Tiof, diep, deop oder dubus: Etymologisch stammt »tief« in diversen Sprachen aus dem 8. Jahrhundert. Tiefe, als Wortbedeutung beschreibt: Gegensatz zur Höhe, räumliche Ausdehnung nach hinten, Stärke, Intensität, tiefes Tönen, Tiefgründigkeit, geistiger Gehalt, Gedankenwelt, Gefühlswelt, folglich auch »das Innere des Menschen«. Im Namen von IT und KI könnte man vermutlich auch vom tiefen Weltverständnis oder von Immersion sprechen. Im Zusammenhang der technischen Entwicklungen, der sozialen Steuerung bis Manipulation, den Interessen der Macht, wird Deep gerne als attributiver Zusatz auf die vermischten politischen, technologischen, kulturellen und sonstigen inneren Zusammenhänge angewendet (Deep Politics, Deep State, Deep Fake, etc). Ebenso im künstlerischen Research bzw in einer kritischen Praxis hat sich die Verwendung von Deep auch dem Erkennen von Zusammenhängen jenseits bzw unter den bisher gekannten Oberflächen verschrieben, wobei das »unter« meistens im metaphorischen Sinn von Layers, von Tiefenschichten zu verstehen ist. Oft ist in den Gebrauch des Wortes Deep eine Ambivalenz eingeschrieben, oder ein Zynismus, manches Mal Ironie. In der STWST wahrscheinlich all dies plus einer Prise Erkenntnis eines Serious Deep Shits, der aus einem tiefen Humanismus gespeist ist, ganz klassisch auf die Abschaffung von Unterdrückung ausgerichtet.
Ich persönlich habe im künstlerischen Research über mehrere Jahre einen Ansatz von »ungereinigten vermischten Zuständen« unter den rationalen Oberflächen verfolgt: Dinge sind sozusagen unter den Zuständen irrational, widersprüchlich und »unsauber« vorhanden, und stellen sich in gewisser Weise vom Menschen/der Zivilisation/der Erkenntnis als hochgefördert und entrissen dar, wie hochgepumptes Erdöl noch nicht für diverse Zwecke »raffiniert«. Dieser Ansatz einer systemisch-künstlerischen Recherche behauptet Entitäten grundsätzlich anders, formiert sie gleichzeitig verbunden und unverbunden, definiert ein vermischtes Deep als noch nicht durch Erkenntnis gesichert und durch Anwendung »erobert«, oder versteht es ganz generell schlichtweg einer Erkenntnis entzogen. Manches hätte vermutlich auch nie im großen Stil an die Oberfläche einer Verwertungskette gezerrt werden sollen, siehe Erdöl und die großflächige Verfrachtung von Kohlenstoff aus den Tiefen des Planeten in die Luft, oder ist als systemisch vorhandene dunkle Ressource, sozusagen als negative Entropie … aber das führt zu weit. Manche, direkt auf den Menschen abzielende Entwicklungen des kapitalistischen Gesamtzusammen-hangs, rufen die innere Psychologie des Menschen selbst als Ressource zur Verwertung aus (ich empfinde vieles von dem, was läuft, als Mind-Mining und Selbst-Fracking), als vermischte Forschung an einem inneren Betriebssystem des Lebens selbst, plus Direktanwendungsszenario.
In ihrer am leichtesten zu durchschauenden Form ist das etwa Emotion als Rohstoff, siehe Aufmerksamkeitsökonomie auf Social Media, oder auch: die klassische Verquickung einer großen Menge Daten und niederen Gewinninteressen. Viel komplexer verweben sich Entwicklungen in einer Erfahrung von unvereinbaren Widersprüchen, die sich an den Individuen selbst auswirken, quasi als »einzelmenschliche Erfahrung«. Diese Individuen liefern außerdem ihre – sagen wir – Gedanken, Gefühle, Reflexe direkt an Interessenkonglomerate ab, die in Machtzentrierung und Goldrush-Stimmung an einer expansiven Ausbeutung des Inneren arbeiten, bzw daran, dass alles, was quasi connected, angeschlossen und abhängig zur Verfügung steht, seine Ausbeutung selbst erledigt. Andere Merkwürdigkeiten wie Verschwörungstheorien verschalten zusätzlich ein vermeintlich tiefes Wissen über irgendwelche alternativen Fakten und beliebig hergestellte Zusammenhänge auf irre Weise, leider meist nur auf dumme Art destruktiv. Auch interessant, und nun wieder relevanter, sind die Zusammenhänge einer Idee von so genannter Deep Culture und einer Surface Culture (genau: Symbol Eisberg) im Zusammenhang mit den Diskussionen um Cultural Appropriation. Diese zielen in ihrer Kritik auf eine oberflächliche und äußerliche Aneignung von Symbolen ab, die an sich mit tiefliegenden Werten verbunden, nicht einfach ins relativ bedeutungslose Verwertungssystem der Oberflächenkultur einverleibt werden sollen. Diese Diskussionen treiben oft bizarre Blüten, haben aber reale soziale Untergründe, selbstredend Relevanz und betreffen ohnehin viele Effekte, etwa auch diejenigen der Aneignung von linken Strategien durch rechte Squareheads.
Wir finden uns in unruhigen Zeiten, oder wie es schon bei der Biennale Venedig 2019 hieß: May you live in interesting times – entsprechend einem chinesischen Fluch. Die interessanten Zeiten haben in den letzten Jahren sichtbar an Fahrt aufgenommen. Die Auswirkungen und Verwerfungen einer superausbeuterischen Globalisierung, eines jahrhundertelang praktizierten Kolonialismus, einer Geschichte der Unterdrückung oder auch einer hegemonialen Monokultur werden sowohl in ihren tiefen Zusammenhängen als auch entsetzlichen Widersprüchen sichtbar – in mehr oder weniger überraschend zutage tretenden Effekten. Zweifelsohne haben einige Errungenschaften unserer technologisch-konsumorientierten Sphären auch annehmliche Seiten, in Bezug auf die jahrhundertelange Ausbeutung sogar degoutant annehmliche. Die technischen Entwicklungen sind tatsächlich atemberaubend. Was man aber sagen kann, bei aller Entwicklung, bei allen Potentialen: Ein allein smartes Weltverständnis wird wahrscheinlich kaum ausreichen, diejenigen multiplen Desaster abzuwenden, die sich global aufbauen. Für niemanden. Nicht einmal für diejenigen, für die die Times so interesting sind, dass sie neue Wunschdestinationen wie den Mars anvisieren. Zumal sie die realistisch gesehen wahrscheinlich leider doch hierbleiben müssen.
Connected und Disconnected. Das Material schreit. Vor einiger Zeit habe ich in Michel Houllebecqs Poetologie ‚Lebendig bleiben‘ gelesen: »Das Universum schreit. Im Beton drückt sich die Gewalt ab, mit der er zur Mauer geprügelt wurde. Der Beton schreit. Das Gras wehklagt unter den Zähnen des Tieres. Und der Mensch? Was werden wir über den Menschen sagen?« Die Stelle hat sich eingeprägt. Michel Houllebecq leitet in seiner Schrift existenzielle Fragen des Lebens ein. Bei mir schlug das Schreien des Betons vermutlich deshalb ein, weil ein existenzielles Leiden auf unvorhergesehene, aber umso sichtbarere Weise in die unmittelbarste Umgebung eingedrungen ist: Als Brutalo-Total-Zusammenhang, der sich geradezu in alle Materialien einschreibt, nicht nur in das Leben der Menschen und das Sterben der schreienden Schweine und Hühner, die später wiederum unter den Zähnen der Menschen zermalmt werden, oder auch nur wegen Überproduktion weggeworfen – sondern auch in die Materialitäten und Materialien rundum. In die Materien, die uns täglich umgeben, sind diese Zusammenhänge eingeschrieben, sogar in den Beton, in das Plastik, in den Müll, in all das, was als Liefer- und Produktionsketten täglich seinem einzigen Sinn von Verwertung und Konsum zugeführt wird – der Natur entrissen und in Form gezwungen. Der Beton schreit. Und der Mensch? Was werden wir über den Menschen sagen? Schreit er? Im Widerstand gegen eine Welt, deren politische und vernünftigen Inhalte derart misshandelt sind, schreit der Text die Frage: Wer hat noch das Recht zu sprechen, wer soll überhaupt noch sprechen? Damit wären wir vermutlich am Golden Spike des Anthropozän-diskurses angelangt: bei einer Abschaffung des Menschen, des Subjekts, eventuell nur als Sprechort, vielleicht aber auch überhaupt. Ich persönlich mag ja Adorno UND Latour und gedenke mir das demnächst auf ein T-Shirt drucken zu lassen. Ich meine, es geht wohl insgesamt und nach wie vor um einen aufklärerischen, tiefen Humanismus, und jenseits von Eindimensionalität und Herrschaft geht es um Widerspruch, Verbundenheit, um Fragen der Materialitäten, des Kontextes und des Textes.
In diesem Zusammenhang als letzte Frage: Was machen nun die Künstler:innen? Wenn sie nicht am Kunstmarkt als Zombies herumtreiben, oder in den sozialen Hierarchien wie Karikaturen um die oberen Ränge kämpfen, also lebende Tote sind – sehen sie sich nach der Erweiterung der Sphären um. Ich glaube, dass Fragen von Zusammenhängen, die nicht zuletzt Aussagen über unsere eigenen Zustände der Existenz und Ko-Existenz machen, heute viele Künstler:innen Fragen der Materialität und der Kontexte, eines Wissens und Erfahrens primär aufgreifen lassen. Oft findet sich ein künstlerischer Ansatz, der das Material nicht unbedingt (nur) in Expansion und Revolte darstellt, sondern in Verbindlichkeit, im Kontext, durchaus auch in einer Art widersprüchlichen Empfindsamkeit, in Verletzlichkeit und Fragilität in Verbindung tretend. Bei STWST48x8 DEEP, 48 Hours Disconnected Connecting wollen wir im Übrigen nicht ein DEEP als Thema abarbeiten. Wir wollen die Systeme offenhalten. Denn es geht um größere Umbrüche. Es geht um Solidarisierung. Und wir müssen diese Solidarisierung – wie es aussieht – größer und perspektivisch umfangreicher denken, als das eigentlich vorstellbar ist. Der Kontext schreit. Damit nun hier disconnected: Strom aus.