Vom Gottesmord zum Golgotha für Palästina

In »Teuflische Allmachten« zeigt Tilman Tarach, dass sich der Antisemitismus wie eine Blutspur durch die Geschichte des Christentums zieht – bis heute. Von Stefan Dietl.

Mit der Behauptung des »Gottesmordes« war laut Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) auch der erste antisemitische Vorwurf in der Welt. Ein Erbe, das bis heute fortwirkt. So war sich Adorno sicher, »dass die antisemitischen Ideen […] unmöglich ihre gewaltige Anziehungskraft ausüben könnten, hätten sie ihre kräftigen Wurzeln nicht [….] innerhalb der christlichen Zivilisation.«
Umso erstaunlicher, dass in der Antisemitismusforschung die Beschäftigung mit diesen Wurzeln in den vergangenen Jahren höchstens eine untergeordnete Rolle spielte. Tilman Tarach durchbricht dieses Muster. Mit seinem Buch »Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus« begibt er sich auf die blutigen Spuren des christlichen Antisemitismus. Dabei stellt er die Mär vom »christlich-jüdischen Abendland« ebenso bloß wie das Gerede vom »importierten Antisemitismus«.

 

Tarachs Buch ist ein Streifzug durch die Geschichte des Christentums und des mit ihm untrennbar verbundenen Antisemitismus von der Entstehung der christlichen Glaubenslehre, mit seinem Vorwurf des Gottesmordes, bis zur heutigen Unterstützung judenfeindlicher NGOs durch kirchliche Gruppen. Detailliert beschreibt er anhand der antisemitischen Hetze von Päpsten und Heiligen, von Pogromen, Ritualmordlegenden, Vorwürfen der Hostienschändung, den spanischen Reinheitsgesetzen oder der christlichen Tradition des gelben Flecks1 die Kontinuitäten des christlichen Antisemitismus über die Jahrhunderte.
Tarachs Studie ist zugleich eine Kritik an weiten Teilen der heutigen Antisemitismus-forschung und der geringen Aufmerksamkeit, die sie dem christlichen Antisemitismus schenkt. Akribisch belegt er, dass die Shoa nur auf Basis des christlichen Antisemitismus möglich war und weist nach, dass die »zum Glaubensbekenntnis gewordene kategoriale Unterscheidung zwischen sogenanntem christlichen Antijudaismus und modernem Antisemitismus nicht haltbar ist.«
Immer wieder kann er mit seiner Analyse dabei zum Beispiel an Saul Friedländer oder den frühen Shoa-Forscher Léon Poliakov anknüpfen. In der Verleugnung und Ignoranz gegenüber den christlichen Wurzeln des Antisemitismus sieht Tarach vor allem die »Entlastungsstrategie einer christlich sozialisierten Gesellschaft«, »die es nicht wahrhaben möchte, dass der mörderische Antisemitismus nicht lediglich ein kurzfristiger ›Zwischenfall‹, sondern ein beständiger Begleiter ›unserer‹ Geschichte war«.

 

Darstellung der angeblichen Hostienschändung durch Passauer Juden 1477 (Gemälde aus dem 16.Jhdt.) 
Bild: Wolfgang Sauber

 

Eine Traditionslinie, die bis heute relativiert wird, wie Tarach an zahlreichen Beispielen aufzeigt. Unter anderem an der Ignoranz gegenüber dem christlichen-fundamentalistischen Hintergrund extrem rechter Akteure wie Wolfgang Gedeon und diversen Vertretern der AfD. Ihre Ideologie wird nur selten mit ihrem christlichen Glauben in Verbindung gebracht. Dabei erweist sich Wolfgang Gedeon nicht nur als Anhänger der Protokolle der Weisen von Zion und anderer antisemitischer Verschwörungsideologien, sondern auch als glühender Verfechter einer christlichen Erneuerung Europas und des Kampfes gegen den »Judaismus«, der angeblich von der katholischen Kirche Besitz ergriffen hat. An seiner Seite weiß Gedeon dabei die klerikal-katholische Sekte der Piusbrüder. Deren millionenschwere Finanzgeschäfte wickelte als Justiziar über Jahre hinweg der AfD-Europaabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der sächsischen AfD Maximilian Krah ab, der auch Richard Williamson2 in seinem Prozess wegen Holocaustleugnung verteidigte.

 

In diesem Konglomerat des christlichen Fundamentalismus stößt man auch auf alte Bekannte, wie den ebenfalls eng mit den Piusbrüdern verwobenen Martin Hohmann. Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete sorgte für einen der bekanntesten Antisemitismusskandale in der deutschen Parteienlandschaft, als er sich bei einer Rede am 3. Oktober 2003 auf Henry Fords antisemitische Schrift »The International Jew« bezog, in der dieser die Juden für die Revolution in Russland verantwortlich gemacht hatte. »Mit einer gewissen Berechtigung könnte man im Hinblick auf die Millionen Toten dieser ersten Revolutionsphase nach der ›Täterschaft‹ der Juden fragen. Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ›Tätervolk‹ bezeichnen«, so Hohmann in seiner Ansprache.
Der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, kritisierte die Rede als einen »Griff in die unterste Schublade des widerlichen Antisemitismus«. Hohmanns Rekurs auf den nationalsozialistischen Topos des »jüdischen Bolschewismus« hatte seinen Ausschluss aus der CDU und deren Bundestagsfraktion und eine Debatte über Antisemitismus in der Union zur Folge.
Mit dem Entstehen der AfD feierte auch Martin Hohmann sein Comeback und vertrat die Partei von 2017 bis 2021 im Deutschen Bundestag.

 

Gründlich dekonstruiert wird von Tarach der Mythos der angeblich »gottlosen Nazis«. Die Behauptung Papst Benedikts XVI., die Nazis hätten »Gott aus der Gesellschaft entfernen« wollen oder die Darstellung Johannes Pauls II., die Shoa wäre »das Werk eines typisch neuheidnischen Regimes«, dessen Antisemitismus »seine Wurzeln außerhalb des Christentums« habe, verweist Tarach ins Reich der Legenden.
Fast die gesamte Führungsriege des NS-Staats identifizierte sich nicht nur mit dem Christentum, sondern sah sich auch als Verteidiger des christlichen Glaubens gegen die vermeintliche »Gottlosigkeit« der Juden. Insbesondere ihre oftmals dem Christentum entlehnte antijüdische Gesetzgebung begriffen sie als Fortsetzung einer langen christlichen Traditionslinie. Der antiklerikale Habitus der Nationalsozialisten resultierte nicht etwa aus einer Abwendung von Gott, sondern vielmehr aus dem Vorwurf an die Amtskirchen, der »jüdischen Moderne« keinen ausreichenden Widerstand entgegenzusetzen.
So bekannte sich die NSDAP schon in ihrem Parteiprogramm zum Christentum und Hitler verkündete im Namen der NSDAP: »In unseren Reihen dulden wir keinen, der die Gedanken des Christentums verletzt«.
Hitler selbst legte Wert darauf festzustellen, sein Leben lang ein »frommer Mensch« gewesen zu sein. In seinen Reden und Veröffentlichungen, aber auch in internen Dokumenten und Briefen nahm er immer wieder Bezug auf »unseren ewigen Herrgott«, den »Allmächtigen«, »den Schöpfer« und »ewigen Richter«. Er vertraute auf die »allmächtige Vorsehung« und »die Gnade des Herren« und sah sich als Vollstrecker von »Gottes Werk« und des »Willens Gottes«.
Noch in seiner letzten Neujahrsansprache bat er um göttlichen Beistand. Er könne »diesen Appell nicht schließen, ohne dem Herrgott zu danken für die Hilfe, die er Führung und Volk hat immer wieder finden lassen, sowie für die Kraft, die er uns gegeben hat, stärker zu sein als die Not und Gefahr«.

 

Selbst der gerne als Paradebeispiel des neuheidnischen Esoterikers präsentierte Heinrich Himmler war, wie Tarach ausführlich nachweist, durch den Antisemitismus des Christentums geprägt. Als Reichsführer-SS verkündete er: »Ich dulde keinen Mann in der SS, der nicht an Gott glaubt« und indoktrinierte die Mitglieder seiner mit dem Genozid an den Juden betrauten Mordkommandos mit der christlichen Legende von jüdischen Ritualmorden.
Nicht nur Hitler bekundete bis zur letzten Stunde seinen christlichen Glauben. So erklärte Adolf Eichmann noch unter dem Galgen: »Gottgläubig war ich im Leben. Gottgläubig sterbe ich«. Stürmer-Herausgeber Julius Streicher erklärte auf dem Weg zum Schafott: »Jetzt geht es zu Gott!« und sah in den Kriegsverbrecherprozessen ein zweites Golgotha. »Jetzt kreuzigen sie mich«, so Streicher.
Auch Joseph Goebbels verkündete im April 1945, wenige Tage vor seinem Selbstmord, noch sein Gottvertrauen: »Gott wird Luzifer, wie schon so oft, wenn er vor den Toren der Macht stand, wieder in den Abgrund zurückschleudern.«

 

Viel wichtiger als der persönliche Glaube der NS-Führungsriege ist laut Tarach jedoch, dass »die Empfänglichkeit […] für antisemitische Hetze derart groß war, weil sie immer wieder christlich aufgeladen war und in den althergebrachten Bildern […] einen starken Resonanzboden gefunden hatte.«
Nur auf Basis des christlichen Antisemitismus konnte die Propaganda der Nazis ihre Wirkung entfalten. Es waren christliche Motive wie die des Gottesmordes, der Juden als Kinder des Teufels oder des Kindermordes, auf die der »Stürmer« oder der »Völkische Beobachter« immer wieder zurückgriffen und auf die Hitler und Goebbels in ihren Reden Bezug nahmen.
Allseits bekannt sind die von Tarach noch einmal kompakt beschriebenen Verstrickungen der Kirchen in die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Unterstützung, die der Vatikan flüchtigen NS-Tätern nach 1945 angedeihen ließ.

 

Besonders verdienstvoll ist, dass Tarachs Untersuchung nicht einfach mit der Zusammenarbeit zwischen Nationalsozialisten und organisiertem Christentum endet. Eindringlich beschreibt er, dass sich nicht nur der Nationalsozialismus aus der Vorratskammer des christlichen Antisemitismus bedient, sondern auch die palästinensische »Befreiungsbewegung« immer wieder an die christlichen Erzählungen vom Kindermord, der Kreuzigung Jesu oder auf Motive wie das der Brunnenvergiftung zurückgreift. In der palästinensischen Propaganda wird Israel zum »endlosen Golgotha« für Palästina und Jesus Christus zum ersten palästinensischen Märtyrer, zum Opfer im Kampf für die palästinensische Sache und zum Vorbild für Selbstmordattentäter.
»Die Vorstellung, der Staat Israel oder seine Armee würden die Kreuzigung Jesu heute an den Palästinensern wiederholen, gehört vor allem im arabischen Raum zum Standardrepertoire der antizionistischen Hetze«, so Tarach.

 

Dass auch der christliche Antisemitismus seine Fortsetzung im Kampf gegen Israel findet und der jüdische Staat als Projektionsfläche des christlichen Judenhasses dient, zeigt Tarach anhand der Praxis katholischer und evangelischer Gruppen im Nahen Osten. Unter dem Dach der Kirche unterstützen sie radikale israelfeindliche NGOs, rufen zum Boykott Israels auf oder beteiligen sich an der Verklärung palästinensischer Terroristen zu Nationalhelden.

 

Man kann Tilman Tarach nicht hoch genug anrechnen, dass er die oftmals verborgenen und verdrängten kräftigen Wurzeln des Antisemitismus innerhalb der christlichen Zivilisation mit seiner kompakten und gut lesbaren Studie wieder in den Blickpunkt rückt – und damit auch das Fortwirken des christlichen Antisemitismus bis heute.

 

Das Buch

Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Edition Telok: Berlin/Freiburg 2022, 224 S., 14,80 Euro

[1] Für Juden vorgeschriebene Kennzeichnung, die sichtbar an der Kleidung getragen werden musste und die von den Nazis in Form des Judensterns wieder aufgegriffen wurde.

[2] Mitglied der Piusbruderschaft und britischer Bischof, der die Existenz der Gaskammern leugnete und wegen Volksverhetzung verurteilt wurde.

Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Edition Telok: Berlin/Freiburg 2022, 224 S., 14,80 Euro