Streit der Töchter über das Gesetz des Vaters

Was Melanie Kleins Kinderanalyse mit der sozialen und politischen Konstellation der Zwischenkriegszeit zu tun hat, erläutert Magnus Klaue.

Ende September 1918 hörte und sah Melanie Klein zum ersten Mal Sigmund Freud bei einem seiner öffentlichen Vorträge. Gelegenheit für die Begegnung bot ihr der V. Internationale Psychoanalytische Kongress, der am 28./29.9. jenes Jahres in Budapest stattfand. Ihr Mentor Sándor Ferenczi, bei dem sie 1912 in Budapest eine Lehranalyse begonnen hatte, wurde im Rahmen des Kongresses zum Vorsitzenden der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) gewählt. Ein Jahr später, 1919, nahm die Ungarische Psychoanalytische Gesellschaft Klein auf Betreiben Ferenczis als Mitglied auf, 1920 erschien ihre erste wissenschaftliche Studie, »Der Familienroman in statu nascendi«, in der sie, durch Ferenczi ermutigt, die kindliche Entwicklung ihrer beiden Söhne Hans und Erich einer psychoanalytischen Betrachtung unterzog. Hans war 1907, Erich 1914 zur Welt gekommen; ihr ältestes Kind, die Tochter Melitta, die später neben Freuds Tochter Anna zu Kleins wirkmächtigster Gegenspielerin wurde, war 1903, kurz nach Melanies Heirat mit dem Industriechemiker Arthur Stevan Klein, geboren worden. Wie Melanie, die mit Mädchennamen Reizes hieß und deren Vater Arzt und Sohn orthodoxer Juden aus Lemberg gewesen ist, kam Arthur Klein aus einer jüdischen Familie.

Arthur Klein hatte in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten Chemie und Ingenieurswissenschaften studiert und war seit seiner Heirat Direktor der Papierfabrik Krappitz AG in Oberschlesien. 1914 zum Militärdienst in die österreichisch-ungarische Armee einberufen, hatte er zwei Jahre später mit einer Verletzung am Bein als Kriegsinvalide nach Budapest zurückkehren müssen. Spätestens seit jener Zeit lebten er und Melanie Klein faktisch die meiste Zeit über getrennt. 1919 verlagerte Arthur seinen Lebens- und Arbeitsschwerpunkt nach Schweden, während Melanie zunächst mit den drei Kindern ins slowakische Rosenberg und Anfang 1920 mit Erich nach Berlin zog. Dort wirkte auch ihr Lehrer Karl Abraham, bei dem sie sich einer weiteren Lehranalyse unterzog. Unterstützt durch Abraham und gemeinsam mit der Pädagogin Nelly Wolffheim, die zeitweilig ihre Sekretärin war, setzte Klein ihre kinderanalytischen Studien unter anderem in einem von Wolffheim geführten Berliner Kindergarten fort. Die nach dem Tod Abrahams 1925 zunehmenden Anfeindungen gegen Klein, vor allem seitens des Freud-Schülers Otto Fenichel und Freuds Tochter Anna, die als Psychoanaly-tikerin ebenfalls vorwiegend mit Kindern und Jugendlichen arbeitete und Kleins therapeutisches Konzept in der 1927 erschienenen Schrift »Zur Einführung in die Technik der Kinderanalyse« scharf attackiert hatte, bestärkten sie in der Entscheidung, einer Einladung von Ernest Jones und der britischen Psychoanalytikerin Alix Strachey folgend nach England zu gehen. Noch 1925 zog sie nach London um. Dort entwickelte Klein sich in den 1930er Jahren zur einflussreichsten Opponentin Anna Freuds, die 1938 mit ihrem Vater und der Mutter Martha sowie ihren Geschwistern von Wien aus nach London emigrierte. 

Unter anderem durch die Konfrontation von Melanie Klein und Anna Freud wurde die britische Hauptstadt seit den späten 1920er Jahren zum zentralen Ort für die Begründung der psychoanalytischen Kinderanalyse – einer doppelten, in sich widersprüchlichen Begründung, denn der nie aufgelöste Streit zwischen den kinderanalytischen Schulen Kleins und Freuds, der die geistige Physiognomie der psychoanalytischen Kinderanalyse bis heute prägt, war ihrem Gegenstand nie einfach äußerlich. Der Antagonismus zwischen der Kinderanalyse Kleins und Freuds wurde oft auf die Lebensgeschichten der beiden Protagonistinnen zurückgeführt und dadurch um seinen Gehalt gebracht. Dass Anna Freud, ihrem Vater folgend, Kinder erst vom sechsten Lebensjahr an – und auch dann nur unter spezifischen, klinisch zu begründenden Voraussetzungen – für fähig hielt, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, während Klein junge, nicht vollständig der Sprache mächtige Kinder für einer psychoanalytischen Therapie zugänglich hielt, ist nur der äußerliche Ausdruck eines Widerspruchs, der wesentlich tiefer reichte. Er betrifft die Frage, von welchem Alter an Kinder befähigt zu jener Selbstreflexion sind, in der die therapeutische Konstellation von Übertragung und Gegenübertragung und Techniken wie die der freien Assoziation und der Traumanalyse überhaupt fruchtbar gemacht werden können. Er betrifft den Konnex zwischen Spracherwerb, Triebdynamik und Ich-Konstitution; die Bedeutung der Mutter- und Vaterrepräsentan-zen sowie des realen Vaters und der realen Mutter für die frühkindliche Entwicklung; das Verhältnis zwischen präödipaler und ödipaler Phase und beider Einfluss auf die Fähigkeit zur Ausbildung eines autonomen Ich; die Interaktion zwischen Analysand und Analytiker in der therapeutischen Konstellation und deren Verhältnis zur Vergangenheit und Erinnerungsfähigkeit des Analysanden; sowie schließlich die Frage, welchen Einfluss sozialhistorische Veränderungen im Geschlechter-verhältnis, in der Erfahrung von Kindheit, Mutter- und Vaterschaft auf die frühkindliche Entwicklung haben: Er führte ins Zentrum der Frage nach der Historizität der Psychoanalyse selbst.

Meist werden die abweichenden Positionen von Anna Freud und Melanie Klein zu diesen Fragen biographisch und ideengeschichtlich erläutert und je nach Gusto des jeweiligen Interpreten positiv oder abschätzig bewertet. Der Begriffs- und Methodenkonservatismus, mit dem Anna Freud an der Therapieunfähigkeit von Kleinkindern, an der durch keine Einsichten in die präödipale Entwicklungsphase relativierbaren Bedeutung des Ödipuskomplexes, am Primat des Ich sowie am normativen Gehalt des Realitätsprinzips festhielt, spiegelt demnach ihren Status als Nachfahrin und Verwalterin des freudschen Erbes ebenso wie einen allgemeinen sozialpsychologischen Konservatismus, der sich in den 1920er Jahren als Reaktion auf Versuche der Amalgamierung von Psychoanalyse und sozialistischer Gesellschaftskritik entwickelte und später im Zuge des Kalten Krieges im Rahmen von Versuchen der Restauration der Kleinfamilie als Sozialisationsinstanz des Bürgertums erneut Relevanz erlangte. Kleins innerhalb der Psychoanalyse völlig neue Fokussierung auf die präödipale Phase und ihr Interesse an der Bedeutung der Mutter-Kind-Dyade für die Ich-Bildung wären entsprechend als theoretischer Reflex ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter und der weitgehenden Abwesenheit Arthur Kleins in der gemeinsamen Familie zu deuten. Während die übermächtige Präsenz Sigmund Freuds im Werk seiner Tochter deren Abwehr gegenüber Melanie Kleins Versuch der Rehabilitierung der präödipalen Mutter begründete, hätte demnach Kleins lebensgeschichtliche Erfahrung ihr Aufschlüsse über die Sozialisationsfunktion der Mutter ermöglicht, die ihr Werk erst lange nach seiner Zeit, in der Zweiten Frauenbewegung und in der antiautoritären Pädagogikkritik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, posthum wirksam werden ließ.

Nach dieser Logik lässt sich Anna Freud wahlweise als buchstaben- und lehrgetreue Freudianerin oder als hinter ihrer Zeit zurückgebliebene verknöcherte Dogmatikerin verstehen, während Melanie Klein als entweder prophetisch-emanzipatorische Erneuerin oder als virtuell bereits postmoderne Entgrenzerin und Beschmutzerin der reinen Lehre figuriert – Vorstellungen, die allesamt nicht nur holzschnittartig bleiben, sondern auch den Tatsachen nur halb und daher gar nicht entsprechen. So entsprach Anna Freuds politisches Handeln seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs keineswegs dem Image der restaurativen Freudianerin, die die bürgerliche Kleinfamilie gegen die Anmutungen der Moderne verteidigte. 1939 gründete sie gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin Dorothy Tiffany Burlingham in London die Hampstead Nurseries, in die Kriegskinder, die ihre Eltern verloren hatten, aufgenommen wurden. 1945 ließ sie eine Gruppe von Kindern aus Theresienstadt dorthin bringen, um die Möglichkeiten der psychoanalytischen Therapie und Kinderpädagogik bei der Bewältigung von Traumata der Deportation und Internierung zu erkunden. Auch in den Folgejahren widmete Anna Freud sich intensiv der Frage, was die Psychoanalyse zur therapeutischen Arbeit mit Holocaust-Überlebenden beitragen könne. Gegenüber solchen Versuchen eingreifender Praxis erscheinen Kleins Rehabilitation der Mutter-Kind-Dyade und ihre Konzentration auf vorsprachliche Artikulationsformen des Kleinkindes fast als Versuche des eskapistischen Rückzugs aus einer sich umstürzend ändernden Wirklichkeit.

Trotzdem lässt sich Kleins kinderanalytischer Ansatz sowenig wie Anna Freuds Orthodoxie verstehen, ohne den sozialhistorischen Hintergrund der Entstehung der Kinderanalyse in den Blick zu nehmen. Kleins wie Anna Freuds Beschäftigung mit der Kinderanalyse begannen in den 1920er Jahren angesichts der schockhaften Erfahrung der Transforma-tion der bürgerlichen Familie während des Ersten Weltkriegs. Einerseits waren Frauen in den westlichen Staaten weiterhin in vielen sozialen und politischen Bereichen diskriminiert – die Geltung des allgemeinen Wahlrechts für sie musste mühsam erkämpft werden, Erwerbstätigkeit war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur bei Genehmigung des Ehemanns möglich –, andererseits hatte der Erste Weltkrieg eine Situation geschaffen, die Frauen dazu nötigte, ohne Hilfe der kriegsbedingt abwesenden Männer mit sich selbst und ihren Kindern allein zurechtzukommen. Die Doppeldeutigkeit dieses Emanzipationsschubs – die Tatsache, dass der Zugewinn politischer und sozialer Möglichkeiten für Frauen induziert war durch die verstärkte Unfreiheit und Bedrohung durch die Kriegssituation – prägte auch die Zwischenkriegszeit mit ihrer sexuellen und familienpolitischen Libertinage: Die neue Freiheit der Geschlechter, die während der Weimarer Republik nicht nur in Deutschland Teil einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit war, erschien als eine Art Zugeständnis, das die Bevölkerung den Herrschenden auf Raten würde zurückzahlen müssen. Der neue Individualismus der Geschlechter war die Kehrseite ihrer politisch erzwungenen Vereinzelung; die neuen Möglichkeiten weiblicher Berufstätigkeit standen unter dem Vorzeichen der Tatsache, dass den Ehefrauen und Müttern ihre Loslösung vom männlichen bzw. väterlichen Vormund nur um den Preis kriegsbedingter Zerstörung der überkommenen bürgerlichen Institutionen gewährt wurde.

In diesem Sinne waren sowohl Melanie Klein wie Anna Freuds Versuche einer Rekonfiguration der Psychoanalyse im Wortsinn re-aktionär: Sie waren Antworten auf eine veränderte Wirklichkeit, die durch diese Veränderung nicht freier, aber mit Sicherheit unberechenbarer geworden war. Psychoanalytische Kinderanalyse war die reaktive Antwort auf die politische Krise der Erwachsenenwelt, die auch nach 1945 lediglich sistiert und verleugnet, aber nicht rückgängig gemacht werden konnte. Anna Freud versuchte diese Krise theoretisch durch rigides, teilweise reduktives Festhalten am Begriffsapparat ihres Vaters zu lösen, den sie als generationell tradierte Wahrheit ansah und gerade durch diese Fetischisierung entstellte. Melanie Klein wiederum war wacher und zugänglicher gegenüber der Frage, was jener Begriffsapparat mit einer sozialen Realität zu tun haben sollte, die ihm entglitten und deren Entgleiten bereits von Freud selbst – in seinen Schriften über den Krieg sowie im »Unbehagen an der Kultur« – registriert worden ist. Diese Wachheit ging aber einher mit einer Blindheit: mit der Unfähigkeit, die Psychoanalyse solchen Erosionen zum Trotz in ihrem Wahrheitsgehalt ernst zu nehmen, der durch historische Umbrüche in Frage gestellt und provoziert, aber nicht annulliert wurde. Dass Klein seit den 1930er Jahren von ihrer Tochter, die sich mit Karen Horney und Edward Glover, prominenten theoretischen Gegnern ihrer Mutter, verbündete, öffentlich angeklagt und einer psychologisch missbräuchlichen Beziehung geziehen wurde, hat den antiautoritären Feinden der Psychoanalyse, die sich seit den 1960er Jahren auf Klein bezogen, Argumente geliefert. Der Streit zwischen der konservativen, sich als Bewahrung eines geistigen Erbes verklärenden Anna-Freud-Fraktion und der antipsychiatrischen, pädagogikkritischen, anarchistischen Melanie-Klein-Fraktion wird trotzdem bis heute immer nur als Weltanschauungs- und Methoden-Streit geführt. Dass er Ausdruck eines objektiven, unschlichtbaren Widerspruchs ist, verstehen beide Fraktionen nicht.

Melanie Klein in einer Aufnaheme aus den 1950er Jahren. (Bild: Jane Brown (CC BY 4.0))