[4] Holz ist »ein archaisches Element im Straßenbild«[5], kommentiert Walter Benjamin im Passagen-Werk, aber in der Barrikade verbindet es sich mit den Baustoffen, die Paris überhaupt erst zur Stadt des 19. Jahrhunderts gemacht haben: Eisen, Beton und nicht selten auch Glas. Victor Hugo beschreibt in Les Miserables diese moderne Assemblage folgendermaßen: »Mitgewirkt hatten hier das Pflaster, der Bruchstein, der Balken, die Eisenstange, der Lumpen, die zerbrochene Fensterscheibe, der Stuhl ohne Strohsitz, der Kohlestrunk, der Fetzen, der Plunder und die Verwünschung«[6]. Gut 6000 Barrikaden soll es während der Junirevolution in ganz Paris gegeben haben. Für Auguste Blanqui – der noch heute für aufstandssehnsüchtige Insurrektionalisten als Säulenheiliger gilt und vielleicht überhaupt den Anfang einer Tradition der Romantisierung von Straßenkampf und Partisanentum bildet, waren die Barrikaden der maßgebliche Grund, warum sich die Stadtbevölkerung gegen die Königstruppen an jenen »drei glorreichen Tagen« zur Wehr setzen konnte. Im 19. Jahrhundert gehörten sogenannte Barrikadennächte zu so gut wie jeder revolutionären Erhebung; allerdings nicht ohne, dass »die Feindlichen« begannen, sich auf die neue Strategie einzustellen. In Friedrich Engels Vorwort zu Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich aus dem Jahr 1895 wirkt die Barrikade bereits anachronistisch. Sie ist nunmehr die »Rebellion des alten Stils«, so Engels, weil sich die »Bedingungen des Kampfes wesentlich verändert«[7] haben. »Das Höchste, wozu es die Insurrektion in wirklich taktischer Aktion bringen kann, ist die kunstgerechte Anlage und Verteidigung einer einzelnen Barrikade. (…) Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen.«[8] Walter Benjamin war hingegen optimistischer, auch nachdem der Präfekt Georges-Eugène Haussmann durch die Ersetzung enger Straßen durch weitläufige Boulevards versuchte hatte, die Errichtung von Barrikaden »für alle Zukunft unmöglich zu machen.«[9] In der Pariser Kommune 1871 sah Benjamin die Rückkehr einer alten Revolutions-technik: »Die Barrikade ersteht in der Kommune von neuem auf. Sie ist stärker und besser gesichert denn je. Sie zieht sich über die großen Boulevards, reicht oft bis in die Höhe des ersten Stocks und deckt hinter ihr befindliche Schützengräben.«[10] Das ist jedoch weniger als die halbe Wahrheit, denn auf dem Weg zum revolutionären Symbol hatte die Barrikade ihre militärische Funktionalität längst eingebüßt. Bei der Pariser Kommune gab es zwar einen offiziell eingesetzten Barrikaden-Rat und einen »Barrikaden-Generaldirektor«. Allerdings wurden die Barrikaden strategisch schlecht platziert und waren schwer zu verteidigen. Der Generaldirektor hatte sie nämlich, ihres hohen symbolischen Gehalts entsprechend, eher als eindrucksvolle Einzelkonstruktion konzipiert, weswegen sie schließlich einfach hinterrücks gestürmt werden konnten.

In jedem Fall ergibt es durchaus historischen Sinn, dass die Barrikaden in Paris 1968 abermals auftauchen, wenngleich man in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai statt 6000 nur noch 60 Barrikaden zählte. Und es sind auch nicht mehr Fässer, die die Straßen versperren, sondern Autos, Plakatwände, Baugitter und Pflastersteine. Der strategische Zweck ist gering. Die Barrikaden entstehen spontan, ohne Anweisung, ohne Plan. »In der Rue Gay-Lussac standen plötzlich 10 Barrikaden hintereinander! Militärisch gesehen hatte das überhaupt keinen Sinn, aber alle hatten Lust Barrikaden zu bauen«,[11] erinnert sich Daniel Cohn-Bendit. Noch in derselben Nacht werden sie geräumt und gut 500 Studenten verhaftet.

Ohne Zweifel war Marcuse die Tradition der Barrikadenkämpfe biographisch vertraut. Und vielleicht war es diese Erfahrung, die ihn umso aufmerksamer machte, für jene ganz andere Praxis, die in Berkeley der Polizeibarrikade im wörtlichen Sinne entgegengesetzt wurde. Es ist bekannt, dass die Rede vom Sit-in auch in Deutschland und anderswo umging, dass die Praxis also Vorbildwirkung hatte. Die im Deutschen an die Sprache der Verwaltung erinnernde Übersetzung »Sitzstreik« allerdings – so als müsste jeder politische Akt in letzter Instanz auf die Arbeit bezogen sein – nimmt dem Wort seine geradezu existenzialistische, also auf eine spezifische Situation konzentrierte und dadurch die Intensität der jeweiligen Tätigkeit steigernde Grundstimmung. In dem kleinen Wörtchen »in« verdichtet sich sowohl das Überschreiten einer Grenze – im legalen wie im übertragenen Sinn –, die Bewegung an einen Ort, der für diese Tätigkeiten nicht unbedingt vorgesehen ist und die notwendige Kollektivität der Praxisform, die die Situation, die das »in« bezeichnet, überhaupt erst hervorbringt. Es kommt zu einer ästhetischen und performativen Verdopplung, die dann deutlich wird, wenn man die jeweiligen Praktiken auf das, was da verdoppelt wird, zurückbezieht, also ihre gewöhnliche, alltägliche Gestalt, die durch die Beifügung des Wörtchens »in« herausgehoben und politisiert wird. Ein »Go-in« ist kein Spaziergang und keine bloße Bewegung an einen anderen Ort; ebenso ist der individuell vollzogen Liebesakt in einem Park oder einer Seitenstraße kein »Love-in«; ein schlichtes Seminar kein »Teach-in«. Anders und mit Blick auf die Barrikaden formuliert: Während die Barrikade den Alltag suspendiert und ihn im wahrsten Sinne des Wortes durchkreuzt, als Verteidigungswall von der einen Straßenseite zur anderen, ist das Sit-in der Alltag in verwandelter Form.

Darin mag auch eine ihm eigene, schon an seiner Auffächerung von seinen Anfängen bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre deutlich werdende Dynamik liegen. An der Geschichte des Sit-ins zeigt sich nämlich jenes Charakteristikum, das die amerikanische New Left von ihren europäischen Pendants unterscheidet und ihre geschichtsphilosophische Dimension durchwirkt. Zwar hat es vereinzelt frühere – und hier ist das Wort angebracht – Sitzstreiks in den USA gegeben (nämlich im Kontext der Gewerkschaften in den 1930er Jahre). Zur maßgeblichen Aktionsform wird das Sit-in aber erst in der Bürgerrechtsbewegung, allerdings in einer Gestalt, die in dem von Marcuse beschriebenen Beispiel schon nur noch vage zu erkennen ist. Bereits in dem berühmten Fall von Rosa Parks, die sich am 1. Dezember 1955 weigerte, ihren Sitzplatz in dem für Weiße reservierten Teil des Busses aufzugeben, ist eine eigentümliche, von den Barrikaden ganz verschiedene Gerichtetheit zu erkennen; eingeklagt wird das Recht im Rahmen einer Institution, die mit dem Ort und der Tätigkeit zusammenfällt. Methode und Ziel sind identisch; Sitzen-bleiben und Sitzen-können sind das, was man möchte. Nicht mehr und nicht weniger. Ganz ähnlich liegen die Dinge auch in einem weiteren berühmten Fall, fünf Jahre nach Rosa Parks und ihren Akt des Widerstands bereits zitierend. Am 1. Februar 1960 gingen vier schwarze Studenten der Technischen und Landwirtschaftlichen Universität von North Carolina in einen Laden der Firma Woolworth, kauften ein paar Dinge und setzten sich dann in dem dazugehörigen Kleinrestaurant an den »Whites only«-Tisch, wo ihnen die Bedienung verweigert wurde. Anstatt, wie aufgefordert, zu gehen, blieben sie, bis der Laden schloss und kehrten am nächsten Tag mit Dutzenden anderen Studenten zurück. Die Taktik verbreitete sich schnell in allen segregierten Bundesstaaten, zum Teil mit unmittelbarem Erfolg.

Das für Außenstehende Verwirrende und Spektakuläre lag nicht nur in dem demonstrativen Verzicht auf Gewalt, der als invertierter Spiegel die »Feindlichen«, gerade in den Fällen, als es zu Akten äußerster Brutalität kam, umso greller als die verstockten Rassisten zeigte, die sie oft waren. Sondern es muss auch jene bereits erwähnte Verdoppelung des Alltäglichen gewesen sein, das Einklagen eines Rechts durch seinen Vollzug, in Verbindung mit der Ruhe und Geschlossenheit, die dem Sitzen schon als Kulturtechnik innewohnt. Das Sitzen, das sich-Setzen und sich-Sammeln, gilt nicht zufällig als der philosophische Akt par excellence, in der Kunst vielfach repliziert, wobei weniger an Rodins Der Denker erinnert sei, in dessen Pose niemand länger als 5 Minuten ausharren, geschweige denn denken könnte, sondern eher an Rembrandts »Philosoph beim Nachdenken« (philosophe en méditation).[12] Spezifisch amerikanisch macht sich diese Verbindung schließlich bei einem Denker geltend, der in einzigartiger Weise Widerstand und Ungehorsam, also das Unterbrechen einer als negativ und repressiv erfahrenen politischen Alltäglichkeit, als Rückzug gedacht hat, als Akt, der zwar mit dem Aufstehen beginnt, aber mit dem Sitzen endet. Gemeint ist Henry David Thoreau, dessen Rückszugsgeschichte Walden das ungestörte Sitzen – in diesem Fall an einem Feuer vor seiner Waldhütte – mit einer geradezu geschichtsaufhaltenden Qualität versieht und zwar unter Rückgriff auf ein Gedicht der transzendentalistischen Dichterin Ellen Sturgis Hooper (1812-1848): »Nichts betrübt uns, doch ein Feuer wärmt / Uns Händ‘ und Füße, mehr verlangt es nicht. / Zu seinem sparsam enggepackten Häuflein / Setzt sich [Herv. R.Z.] die Gegenwart und schlummert ein.«[13] Während sich bei Thoreau die Gegenwart setzt, verknüpft auch Adorno das Denken mit dem Akt des Setzens – »Wer denkt, setzt [Herv. R.Z.] Widerstand«, schreibt er in den »Marginalien zu Theorie und Praxis«, seine Antwort auf den Vorwurf des Verrats und des Quietismus, der ihn sowohl von den Studenten als auch von seinem Freund Marcuse ereilte. Auch in Deutschland praktizierte man Sit-ins, allerdings lediglich als »Übung für den Klassenkampf«.[14] Für den Eindruck, den wiederum die massenhaften Sit-ins der Bürgerrechtler damals hinterließen, ist wohl auch die Distanz zur Praxis als hektischer »Betriebsamkeit« verantwortlich gewesen. Das Sit-in ist kein Aufstand.
 
Sitzen auf welchem Grunde?

In dieser durch die Bürgerrechtsbewegung verbreiteten Form ging das Sit-in und die in ihm verdichtete Geschichtsphilosophie auch in die amerikanische New Left ein, deren Anfang auf die Gründung der Students for a Democratic Society 1960 datiert werden kann. Gut ein halbes Jahrzehnt lang profitierten beide Bewegungen von einer historisch einmaligen Verbindung, die sich Mitte der sechziger Jahre auch in legislativen Erfolgen niederschlug: die faktische Abschaffung der Segregation im Civil Rights Act 1964 sowie die Reform des Wahlrechts im Voting Rights Act ein Jahr später. Doch es sind gerade diese Erfolge, die den Beginn von Zerwürfnissen innerhalb und zwischen der Bürgerrechts- und Studentenbewegung darstellen. Die Bürgerrechtsbewegung zerfällt nach dem Mord an Martin Luther King Jr. in einen bürgerlichen Teil und die radikale und zunehmend afronationalistischen Black Panther. Die Studentenbewegung konzentriert sich immer mehr, auch mit einigem Erfolg, auf den Krieg in Vietnam, ist aber ab Mitte der Sechziger Jahre mit einem Phänomen konfrontiert, das bezeichnenderweise bis dahin weitgehend abwesend gewesen war: dem Aufstieg eines orthodoxen, an Lenin, Stalin und Mao orientierten Marxismus, der die SDS 1969 schließlich spaltet und zur Entstehung der Weathermen-Gruppe führt, dem wenn man so will, amerikanischen Äquivalent zur RAF. Was Adorno über die Krise der Praxis schreibt, dass man sie erfährt, wenn man nicht weiß, »was man tun soll«[15], ist das Signum der amerikanischen New Left Ende der sechziger Jahre.
Diese Entwicklung verdeutlicht in der Rückschau, auf welchen Grund sich beim Sit-in recht eigentlich gesetzt wurde. Weder die Bürgerrechts- noch die Studentenbewegung, konnten – oder wollten – an ihren Anfängen auf eine sozialistische oder gar marxistische Tradition zurückgreifen und somit auch nicht auf eine fortschrittsoptimistische Revolutionstheorie. Ihr Bezugspunkt war das amerikanische Ursprungsereignis: die revolutionäre Gründung des Gemeinwesens und die Verfassung, die es sich gab. Dieser Ursprung liegt jedoch im strengen Sinne nicht in der Vergangenheit, sondern ist als sich immer wieder verwirklichendes Ideal in die Gegenwart eingelassen. Als Daniel Cohn-Bendit Mitte der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten war, so erinnert er sich, spürte er sehr genau, dass die amerikanische Revolte »getragen war von einer Idee«, die die Revolutionäre europäischer Prägung »gar nicht verstehen konnten. Die sagten, im Namen der amerikanischen Verfassung dürfen wir das, was wir Amerikaner in Vietnam machen, später, was wir den Schwarzen antun, nicht machen. Das heißt, sie haben die amerikanische Verfassung verteidigt.«[16] Tatsächlich zitiert das 1962 von den SDS veröffentlichte, maßgeblich von Tom Hayden entworfene und glücklicherweise von seinen ursprünglich 48 Seiten auf weniger als zehn eingedampfte Port Huron Statement gleich zu Beginn zwei Mal die amerikanische Verfassung. Und auch die dort entworfene Idee einer »partizipativen Demokratie« hat mehr mit den republikanischen, an kleinen Gemeinden und Town Halls orientierten politischen Traditionen der Vereinigten Staaten zu tun, als mit einer utopischen Vision im Sinne des Marxismus oder Sozialismus.

Dieser republikanische Kerngehalt schien allerdings nicht zu genügen. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist nicht nur eine verzweifelte, immer mehr auf die Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt bezogene Mobilisierung zu beobachten, sondern auch eine Verselbständigung der mit dem Sit-in verbundenen Praxis, die bald durch die Beifügung des Wörtchens »in« alles Mögliche zur Politik erklären konnte. Beruhte der Teach-in noch auf der mehrheitlich universitären Anbindung der Protagonisten der New Left und einer konkreten Kritik am akademischen Betrieb, setzten sich schließlich die performativen und Happening-ähnlichen Elemente immer mehr durch; man denke an Yoko Onos »Bed-ins for Peace« oder den »Human Be-in« 1967. Und so sehr Herbert Marcuse in der Demonstration in Berkeley 1965 eine Verwirklichung der von ihm beschworenen Vereinigung von Lustprinzip und Realitätsprinzip erblicken mochte, tragen diese Aktionen doch bereits Zeichen ihrer späteren Diffusion und Vergeblichkeit. Wohl stimmt es, wie Adorno schreibt, dass »[g]egen die, welche die Bombe verwalten«, Barrikaden »lächerlich«[17] sind. Doch auch die Mundharmonikas, das Sitzen auf der Straße und das öffentliche Petting waren schnell Teil einer Neutralisierung und Entpolitisierung der Studentenbewegung. Anfänglich in ihrer Performanz durchaus effektiv, gewinnt die verdoppelte Gegenwart als politisch wirkungsarme und zum Lifestyle verdinglichte Alltagspraxis die Überhand. Das Sit-in in seiner ursprünglichen Form war Ende der 1960er Jahre vor den Barrikaden der »Feindlichen« kaum noch zu erkennen. Stand die Barrikade für die Bedingung der Möglichkeit von Zukunft – erst musste der Sieg errungen werden, bevor die Gesellschaft neu eingerichtet werden konnte – war das Sit-in als Handlung in der Gegenwart die Zukunft, auf die es zielte.

Bei dem Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Vortrages, der am 27. April 2018 auf der Konferenz »Ereignis und Geschichte: 1968 und die Geschichtsphilosophie« am Deutschen Literaturarchiv Marbach gehalten wurde.
 



[1] Herbert Marcuse, Ziele, Formen und Aussichten der Studentenopposition, Das Argument 45 (1967), 398–408.
[2] Ebd., 406.
[3] Vgl. die Erinnerung bei Carl E. Schorske, Encountering Marcuse, in: John Abromeit / Mark Cobb (Hgg.), Herbert Marcuse. A Critical Reader, New York 2004, 253–259, hier: 256f.
[4] Vgl. zum Folgenden Tom Ullrich, Barrikaden sind Brücken. Über Architektur, Widerstand und Wissen im Paris des 19. Jahrhunderts, Horizonte 11 (2017), 135–151.
[5] Walter Benjamin, Passagen-Werk, Aufzeichnungen und Materialien, Schriften, Bd. V.1., Frankfurt a.M. 1982, 142.
[6] Zit. nach Ullrich, Barrikaden sind Brücken, 143.
[7] Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ Die Klassenkämpfe in Frankreich, Marx-Engels-Werke, Bd. 22, Berlin 1972, 519.
[8] Ebd., 520f.
[9] Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, Schriften, Bd. V.1., Frankfurt a.M. 1982, 57.
[10] Ebd., 58.
[11] Zit. nach Gilcher-Holtey, Die Nacht der Barrikaden. Eine Fallstudie zur Dynamik sozialen Protests, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderband 34, 375–393, hier: 380.
[12] Vgl. Ulrich Johannes Schneider, Der Stuhl. Philosoph im Sitzen, in: Ders.,/Jochen K. Schütze, Philosophie und Reisen, Leipziger Schriften zur Philosophie, Bd. 6, Leipzig 1996, 103–114.
[13] Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979, 252.
[14] Theodor W. Adorno, „Marginalien zu Theorie und Praxis“, Gesammelte Schriften, Bd. 10.2., Darmstadt 1998,759–782, hier: 764.
[15] Ebd., 762.
[16] http://www.deutschlandfunk.de/vom-mythos-zum-ereignis-1-2-was-aus-dem-mai-1968-fuer-heute.1184.de.html?dram:article_id=412394
[17] Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, 771.

Barrikaden der Pariser Kommune aus Pflastersteinen, April 1871 (Bild: Pierre-Ambrose Richebourg)