Es gehört zu den eingeschliffenen Gewohnheiten von Linken, garantiert mehrheitsfähige Meinungen in einem pathetischen Tonfall zu verkünden, als handele es sich um Tabubrüche. Zu den beliebtesten dieser gesellschaftskritischen Gassenhauer gehört die Polemik gegen die sogenannte bürgerlich-patriarchalische Kleinfamilie. Fast niemand, der sie attackiert, vermag zu sagen, wodurch genau sie bestimmt ist, was sie konstitutionell von anderen Formen der Familie unterscheidet und wo es sie heute überhaupt noch gibt. Dem Einwand, dass das Bürgertum dem Patriarchat, dem es entsprang, spätestens durch die Einführung des Frauenwahlrechts selbst ein Ende gesetzt oder zumindest zur Erosion patriarchaler Vergesellschaftungsformen beigetragen hat, wird regelmäßig durch Verweis auf die notorischen »Strukturen« begegnet, in denen das Patriarchat auch in bürgerlichen Demokratien der formellen Gleichheit und Freiheit zum Trotz fortlebe. Ob die Kleinfamilie als Agens von Individuation sowohl gegenüber der vorbürgerlichen Großfamilie wie im Vergleich mit nachbürgerlichen Patchwork-Gemeinschaften nicht auch Vorteile aufweisen könnte, darauf gelingt Linken erst recht keine Antwort, weil sie die seit Wilhelm Reich tradierte Gleichsetzung von Bürgertum, Patriarchat, Familie und Faschismus auch dann verinnerlicht haben, wenn sie dessen Studie »Die Massenpsychologie des Faschismus« gar nicht kennen. Heute, da an die Trias von Bürgertum, Patriarchat und Faschismus auch Linke nicht mehr so richtig glauben können – sind es doch die flexibilisierten, nach wie vor unfreien Verhältnisse selbst, die die Kleinfamilie, wo sie rudimentär fortbesteht, als hinderlichen Anachronismus erscheinen lassen –, bedarf es anderer rhetorischer Mittel, um der konformistischen Kritik den Anschein von Dissidenz zu verleihen.
Wie einfach es ist, in ressentimenthafter Kritik die Versatzstücke des historischen Materialismus durch Elemente eines Jargons der Selbsterfahrung und Innerlichkeit auszutauschen, sofern nach letzterem eine größere Nachfrage besteht, veranschaulicht Sarah Diehl in ihrem Buch »Die Freiheit, allein zu sein«. Bereits Diehls bisherige publizistische Arbeit, in deren Mittelpunkt die Verteidigung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch stand, war geprägt von einer Zweideutigkeit im Urteil über das Verhältnis zwischen reaktionären und fortschrittlichen Momenten der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre 2007 erschienene Anthologie »Deproduktion«, eine Dokumentation der Debatten über Schwanger-schaftsabbruch im 20. Jahrhundert, war von der These getragen, dass die Regulierung von Abtreibungen notwendig für die Aufrechterhaltung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse bürgerlicher Gesellschaften und daher die Aneignung der Entscheidungsmacht über Schwangerschaftsabbrüche durch Frauen ein Beitrag zur »Deproduktion«, ein potentiell kapitalismuskritischer Akt, sei. Diehls 2008 erschienener Dokumentarfilm »Abortion Democracy« führte am Beispiel von Frauen aus Polen, die in Deutschland eine Möglichkeit suchen, Abtreibungen vornehmen zu lassen, sowie anhand von Südafrika, wo die Abtreibungsgesetzgebung liberaler als in Polen ist, aber Frauen medizinische Informationen fehlen, vor Augen, wie unterschiedlich bürgerliche Staaten bei der Reglung des Abtreibungsrechts vorgehen.
Edward Hoppers Gemälde »Automat« (1927) (Bild: Gandalf’s Gallery (CC BY-NC-SA 2.0))
Dass es die bürgerliche Rechtsordnung selber gewesen ist, die die Proteste der Zweiten Frauenbewegung gegen § 218, gegen die Beratungspflicht im Vorfeld von Schwangerschaftsabbrüchen und gegen das widersprüchliche Verhältnis von Straffreiheit und Strafbarkeit bei Abtreibungen erst möglich gemacht hat, diese Aporie wurde bereits in Diehls früheren Arbeiten tendenziell übergangen. Seit ihrem 2014 erschienenen Buch »Die Uhr, die nicht tickt« hat sie die Aporie insofern aufgelöst, als sich immer deutlicher die soziale Adresse ihres Schreibens herauskristallisiert hat: Es richtet sich, auch wenn es sich mit gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, »strukturell« erzeugter Armut von Frauen und mit dem Zusammenhang zwischen Reproduktions- und Ausbeutungsverhältnissen beschäftigt, vor allem an linke Freiberufler-innen, deren ideologische Selbstverständigung und deren private Miseren Diehl zu Symptomen gesamtgesellschaftlicher Krisen hypostasiert. Stilisierte sie schon in »Die Uhr, die nicht tickt« den Widerspruch zwischen Kinderwunsch und Karriereplanung, zwischen Beruf, Privatsphäre und Öffentlichkeit, dessen Überwindung in der Wahrnehmung vieler Frauen aus Diehls Generation und sozialem Milieu substanzieller Bestandteil von »Selbstverwirklichung« ist, zum Generalthema aller Frauen, so geht sie in »Die Freiheit, allein zu sein«, einer »Ermutigung« von Single-Frauen, die produktiven Dimensionen des Alleinseins zu entdecken, einen Schritt weiter in der Übersetzung ökonomischer Begriffe in existenziell-selbstfindlerische Metaphern.
Tatsächlich besteht Diehls Buch fast vollständig aus Versuchen, der Darstellung seines Gegenstandes aus dem Weg zu gehen. Das ist bedauerlich, weil es nicht einfach eine lebensberaterische Erfindung ist, dass auf dem Alleinsein ein Tabu lastet. Nur besteht dieses Tabu nicht darin, dass das Alleinsein, wie Diehl eingangs im Rekurs auf die Kritik der Arbeit in Hannah Arendts Studie »Vita activa« darzulegen versucht, in ähnlicher Weise wie die Faulheit ein »Feind der Leistungsgesellschaft« wäre. Im Gegenteil ist das Alleinsein als Reflexionsform atomisierter und dadurch substanzloser Individualität eine notwendige Voraussetzung und ein Agens bürgerlicher Vergesellschaftung. Der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit, den Diehl selbst aufgreift, vermag das zu veranschaulichen. Einsamkeit ist die bürgerliche Epoche hindurch nicht nur deshalb ein Komplementärbegriff zum Alleinsein gewesen, weil sie, wie Diehl meint, im Gegensatz zur Negativität des Alleinseins auf Transzendenz zielt und insofern eine erfüllte Erfahrung ist. Vielmehr ist der Einsamkeit, exemplarisch in der Philosophie Nietzsches, ein Zug des Heroischen eigen, den das Alleinsein, das eine Erfahrung der Privation bezeichnet, entbehrt. Eine Sentenz Else Lasker-Schülers aus ihrem 1912 erschienenen Roman »Mein Herz« – »Ich bin so allein, wäre ich wenigstens einsam, dann könnte ich davon dichten« – bringt diese Differenz auf den Punkt. »Einsamkeit« ist in der Epoche des Bürgertums ein Name für das zur Substanzialität umgedeutete Alleinsein, für das authentische Standhalten gegenüber der eigenen Leere, deren Erfahrung nicht mehr hingenommen oder erlitten, sondern errungen wird, wodurch die Einsamkeit einen Nimbus erhält, der dem Alleinsein nicht zukommt.
Insofern die Bejahung des formalen Charakters der Individualität, die (Selbst-)Betrachtung des Individuums als jenen fungiblen Rollenträger, als den die funktionalistische Rollensoziologie von Erving Goffman oder Talcott Parson es bestimmt hat, Voraussetzung des Normalvollzugs bürgerlicher Vergesellschaftung ist, ist das Alleinsein, das in der Einsamkeit ideologisiert und substantialisiert wird, nicht Feind, sondern Antriebskraft dessen, was Diehl Leistungsgesellschaft nennt. Weil aber dem Alleinsein jenes idealistische Surplus abgeht, das der gelungen Vereinzelte Einsamkeit nennt, verweist es die atomisierten Individuen auf die ausweglose Zufälligkeit ihres gesellschaftlichen Daseins. In dieser Seite des Alleinseins – in der Bindungslosigkeit und daher Ungebundenheit des Alleinstehenden – liegt tatsächlich eine Qualität, die Erkenntnis und Kritik ermöglichen könnte. Gerade diese Seite des Alleinseins, die auch Aufschlüsse über Erfahrungen des Alleinseins von Frauen verspräche, wird von Diehl jedoch nicht thematisiert. Ihre alleinige Bemühung besteht darin, die gesellschaftskonforme und rollenkompatible Seite des Alleinseins im Sinne eines feministischen Empowerments zu einem subversiven Erfahrungspotential umzudeuten. Ging es schon in »Die Uhr, die nicht tickt« statt um die ökonomischen, rechtlichen und psychosozialen Formen, unter denen in den westlichen Gesellschaften kinderlose Frauen leben, um das »Glück« der Kinder-losigkeit, so handelt »Die Freiheit, allein zu sein« statt von widersprüchlichen Erfahrungen von positiven Gefühlen.
»Im Mikrokosmos der Subjektivität offenbart sich, wie bedeutsam das Alleinsein für die Entwicklung der Kreativität und anderer Fähigkeiten ist.« – »Die Fähigkeit zum Alleinsein hängt mit der Beziehungs- und Bindungsfähigkeit zusammen. Beide haben ihre eigenen Zeiten und Orte. Beides muss in einer Balance bewusst gesucht und geübt werden.« – »Alleinsein (können) ist ganz grundsätzlich ein wichtiger Teil der Selbstfürsorge, denn es fördert eine ausgeprägtere Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit.« – »Mit einer neuen Beziehung, die sich gleich an die alte anschließt, kompromittiert man den Versuch der eigenständigen Selbstliebe, die man sich gerade wieder mühsam zurückerobert.« – »Das Alter birgt immenses Potenzial für (neue) Freiräume. Man hat sich so sehr mit Leben und Lebenserfahrung vollgesogen, dass man nun gut und gerne auch eine ruhige Zeit allein genießen kann.«
Wo immer man Diehls Buch aufschlägt, man hat den Eindruck, einen Lebenshilferatgeber für prekarisierungsgefährdete Geisteswissen-schaftler in der Hand zu halten. Die Verkümmerung jeglichen sozialhistorischen und -psychologischen Erkenntnisinteresses zu Fragen von Selbstcoaching, Empowerment und erweiterter Berufsberatung indiziert den Zerfall des Gegenstands, mit dem Diehl sich vorgeblich beschäftigt. Weil Alleinsein zum gesellschaftlichen Schicksal aller geworden ist und die vereinzelten Einzelnen sich, wenn sie ökonomisch überleben wollen, die Einsicht in die Konstitutionsbedingungen solcher Vereinzelung versagen müssen, weil aber zugleich jede Kooperation der Einzelnen im Sinne eines als vernünftig einsehbaren Interesses, das mit dem aufgeklärten Eigeninteresse der Individuen konvergieren würde, verstellt ist, flüchten die nachbürgerlichen Monaden weder in einen hypertrophen Individualismus noch zurück in den Familienverband. Im Gegenteil ist ihnen Individualismus als »Ellenbogenmentalität« ebenso verhasst wie Familie und Partnerschaft, deren Naturwüchsigkeit sie längst als Ideologie durchschaut haben.
Als einzige Alternative zu überkommenen Formen von Individualismus und Fürsorge erscheint ihnen die Sekte, in der die wahnhaften Tendenzen sowohl des Individualismus wie des Gemeinschaftskults verschmelzen. An das Bedürfnis nach der Sekte appelliert Diehls schale Rhetorik der Ermutigung, die Autosuggestion mit Urteilsfähigkeit verwechselt. Damit korrespondiert eine Sprache, die beim Sprechen über das Alleinsein nichts als Gemeinschaft evoziert: die Gemeinschaft der Freundinnen und Gesprächspartnerinnen, aus deren Aussagen Diehl, statt sie als Grundlage sozialtheoretischer Reflexion zu gebrauchen, Stichworte zur Bekräftigung der vorab festgelegten Meinung bezieht; die Gemeinschaft der Autorinnen – von Virginia Woolf bis Alice Walker –, deren Gemeinsamkeiten nicht hermeneutisch erschlossen, sondern aus gemeinsamer Geschlechtszugehörigkeit abgeleitet werden; schließlich die Gemeinschaft der Leserinnen, die offenbar nur aus zwei Gruppen besteht: denjenigen, die Diehl sowieso zustimmen, und denjenigen, die sie noch für sich begeistern muss. Wenn ihr Buch dennoch dem Alleinsein Ausdruck verleiht, dann durch solche Harmoniesüchtigkeit, solche Gemeinschafts- und Einigkeitssehnsucht: Wer ständig sich selbst und andere glaubt zum Alleinsein ermutigen zu müssen, der muss ziemlich mutlos sein; wer die »Selbstliebe« beschwört, spricht dadurch implizit vom Verlust der Möglichkeit von Objektliebe; und wer ein Buch über Alleinstehende mit dem Satz »wenn ich allein bin, ist die ganze Welt bei mir« abschließt, der versucht verzweifelt, die sich im Alleinsein anmeldende Erfahrung der Privation zu exorzieren, um sie nicht reflektieren zu müssen. Auch denjenigen Frauen, für deren Rechte Diehl sich in früheren Arbeiten starkgemacht hat, wird mit der Transformation von Kritik in eine an Rainer Maria Rilke erinnernde gefühlig wattierte Weltinnenraumpolitik ein Bärendienst erwiesen.
Das Buch
Sarah Diehl: Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung, Arche-Verlag, Zürich/Hamburg 2022, 400 Seiten, 24 Euro