Paul Schuberth: Zur Vorgeschichte des »Lumpenproletariats« gehören die – nicht im heutigen Sinn »organisierten« – Protestbe-wegungen der Unterklassen im frühen 19. Jahrhundert. Sie nennen für diese Proteste sozioökonomische Gründe, aber auch außerökonomische. Dabei fällt auch der Begriff »moral economy«. Wie ist das zu verstehen?
Christopher Wimmer: Damit meine ich ein komplexes Set von tradierten, moralischen Gerechtigkeitsvorstellungen, das von der sich ausbreitenden politischen Ökonomie des freien Marktes gefährdet war, wie etwa die gerechte Verteilung des Bodens und der Ressourcen, eine Eindämmung von ökonomischen Unterschieden sowie die Solidarität mit den Schwächeren. Die neue, auf Warenbeziehungen beruhende Ordnung wurde nicht nur als falsch, sondern auch als moralisch illegitim betrachtet. Somit richteten sich die sozialen Proteste der frühen Unterklassen gegen den gesellschaftlichen Wandel weg von den traditionellen, bäuerlichen und handwerklichen Lebensformen hin zum Industriekapitalismus. Aufgrund der Heterogenität und Zersplitterung der Unterklassen waren ihre Aktionen meist eruptiv und vielfach gewalttätig.
Systematische Verwendung des »Lumpenproletariats« findet der Begriff erstmals in den Schriften von Marx und Engels. Besonders in den frühen Schriften dominieren Bewertungen und moralische Urteile. Welche Funktion erfüllt der Begriff »Lumpenproletariat« für die Klassentheorie von Marx/Engels?
Das Lumpenproletariat bildet bei ihnen ein Außen der Gesellschaft, das nicht in erster Linie klassentheoretisch bestimmt, sondern mit moralischen Kategorien abgewertet wird. Es bildet für ihre Analysen der Klassen und des Klassenkampfs jedoch einen notwendigen Bestandteil. Erst durch die Unterscheidung und Abgrenzung zum Lumpenproletariat kann das Proletariat als einheitliche Klasse entstehen. Hier: klassenbewusstes, sprich revolutionäres Proletariat, dort: bestechliches und konterrevolutionäres Lumpenproletariat.
Wie ist es zu erklären, dass die Verwendung des Begriffs in den späteren Schriften von Marx/Engels an Bedeutung verlor?
Die Verwendung des Begriffs nimmt in ihrem Schaffen kontinuierlich ab. Für die Erklärung der Niederlage der Pariser Kommune von 1871 spielte das Lumpenproletariat beispielsweise keine Rolle mehr. Dies verweist auf eine Weiterentwicklung des Denkens bei Marx. Die eigentliche Funktion des Lumpenproletariats scheint darin zu bestehen, das Proletariat als homogenen Akteur zu konstituieren. Diese Hilfskonstruktion wurde jedoch in dem Moment unwichtiger, als Marx sich in seinem Spätwerk mehr und mehr von der Glorifizierung des Industrieproletariats distanzierte und unterschiedliche Wege in den Kommunismus sah. Den Vorrang des Industrieproletariats im Klassenkampf in Frage zu stellen, ging mit einer Aufwertung anderer Subjekte als potenziell revolutionär einher. Marx bezieht sich in seinem Spätwerk vermehrt auf russische Sklav*innen, indische Bäuer*innen oder Schwarze in den USA. Dabei wird die zentrale Stellung der Arbeiter*innen des Westens in Frage gestellt.
Im Kapitel zu Marx‘ Erben betonen sie, dass das »Lumpen-proletariat« aus der Sicht der organisierten Arbeiter*innenbewegung – der deutschen Sozialdemokratie, aber auch ihrer linken Kritiker*innen – stets eine reaktionäre Klasse gewesen sei. Was steckt hinter dieser Abwertung?
Die Arbeiter*innenbewegung – implizit orientiert an bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen – wurde in Abgrenzung und Abwertung vom Lumpenproletariat dazu diszipliniert, im Sinne des Wohlstands der Nationen, also von Staat und Kapital, zu handeln. Dies konnte nur durch ein Klassenbewusstsein geschehen, das sich dem Produktivismus und der Meritokratie unterwarf – beides Ausdrücke gesellschaftlicher Machtstrukturen und zugleich Legitimationen sozialer Ungleichheit im Kapitalismus. Dem gegenüber herrschte der Glaube vor, dem Lumpenproletariat per se fehlte es an Widerstandskraft und Handlungsfähigkeit. Diese negative Beurteilung findet sich in der gesamten Geschichte der organisierten Arbeiter*innenbewegung.
Welche Rolle spielte das »Lumpenproletariat« bei Lenin?
Er brachte es mit dem Anarchismus in Verbindung und an dem ließ er kein gutes Haar. Aber lassen wir ihn doch selbst sprechen: »Der Anarchismus ist ein Produkt der Verzweiflung. Die Mentalität des aus dem Geleise geworfenen Intellektuellen oder des Lumpenproletariers, aber nicht des Proletariers.«
Auf dem Parteitag 1929 der KPD wurde beschlossen, sich gegen die »arbeiteraristokratische Geringschätzung der Unorganisier-ten« zu wenden. Spiegelt dieses Zitat eine grundsätzliche Sympathie der KPD gegenüber den Deklassierten wider?
Einmal wurden die Mitglieder des Lumpenproletariats in der KPD als der »Sturmtrupp« der nahenden Revolution angesehen, dann plötzlich waren sie wieder eine Gefahr für den Klassenkampf. Solange sie einen politischen Faktor darstellten, bezog sich die Partei positiv auf sie. Dahingehend kann man durchaus die These der Instrumentalisierung durch die Partei vertreten. Den Deklassierten blieb lediglich die Rolle eines Objekts im politischen Kampf.
Sie erwähnen die »Bruderschaft der Vagabunden« (1927–1933) – welchen Zweck verfolgte dieser Organisierungsversuch in der Weimarer Republik, und gab es im Verlauf des 20. Jahrhunderts vergleichbare emanzipatorische Ansätze?
Die Bruderschaft stand in offener Opposition zu den herrschenden Organisationen der Arbeiter*innenbewegung und orientierte sich stärker am Anarchismus und Anarchosyndikalismus. Sie forderte keine Unterstützung vom Staat, sondern wollte diesen abschaffen und somit lag ihr Fokus nicht auf Fürsorge, sondern auf konkreter Selbsthilfe. Es ging ihr dabei nicht um eine Reintegration in die Arbeitsgesellschaft, sondern um die Aufwertung ihrer Rolle als Ausgeschlossene. Die Vagabund*innen seien die Avantgarde des antibürgerlichen Umsturzes und die Vorkämpfer*innen der sozialistischen Bewegung.
Dieser Gedanke fand sich auch in sozialen Kämpfen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So stammten zahlreiche Mitglieder der sozialrevolutionären bewaffneten Gruppe »Bewegung 2. Juni« überwiegend aus proletarischen oder subproletarischen Familien und hatten bis auf wenige Ausnahmen keine höhere Schulbildung. Sie erreichten teilweise eine Integration der Deklassierten in den bewaffneten Kampf und waren in ihren Milieus am Rande der Großstädte zwischen Erwerbslosigkeit, Kriminalität und widerständigen Praktiken aktiv. Zeitgleich bildeten sich in der Bundesrepublik in den 1970er–80er Jahren zahlreiche Erwerbslosengruppen, die [sich] implizit an die Bewegung der Erwerbslosen der Weimarer Zeit anschlossen. Auf der einen Seite schafften sie es in den 1980er Jahren durch teils militante Aktionen, ein breites Spektrum von kirchlichen bis hin zu gewerkschaftlichen Initiativen abzudecken. Auf der anderen Seite gab es jedoch keine dauerhafte Verbindung zwischen der »Bewegung« der Erwerbslosen und anderen (militanten) Kämpfen. Erfolgreiche Beispiele wie das libertäre Kultur- und Aktionszentrum Schwarze Katze in Hamburg blieben die Ausnahme.
Lässt sich die Verwendung des Begriffs für heutige Phänomene noch rechtfertigen?
Bei den gegenwärtig Deklassierten handelt es sich um ein globales und wachsendes Phänomen. China oder Indien bilden die derzeit größten bäuerlichen Gesellschaften der Welt. Zwei Drittel der aktuell 1,3 Milliarden Inder*innen – insgesamt ein Sechstel der Weltbevölkerung – lebt in Dörfern. Keine Innovationsoffensive absorbiert die Millionen Menschen, die in hunderttausenden Dörfern zu überleben versuchen, obwohl ihre Produkte und Dienste, ihre Unterwürfigkeit immer weniger gebraucht werden. In Ländern wie Argentinien, Chile, Venezuela und Uruguay hingegen leben bereits über 40 Prozent der Bevölkerung in Städten mit mehr als 200.000 Einwohner*innen. Überall dort kommen jährlich tausende Menschen in diesen Städten hinzu, um ein Auskommen zu finden. Doch bleibt ihnen in den Favelas, Barriadas, Bidonvilles, Shanty Towns, oder wie auch immer dieses universelle Phänomen vor Ort genannt wird, produktive Arbeit verwehrt und so fristen sie ihr Dasein in ihren Lagern aus Pappe, abgeflachten Benzinkanistern und alten Packkisten in den Vororten der Metropolen. Diese Urbanisierung ohne gleichzeitige Industrialisierung zeigt auf, dass auch aktuell die Deklassierten nicht in den Produktionsprozess integriert sind, nicht an der Entwicklung der Produktivkräfte teilhaben können und keine Macht in diesem Bereich haben. Die immer größere Menge an Überflüssigen, die nicht in einem Lohnarbeitsverhältnis steht, kann die Produktion nicht angreifen. Dementsprechend liegt ihr Widerstandspotential nicht in der Unterbrechung des Produktionsprozesses, sondern in der Störung der Distributions- und Konsumptionsformen. An die Stelle des Streiks tritt der Aufstand.
Ein genauer Blick auf diese Protest- und Widerstandsform legt sie in ihrer Eigenständigkeit frei: nicht immer wohl überlegt und eloquent, sondern undifferenziert, derbe, unstrukturiert und möglicherweise auch militant, ist der Aufstand genuiner Ausdruck der Handlungsfähigkeit der Deklassierten. Daraus spricht das unmittelbare materielle Bedürfnis der Massen, sich selbst zu erhalten. Die Forderung nach Garantie des Existenzrechts, die auf einer moral economy gründet und weniger auf der Forderung nach Aneignung der kapitalistischen Produktionsmittel und ihrer Weiterentwicklung, ist dabei nicht bloß konservativ, insofern als die kapitalistische Überformung des whole way of life einen Antikapitalismus als notwendige Bedingung des Kampfes voraussetzt. Dieser Klassenkampf findet auch jenseits der Lohnarbeit statt; am Feierabend, auf der Straße und in der Reproduktionssphäre. Er entsteht aus den Kontakten der Menschen, die direkt miteinander leben, sprechen, trinken, handeln, und die daraus direkte Aktionen einer selbstorganisierten Kollektivität entwickeln.