Am Rand der Menschheit

Léon Poliakovs Essay »Von Moskau nach Beirut« über antisemitische Desinformation ist gerade erstmals auf Deutsch erschienen. Alexandra Bandl stellt ihn vor.

»Vermutlich, weil er jedwedem dogmatischen Denken in politischen Lagern skeptisch gegenüberstand, war es ihm bereits früh möglich, den linken, arabischen und islamischen Antisemitismus öffentlich zu kritisierten.«

 

Mit dieser sachkundigen Einschätzung führen Alex Carstiuc und Miriam Mettler in das bereits 1983 auf Französisch verfasste und nun erstmalig auf Deutsch übersetzte Buch »Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation« von Léon Poliakov ein. Die Abhandlung wurde im unmittelbaren Kontext des Libanonkrieges verfasst und stellt eine Weiterführung des 1992 im ça ira-Verlag erschienenen »Vom Antizionismus zum Antisemitismus« dar. Dort beleuchtet Poliakov kurz nach dem Sechstagekrieg den Hass auf Israel als vermeintlich ehrbare Neuauflage der traditionellen Judenfeindschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinhin als diskreditiert galt. Poliakovs zweite politische Intervention hatte zum Ziel, die erneute Hetzkampagne in einen größeren Kontext einzuordnen und nach den Ursachen für den Stimmungswandel zu fragen, der nun auch Gesellschaftsschichten erfasste, die dem jüdischen Staat zuvor gleichgültig bis wohlwollend gegenüberstanden.

 

Léon Poliakov wurde am 25. November 1910 in Sankt Petersburg, einen Tag nach dem Tod Leo Tolstois, als Sohn eines großbürgerlichen jüdischen Verlegers geboren. Dieser gab seinem Sohn zu Ehren des berühmten russischen Romanciers seinen Namen, was die Assimilation der Familie an die kulturelle Umgebung symbolisieren sollte. 1920 floh die Familie vor den Auswirkungen der Oktoberrevolution über verschiedene Zwischenstationen nach Paris. Die Weltstadt entwickelte sich spätestens seit der Zwischenkriegszeit zu einem der Epizentren russischer Emigration, in denen auch der Vater Wladimir Poliakov als Herausgeber verschiedener Zeitungen eine wichtige Stellung einnahm. So machte der Sohn bereits früh Bekanntschaft mit namhaften Exilanten unterschiedlicher Couleur, die im elterlichen Haus verkehrten. In seinen Memoiren beschreibt Léon Poliakov beispielsweise seinen Widerwillen gegenüber den Visiten des berühmten zionistischen Politikers Wladimir Jabotinsky (siehe Versorgerin #131), den er humorvoll mit einer »judeophoben Phase« während seiner Adoleszenz erklärte.1

 

»Leute, vergesst nicht; sprecht hiervon, Leute; zeichnet es alles auf.« (Simon Dubnow)

 

Während des Zweiten Weltkrieges kämpfte Poliakov zunächst auf der Seite Frankreichs, geriet hierbei in deutsche Kriegsgefangenschaft und schloss sich nach erfolgreicher Flucht einer jüdischen Widerstandsgruppe im Umkreis des Lubawitscher Rabbiners Schneour Salman Schneersohn in Marseilles an.2 Das »Netzwerk André« verhalf zahlreichen Juden zu gefälschten Papieren und vermittelte ihnen überlebenswichtige Verstecke.3 Noch während der Illegalität gründete Isaac Schneersohn, der Cousin des Rabbiners, das »Centre de documentation juive contemporaine«, in dem auch Poliakov tätig war. In diesem Rahmen arbeitete er von 1946 bis 1948 als Sachverständiger der französischen Delegation während der Nürn-berger Prozesse, über deren vollständige Ermittlungsakten er verfügte und die er für seine späteren Studien nutzte.

 

Im Jahr 1951 publizierte Poliakov mit »Bréviaire de la haine« die erste große Studie über die nationalsozialistische Judenvernichtung, die Hannah Arendt in einer Rezension für die WELT als »hervorragendes Buch« lobte.4 Gemeinsam mit Joseph Wulf gab er im weiteren Verlauf der 1950er Jahre die Dokumenteneditionen »Das Dritte Reich und die Juden«, »Das Dritte Reich und seine Diener«, sowie »Das Dritte Reich und seine Denker« heraus. Die Liste der Publikationen ließe sich noch weiterführen, gemein ist ihnen jedoch der unermüdliche Einsatz für das jüdische Prinzip des Sachor, eines Imperativs gegen das Vergessen und für eine Unversöhnlichkeit mit der Gegenwart, die insbesondere in der von Verdrängung geprägten Nachkriegszeit seitens etablierter Historiker auf große Widerstände stieß. Überlebende wie Wulf und Poliakov galten in Deutschland als dilettantische »Parvenüs«, gar Störenfriede, denen wegen ihrer erfahrenen Verfolgung mangelnde Objektivität vorgeworfen wurde.5 Aufgrund seines bewegten Lebens, der vielfältigen Sprachkenntnisse sowie seines spannungsgeladenen Daseins zwischen den Welten – als jüdischer Paria einerseits und als angesehener französischer Intellektueller andererseits – erwies sich Poliakov als scharfsinniger Beobachter. Neben der historischen Aufarbeitung der Shoah widmete sich der Autor auch den zeitgenössischen Ausprägungen des Judenhasses. 

 

Der Sechstagekrieg stellte auch für Poliakov eine große Zäsur dar. Die Mehrheit der Linken in Frankreich sah in Israel den neuen Universalfeind und die Solidarität mit den unterdrückten Völkern wurde nicht selten in eine Linie mit dem einstigen Kampf gegen die deutsche Besatzung gestellt. Für jüdische Linke war die Lage indes komplizierter, da sie eine zu vehemente Feindschaft gegenüber Israel aufgrund der omnipräsenten Erfahrung der Verfolgung insbesondere innerhalb der Familie nicht ohne Widerstände annehmen konnten.6 Poliakov erklärt die Entwicklung dieser Mehrheitsposition innerhalb der Linken mit einem allgemeinen Mentalitätswandel, der sich in Frankreich in der Studentenrevolte von 1968 verdichtete. Während in der Zeit von 1945 bis 1967 zumindest seitens der von der Kommunistischen Partei unabhängigen Linken ein »positives« Bild des Juden als Opfer dominierte, entlud sich die Spannung hier zum ersten Mal und schlug in offenen Hass um.

 

Das »islamisch-progressive Lager«

 

Neben dem Kampf gegen den Imperialismus bot auch jenes Aufbegehren gegen gesellschaftliche Tabus im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus der sowjetischen Desinformation einen fruchtbaren Schoß. In dieser Zeit entwickelte sich die Propaganda gegen Israel zu einem derart ehrgeizigen Anliegen, dass Unsummen in weltweite Kampagnen flossen. Das Ziel dieser Operationen waren neben dem Westen auch die arabische Welt sowie Afrika und Lateinamerika. Nicht nur über die offizielle sowjetische Auslandspresse, sondern auch auf indirektem Wege wurden Assoziationen zwischen Israel und nationalsozialistischen Begriffen wie Völkermord, Konzentrationslager, Deportationen und Lebensraum erzeugt.7 Poliakov bemerkt in diesem Zusammenhang: »Von einem Agenten der imperialistischen Teufel wurde Israel in den Rang eines eigenständigen Teufels, wenn nicht sogar des Hauptteufels erhoben«8. Doch während in der arabischen Welt und in der Sowjetunion samt ihrer Satelliten die Gleichsetzung Israels mit dem Faschismus bereits viel weiter zurückreichte, bedurfte es in der westlichen Welt einer längeren Entwicklung.

 

Das besondere Verdienst Poliakovs ist hierbei, in einem historischen Längsschnitt darzustellen, wie sich diese anti-israelische Allianz bereits auf der Konferenz von Bandung im Jahr 1955 abzeichnete. Angestachelt von antisemitischen Reden, deren Höhepunkt der Auftritt des Großmuftis von Jerusalem war, gerieten die dort versammelten Vertreter der Dritten Welt so auf die Seite der arabischen Staaten.9 Hiervon profitierte auch die Sowjetunion als wichtigster Bündnispartner nach der außenpolitischen Umorientierung im Nahen Osten. Folglich konnte diese Allianz ab Mitte der 1970er Jahre innerhalb der Vereinten Nationen die Dämonisierung des Judenstaates vorantreiben. Einen vorläufigen Höhepunkt stellte die berühmte Resolution 3379 dar, in der der Zionismus als eine Form des Rassismus verurteilt wurde. Die eifrigen Unterstützer in den Hörsälen westlicher Universitäten nahmen an dieser Entwicklung ebenso Anteil, wie der Siegeszug postkolonialer Theorien seit Ende der 1970er Jahre verdeutlichte. Die Mehrheitsverhältnisse in der UNO führten – gepaart mit der neuen Strategie der Ölembargos seitens arabischer Staaten – dazu, dass nun auch Unterstützer Israels wie die Vereinigten Staaten zunehmend unter Druck gerieten.

 

»Man darf wieder Antisemit sein und man wird es« (Henryk Broder)

 

Im Zentrum der Abhandlung steht die Einsicht, dass Israel durch die hysterische Berichterstattung im Zuge des Libanonkrieges endgültig an den Rand der Menschheit gedrängt wurde und es gelang, Leidenschaften zu entfachen, die bislang zumindest eingehegt waren. In seinem Fazit stellt Poliakov fest, dass jüdische Autoren bereits am Vorabend des Libanonkrieges auf beiden Seiten des Atlantiks vor einer Verdammung Israels warnten. Im Rahmen einer Studie im Auftrag des Crif (Conseil représentatif des institutions juives de France) wurde zudem seit Ende der 1970er Jahre ein deutlicher Anstieg des Antisemitismus festgestellt, nachdem dieser in der unmittelbaren Nachkriegszeit merklich zurückgegangen sei.

 

Die Verschiebung verschaffte sich weniger in den geschmacklosen Inhalten, sondern in der Tatsache Geltung, dass die anti-israelische Stimmung nun zum Massenphänomen wurde. Sie beschränkte sich nicht mehr nur auf linke Zeitschriften, Kommunen oder Hörsäle. Rudolf Pfisterer10, der Autor des Nachwortes, stellt für Deutschland fest: »Die Zungen haben sich gelöst und erneut kann man lauthals verkünden: »Die Juden sind schuld!«. Bemerkenswert ist auch die Feststellung, dass sich diese neue Form des Antisemitismus durch einen belehrenden Tonfall auszeichnete. Indem Israel auf eine Ebene mit dem Dritten Reich gestellt wird, sollte das »verirrte jüdische Volk wieder auf den rechten Weg« gebracht werden. Der ehemalige David erwies sich letztlich doch als Goliath, da Israel zum ersten Mal den Angriff wagte, ohne fundamental in seiner Existenz bedroht gewesen zu sein. Zu allem Übel beendete der Wahlsieg des Likud mit dem neuen Ministerpräsidenten Menachem Begin eine beinahe drei Jahrzehnte währende Ära linker Regierungen – Israel wurde immer mehr zu einem Land wie jedes andere. Die unverhohlene Enttäuschung über das wahre Gesicht Israels fiel zudem mit dem Siegeszug einer »unspezifischen Erinnerungswut« (Clemens Nachtmann) zusammen, die sich in der westlichen Welt und primär Deutschland seit Ende der 1970er Jahre abzeichnete und weniger die Aufarbeitung der Vergangenheit als die moralische Selbstläuterung zum Ziel hatte. Da der neue Holocaust an den Palästinensern stattfände und die ehemaligen Opfer zu Tätern würden, hätten die Juden das Recht auf Erinnerung und damit einhergehende Forderungen verwirkt. So sollte über Umwege der lang ersehnte Schlussstrich erreicht werden, ohne in den Verdacht zu geraten, nichts aus der Geschichte gelernt zu haben. Die große Enttäuschung über die ehemaligen Opfer ging jedoch stets mit einer gewissen Lust einher, da der Rasende Aufarbeitungsroland erst in seiner Rolle als Wächter der Moral zu sich kam und sich zur Lebensaufgabe machte, darauf zu achten, dass Juden (oder wahlweise Israelis) kein Unwesen treiben. Die Stärke des Buches liegt darin, dass Poliakov sich weniger mit Prognosen und dem häufig gegen schnöde Quellenarbeit vorgebrachten Werturteil aufhält, sondern die Dokumentation in den Vordergrund stellt. So gelingt ihm einerseits, die historischen Kontinuitäten des Antizionismus und jene unheiligen Allianzen zu veranschaulichen, die sich bis heute zum Ziel gesetzt haben, Israel moralisch zu erledigen. Andererseits kommt auch die Deutung der Dokumente nicht zu kurz und der Leser erlangt Kenntnis über einen historischen Wendepunkt, der bis heute nachwirkt.

 

Das Buch

Léon Poliakov: Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation, Freiburg 2022 (ça ira-Verlag), 223 S.

[1] Léon Poliakov, Memoiren eines Davongekommenen, Berlin 2019, S. 44

[2] Rabbi Salman Schneersohn hielt bereits auf der Beerdigung von Poliakovs Vater den Gottesdienst und lud ihn nach Marseilles ein, um dort ein Teil der »Vereinigung praktizierender Israeliten« zu werden. Hier machte Poliakov Bekanntschaft mit jüdischen Riten. Siehe Memoiren, insbesondere das Unterkapitel zur Vereinigung, S. 96-101.

[3] http://www.ajpn.org/sauvetage-Reseau-Andre-367.html

[4] https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/plus233441724/Hannah-Arendt-ueber-Leon-Poliakov-Vom-Hass-zum-Genozid.html

[5] »Er galt als Parvenü«, Interview Henryk M. Broder, Jungle World 45, 8. November 2018, S. 22-23; Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, Göttingen 2003.

[6] Moskau nach Beirut, S. 181ff., aber auch die Interviewsammlung von Luc Rosenzweig: La jeune France juive, Paris 1979.

[7] Baruch A. Hazan: Soviet Propaganda.  A Case Study of the Middle East Conflict, New Brunswick, 1976.

[8] Moskau nach Beirut, S. 83

[9] Und so kam die Zeitung Le Monde am 20. April 1955 zu dem Ergebnis, dass »die antiisraelische Resolution der einzige Punkt war, in dem die Konferenz übereinstimmte«. Moskau nach Beirut, S. 78.

[10] Ein Porträt Pfisterers findet sich unter https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.pfarrer-rudolf-pfisterer-treueeid-auf-hitler-verweigert.d5aac19e-8a2d-4fe0-af33-3c2dda633651.html

Léon Poliakov: Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation, Freiburg 2022 (ça ira-Verlag), 223 S.